Abend ist der ganze Tag - Preeta Samarasan

  • Abend ist der ganze Tag, Preeta Samarasan, Orig.titel „Evening is the Whole Day“, Übersetz. Sabine Hübner und Nicola Volland, Ullstein Verlag, 2008, ISBN 978-3-550-08735-6


    Zur Autorin: (lt. Klappentext)
    Preeta Samarasan, geboren und aufgewachsen in Malaysia, ist Anfang dreißig und ging noch während ihrer High-School-Zeit in die USA. Vor kurzem hat sie an der Michigan University ihr Studium abgeschlossen, wo ihr Debüt Abend ist der ganze Tag bereits vor Veröffentlichung mit dem University of Michigan’s Hopwood First Novel Award ausgezeichnet wurde. Preeta Samarasan lebt derzeit mit ihrem Mann in Frankreich.


    www.preetasamarasan.com



    Meine Meinung:
    Die vor Beginn des Debütromans „Abend ist der ganze Tag“ von Preeta Samarasan stehenden Worte von Graham Swift zur Entstehung von Geschichte und die poetische Sprache der ersten Sätze haben bereits gereicht, um mich zur Lektüre dieses Romans zu verführen. Eine Lektüre, die dann doch ganz anders war, als meine ursprüngliche Erwartung.


    Der Klappentext versprach einen Roman über Malaysia, über die zerstörerische Macht der Lüge und die quälerische Sehnsucht zwischen Ende und Anfang. „Abend ist der ganze Tag“ spielt zwar tatsächlich in Malaysia und ein Bruchteil des Romans zeigt auch Leben in Malaysia in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, dieses Schmelztiegel von Malayen, Indern und Chinesen, wo die Zugehörigkeit zu einer Rasse über die persönlichen Rechte und die soziale Identität entscheidet; im Vordergrund steht jedoch die Geschichte der dysfunktionalen Familie Rajasekharan und ihrer Geheimnisse, Beziehungen, Erwartungen, Missverständnisse und Enttäuschungen.


    Die aus Indien stammende Familie Rajasekharan lebt bereits in der zweiten Generation in Ipoh, Malaysia. Die Rajasekharans sind gut situiert, der Vater ist Staranwalt, die Familie lebt im Big House, einem großzügigen Haus an der Kingfisher Lane 79, das zu britischen Zeiten einer Familie aus Schottland gehörte. Das Big House beherbergt den Vater des Hauses, genannt Appa, mit seiner Frau, seinen drei Kindern und seiner mittlerweile alten und gebrechlichen Mutter. Der Leser betritt Big House an einem Morgen im Jahr 1980, an dem das malaiische Dienstmädchen Chellam entlassen worden ist und zurück in die Armut geschickt wird. Wenige Wochen zuvor kam Großmutter Paati unter mysteriösen Umständen ums Leben. Chellams Abschied ist also der zweite Abschied, den die sechsjährige Aasha, das jüngste Kind des Hauses innerhalb weniger Wochen erlebt. Den dritten Abschied, den Auszug ihrer großen Schwester Uma, die zum Studium nach New York abreisen und niemals nach Hause zurück kehren wird, hat sie noch vor sich. Aasha allein weiß, was an jenem Unglückstag als Großmutter Paati starb geschehen ist, und Aasha weiß, warum sie zu dem meist schweigenden Mädchen geworden ist, das mit den Geistern der Vorbewohner spricht. So gerne möchte Aasha die Last der Vergangenheit auflösen, ihre vermeintliche Schuld gut machen, so dass endlich alles gut wird und die Rajasekharans das werden, was sie nach außen vermeintlich sind: eine ganz normale Familie.


    Preeta Samarasan enthüllt in scharf beobachtenden Rethrospektiven wie es dazu kommen konnte, dass die Rajasekharans alles andere als eine normale Familie sind. Als Erzählerin bleibt sie dabei ganz im Hintergrund, führt ihre Leser lediglich immer wieder in Szenen des Familienalltags hinein, verschwindet wieder, so dass der Leser mit eigenen Augen in allen Details beobachten kann, was sich bei den Rajasekharans abspielt, und holt die Leser wieder ab, um sie in eine neue Szenerie zu bringen. Die Gegenwart sieht der Leser aus der Sicht von Aasha, der jüngsten Tochter der Familie. Aasha ist eine gute Beobachterin. Auch wenn sie nicht alles versteht, was sie in der Familie sieht, reagiert sie doch auf kleinste Veränderungen in ihrem Umfeld. Verzweifelt versucht sie zu verhindern, dass ihre große Schwester die Familie verlässt und in die USA geht. Die Sprache von Preeta Samarasan ist poetisch, elegant, einfallsreich, eigenwillig und energiegeladen, häufig arbeitet sie mit Ironie, Metaphorik und Symbolik, was ihren Roman zu einer anspruchsvollen, sperrigen und nur selten leicht zugänglichen Lektüre macht, die aber in sich stimmig und beeindruckend ist.


    Preeta Samarasans Charaktere sind niemals stereotyp. Es sind Individuen, die in der Vergangenheit und Gegenwart schwere Enttäuschungen erlitten haben und immer wieder zwischen Verzweiflung und Hoffnung auf eine bessere Zukunft schwanken. Mit dem Schicksal der privilegierten Rajasekharans ist kontrastiv das traurige Schicksal der ausgebeuteten und unterprivilegierten Chellam verbunden, die etwa im gleichen Alter wie Uma, die älteste Tochter der Rajasekharans, ist.


    Manchmal fiel es mir schwer den Roman zur Seite zu legen, obwohl die kommenden düsteren Ereignisse unausweichlich schienen, manchmal musste ich den Roman zur Seite legen, weil ich es schier nicht mehr ertragen konnte, wie diese Familie immer weiter in ihr Unglück stürzt. Manchmal ist dieser Roman wunderbar witzig, manchmal ist er herzzerreissend. Es gibt Passagen in diesem Roman, bei denen man als Leser aufatmet, weil man denkt, man hätte die schlimmsten Ereignisse in der Familie nun erfahren. Nur um später feszustellen, dass dem nicht so ist.


    „Abend ist der ganze Tag“ ist ein Buch über fehlende Liebe und die Sehnsucht die Wärme und Geborgenheit in der Familie zu finden. Das Thema von Preeta Samarasans Roman ist damit nicht neu, wissen wir doch schon seit Tolstoi, dass jede unglückliche Familie auf ihre eigene Weise unglücklich ist. Aber mit ihrer wunderbar poetischen Sprache und ihrem eigenwilligen Erzählstil wird „Abend ist der ganze Tag“ zu einem ungewöhnlichen, einzigartigen Leseerlebnis, das ich Freunden zeitgenössischer Literatur nur empfehlen kann.


    9 von 10 Punkten

  • Herzlichen Dank Pelican :knuddel1


    für die wunderschöne Rezi. Ich war ja schon sehr gespannt darauf, da mich das Buch doch sehr anspricht und ich habe es nun auf meine Liste gesetzt, nachdem deine Rezi so hervorragend ist. :-]

    Liebe Grüße
    Helga :wave


    :lesend???

    Lesen ist ernten, was andere gesät haben

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  • Liebe Pelican!


    Herzlichen Dank für deine schöne und wirklich interessante Rezi.


    Ich habe das Buch kürzlich von meiner Lektorin geschenkt bekommen, weil sie wusste, dass ich mehrere Jahre in Malaysia gelebt habe.


    Nach deiner "Warnung" muss ich wohl damit rechnen, eine weitaus härtere Kost als erwartet vorgesetzt zu bekommen, aber wohl von hoher Qualität. Ich bin erst auf Seite 40, aber der Einstieg in die Geschichte hat mir sehr gut gefallen, und deine Rezi hat mich nun richtig neugierig gemacht :-)


    Ich melde mich wieder, wenn ich durch bin, was aber leider etwas dauern könnte.


    LG :wave


    harimau