Mike und ich und Max Ernst
Antonia Michaelis, 2003
Loewe, ISBN: 978-3785548202
»Etwas musste geschehen, etwas, das zur Unwirklichkeit jener Nacht passte. Es geschah, als sie ihr Zimmer betrat. Kein Licht brannte nur der Mond schien bläulich durch die Vorhangritzen.
Und da saß jemand. an ihrem Schreibtisch. Lucinda musste niesen, und die Person drehte sich um. Sie starrten sich eine Weile mit weit aufgreissenen Augen an. Das Gesicht der Gestalt am Tisch war kein richtiges Gesicht. Es bestand aus einem großen ovalen blauen Knopf mit zwei Augen.
"Du bist -", hauchte Lucinda.
Das Knopfgesicht nickte. "Die Schöne Gärtnerin", sagte die Gestalt, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt. "Du hast gewusst, dass ich kommen würde."«,
so lautet der Ausschnitt des Buches, der sich auf dem Umschlag befindet.
Max Ernst (wiki) war ein Maler, dessen Bilder zur Zeit der Nazis wegen ihrer Abstraktheit in der Ausstellung "Entartete Kunst" gezeigt wurden. Das Bild "Die Schöne Gärtnerin" gilt seitdem als verschollen - und so ist die Gestalt, die mit Lucinda spricht auch nicht die Gestalt des 1923 entstandenen Bildes, sondern die noch abstraktere aus dem Bild "Die Rückkehr der schönen Gärtnerin" von 1967, das bei Lucindas Vater Peter in der heutigen Zeit im Museum hängt.
Lucinda ist ein schüchternes Mädchen, dass Angst vor Menschenmengen hat und sich lieber in das sichere Museum flüchtet, als mit ihren Klassenkameraden etwas zu unternehmen. Nicht, dass die etwas mit ihr unternehmen wollten.
So spricht sie lieber mit den Bildern und macht eines Abends der schönen Gärtnerin den Vorschlag, doch einfach mal aus ihrem Bild hinauszutreten. Am nächsten Morgen fehlt die Figur, Lucindas Vater fällt vom Glauben ab, als er das Bild, das nur noch den Hintergrund zeigt, sieht. Einbruchsspuren finden sich auch keine.
Die schöne Gärtnerin wendet sich an Lucinda, sie brauche Hilfe. Eine seltsame Stimme habe ihr gedroht, ihre Schwester, d.h. das um 1923 entstandene Bild und daraufhin sie zu vernichten. Lucinda geht schweren Herzens mit auf die Suche nach dem Schwesterbild.
Eine Reise, auf der sie Mike kennen lernt, der mit den Fingern sieht und seine Augen unter einer Sonnenbrille verbirgt. Ihm schildert sie die Welt, manchmal ein klein wenig anders, als sie ist, da er sie nicht sehen kann.
Das ängstliche Mädchen, das sich nichts zutraut, wird lockerer, sicherer und überrascht sich selbst auf der Reise. Das muss sie auch, denn jemand scheint die Reise zu boykottieren. Ist es Mike, der eher zufällig mit von der Partie ist oder die Frau mit dem Ledermantel und dem schwarzen Haar, die immer wieder auftaucht?
Sie muss "Die schöne Gärtnerin" vor dieser Person finden, sonst wird sie in Flammen aufgehen, so viel steht fest.
Antonia Michaelis verknüpft wie auch schon in "Die wunderliche Reise von Oliver und Twist" Kunstgeschichtliches (wenn auch diesmal die Malerei und nicht die Literatur), fantastische Elemente und eine Reise zu einem absolut unwiderstehlichen Kinderbuch. Ich liebe diese Kombinationen! Die schöne Gärtnerin, die aus dem Bild tritt, ist einfach sympathisch. Auch die Idee, die Kapitel an Bilder von Max Ernst - irgendwie habe ich unbändige Lust bekommen, diese zu betrachten - anzulehnen (die Kapitelinitialen sind nach ihnen geschmückt und auch inhaltliche Bezüge gibt es) passt sehr gut.
Historische Einschübe geben Einblicke in die Gedanken und Beweggründe der "Stimme", lassen aber viel im Unklaren, sodass man immer mehr auf die Aufklärung hinfiebert. Sie geben auf jeden Fall nebenbei ein wenig Informationen über die Gegebenheiten während und kurz nach der Nazizeit.
Die beiden Bilder "Die Schöne Gärtnerin" und "Die Rückkehr der Schönen Gärtnerin" sind beide schwarz-weiß im Buch abgedruckt.
Neben diesem Aspekt, gelingt es Antonia Michaelis sehr gut, die Gedanken Lucindas einzufangen, es sind genau die Gedanken, die einen plagen, wenn man unsicher ist und sich verkriechen möchte. Sie tragen einen gewissen Humor in sich, ein wenig Ironie, was ihnen die Schärfe nimmt, da er einem bewusst macht, dass Lucinda ihr Problem erkannt hat - und nun mit Hilfe von Mike und der schönen Gärtnerin überwinden kann.
Lucinda ist eine Protagonistin, mit der man mitfühlt und die man liebend gerne begleitet, da sie so menschlich wirkt.
Doch auch Mike hat seinen Reiz, Menschen die Paris mögen, sind mir einfach sympathisch. Das merkt auch Lucinda. Nicht umsonst ist das Buch mit "Eine ungewöhnliche Liebesgeschichte" untertitelt. Denn damit ist nicht nur die Liebe zur Kunst und zu Max Ernst gemeint.
Abschließend muss ich sagen, dass ich gar nicht weiß, welches Buch mir besser gefällt, ihr Erstling "Die wunderliche Reise von Oliver und Twist" oder dieses hier, ich finde beide genial und empfehlenswert.
Fazit
Wie Antonia Michaelis Erstling ein Buch, das durch die bezaubernde Einbindung von Kunstgeschichte begeistert, amüsant, berührend, schön.
Zu empfehlen!
10/10 Punkten
bartimaeus