OT: Krassen in het tafelblad 1978
Masliefs (im Original Madelief) Großmutter ist gestorben. Es ist das erste Mal, daß das kleine Mädchen mit dem Tod in Berührung kommt. Sie ist sich nicht sicher, was sie empfinden soll, sie hat Oma nur wenige Male getroffen in ihrem Leben. Soll sie weinen? Ihre Mutter weint nicht. Auf Fragen nach Oma reagiert sie noch dazu ziemlich schroff.
Opa seinerseits ist sehr still geworden. Für ihn ist es schlimm, daß Oma gestorben ist, oder? War Oma lieb? fragt Maslief. Aber diese Frage kann Opa nicht richtig beantworten.
Als Opa einige Zeit später in das Dorf zurückfährt, in dem er mit Oma gewohnt hat, fährt Maslief mit. Opa soll nicht so allein sein. Außerdem ist sie neugierig geworden. Das Wenige, das sie bis jetzt von Oma gehört hat, klingt seltsam. Schön soll sie gewesen sein und viel gelacht haben. Und sie wollte Forschungsreisende werden. Das kann Maslief verstehen, das will sie nämlich auch! Nicht verstehen kann sie, warum Oma es nicht geworden ist. Oder warum Opa sagt, daß sich Oma die Seele aus dem Leib geputzt habe. Und warum Mutter sich mit Oma nicht vertragen hat.
In den Wochen bei Opa erfährt Maslief mehr und mehr vom Leben ihrer Großmutter. Da ist das Gartenhäuschen, das Opa ihr gebaut hat, mit ihren Büchern. Dort steht auch der kleine Tisch, auf dessen Platte Maslief die ‚Kratzer’ findet. Manchmal erzählt Opa ein wenig von seiner Ehe. Nach und nach erschließt sich daraus für Maslief nicht nur die Geschichte ihrer Großmutter, sondern zugleich ihrer Familie. Und über das Leben von Frauen. Die ‚Kratzer’ in der Tischplatte, die, wie sich herausstellt von Oma eingeritzt wurden, ergeben ein Bild. Es ist kein schönes Bild.
Was vergangen ist, läßt sich nicht wiedergutmachen. Aber das Erzählen hilft, Fehler zu erkennen und auch manches Gute, das in der Vergangenheit steckt. Einschätzungen verändern sich, manches sieht im Nachhinein ganz anders aus als in dem Moment, in dem man mitten drin steckt. Am Ende haben alle Familienmitglieder Oma besser kennengelernt, nicht nur Maslief.
Diese wunderbar erzählte kleine Geschichte von der ca. achtjährigen Maslief und der toten Großmutter ist weit mehr als Kinderbuch über den Tod. Tatsächlich verbirgt sich hinter den rund 75 Seiten, mit ihren nicht nur traurigen, sonder auch überaus lustigen Alltagserlebnissen von Maslief und Opa, die tragische Geschichte eines Frauenlebens, aus dem Konventionen und zunehmende geistige Enge nach und nach ein Gefängnis machten und letztlich auch Familienbeziehungen zerstörten. Die Hinweise sind zunächst spärlich, gerade genug, um eine beim Lesen neugierig werden zu lassen, und zwar genau in dem Maß, in dem auch Maslief neugierig wird.
Ab dem Augenblick, an dem die Aussagen über Oma anfangen, sich zu ihrer traurigen Lebensgeschichte zu verdichten, werden auch komplexe Fragen angesprochen, z.B. die Frage nach der Liebe von Männern und der von Frauen, die Beziehungen zwischen Müttern und Kindern und vor allem der Frage nach dem Glück. Kuijer gelingt es dabei, solche Fragen kurz und völlig kindgerecht darzustellen, ohne daß die verschiedenen Seiten des Problems untergehen oder verflacht werden. Das macht das Buch auch für erwachsene LeserInnen anziehend.
Es ist ein erstaunlich mutiges Buch, auch an heutigen Maßstäben gemessen noch. Es geht um den persönlichen Glücksanspruch, um Liebe und Vergeben können. Es geht um Alter und verpaßte Chancen. Es ist ein überraschend schmerzliches Buch, wobei der Tod nur der letzte Punkt ist.
Es ist aber auch ein ungemein humorvolles und witziges Buch. Maslief sprüht vor Leben. Sie hat viel von Oma. Und sie hat ihre Geschichte, aus der sie lernen kann.
‚Erzähl mir von Oma’ ist eines der nicht sehr zahlreichen Kinderbücher, die sowohl in der BRD als auch in der DDR erschienen sind. Die BRD-Ausgabe zeigt (bis heute) die Illustrationen von Mance Post (= Hermance Berendina Post, geb. 1925), die auch das niederländische Original hat. Die DDR-Ausgabe von 1985 bekam neue Illustrationen und zwar von dem Maler und Grafiker Albrecht von Bodecker (geb. 1932), dessen Markenzeichen seine skurrilen Federzeichnungen sind.
Posts Bilder sind ‚runder’ und betonen den freundlichen Aspekt der Geschichte, ohne zu schönen und zu romantisieren, wohlbemerkt. Bodecker dagegen hebt den dunkleren Ton, das Rätselhaft-Tragische hinter dem Kindlich-Verspielten hervor. Beide Interpretationen passen zum Text.
Der Übersetzer ist Hans Georg Lenzen.