Ich bin Amerika - E.R. Frank (ab ca. 14 J.)

  • OT: America 2002


    „Hier mußt du aufpassen, was du sagst, weil alles, was du sagst, etwas bedeutet, und es gibt immer jemanden, der dir sagt, was du meinst.“
    Dieser Satz voll bösem Mißtrauen ist der Einstieg in einen Roman voller Schrecken. Gedacht wird der Satz von einem Fünfzehnjährigen mit dem merkwürdigen Namen Amerika. Er befindet sich in einem psychiatrischen Heim für Jugendliche. Wie er dorthin kam, und was von nun an mit ihm geschieht, erzählt er selbst mit seinen Schilderungen der Sitzungen bei Dr. B., seinem Therapeuten. Es braucht allerdings seine Zeit, denn Amerika hat in seinem bisherigen Leben vor allem eines gelernt: zu verdrängen. Das mußte er auch, den sonst hätte er sein Leben nicht überlebt.


    Amerika ist ein ‚verlorenes’ Kind, im Wortsinn. Sohn einer Cracksüchtigen Mutter, wurde er als Säugling von einer weißen Familie aufgenommen, die ihn weggab, als sich bei seinem Größerwerden herausstellte, daß er kein reinweißer Kind war. Er hatte zunächst Glück, weil er Aufnahme bei der sehr liebevollen Mrs. Harper fand. Im Alter von fünf bestand das Jugendamt darauf, daß er ein Wochenende bei seiner Mutter und seinen Halbbrüdern zu verbringen habe. Doch seine Mutter verschwindet und durch einen Fehler bei der Behörde wird das Kind vergessen. Es geht im System verloren. Erst drei Jahre später wird Amerika völlig verwahrlost wieder aufgefunden.


    Ein neuerlicher Aufenthalt bei Mrs. Harper gerät zur Katastrophe, ein‚väterlicher’ Freund mißbraucht ihn regelmäßig. Am Ende setzt sich Amerika brutal zur Wehr und flüchtet. Von da an lebt er auf der Straße, verwirrt, verängstigt und vor allem überzeugt davon, daß er ‚böse’ ist. Bis er mit fünfzehn bei Dr. B. landet.


    Rasche Wechsel der Zeitebenen ‚Jetzt’ und ‚Damals’, Amerikas Weigerungen, viel mehr zu sagen als sein Lieblingswort Sch ... und die berufsbedingten monotonen Rückfragen des Therapeuten klingen nach sperriger Lektüre. Das Buch ist alles andere als das, weil es der Autorin mit ebendiesen spärlichen Mitteln gelingt, ganz nah am Denken und vor allem im Gefühlsleben ihres Protagonisten zu bleiben. Ein Gutteil der Geschichte ist zunächst tief in Amerika verborgen. Das ‚Jetzt’ und das Gespräch mit Dr. B sind draußen, Amerika ist dort gar nicht anwesend. Er öffnet sich äußerst langsam, zuerst in so winzigen Schritten, daß er sie selbst kaum wahrnimmt.


    Die Autorin protokolliert seine verborgene Gedankenwelt, unaufdringlich, unkommentiert und immer als ‚Ich, Amerika’. Dadurch steht man beim Lesen nach kürzester Zeit nicht mehr neben dem Jungen, sondern man meint zu denken wie er und zu fühlen, wie er fühlt. Man rastet aus, wenn Amerika ausrastet. Man erleidet wie er Stufe für Stufe den Verlust an Vertrauen, man spürt seelische wie körperliche Schmerzen und man ‚fliegt’ mit ihm auf den schneebedeckten Mount Everest - eine der gelungensten Darstellung von Dissoziation und ihren Folgen, die man zur Zeit überhaupt lesen kann.


    Die Geschichte ist ungeheuer spannend. Vor allem ist sie sehr aufwühlend. Man muß das Lesen gelegentlich unterbrechen, weil man verarbeiten muß, was man eigentlich gelesen hat. Die Autorin, selbst Sozialarbeiterin und heute als Jugendtherapeutin, ergreift Partei. Hinter ihren einfachen Worten ist nicht selten Zorn zu spüren darüber, was mit Kindern geschehen kann. Es gelingt ihr aber ausgezeichnet, diesen Zorn Teil der Geschichte werden zu lassen. Wir hören nur Amerika, auch Dr. B.s Worte lesen wir in seiner Wiedergabe. Wenn Amerika überzeugt ist, daß ihn sein Therapeut hereinlegen will, dann wird man auch als Leserin mißtrauisch, wenn Amerika der Ansicht ist, daß Dr. B. für einmal recht hat, dann glaubt man Dr. B. das auch. Solange Amerika will, denn er entscheidet.


    Faszinierend ist die Idee, daß Amerika seinen Namen deswegen trägt, weil er alle Farben und Völker in sich hat. Man hielt ihn für einen Weißen, dann für einen Schwarzen, manche sagen, er sei Asiate, andere, daß er Inder sei. Er hat grüne Augen und seine Haare sind nicht lockig und nicht glatt. Ausgezeichnet eingesetzt auch die Motive des Feuerzeugs und der Schnürsenkel, ein immerwährendes Spiel, das einmal tödlich endet und einmal ganz knapp nicht. Daß der Name nicht nur für einen Kontinent, sonder auch für einen Staat steht, enthält zugleich ein Stück Kritik am Sozialsystem ebendieses Landes, ohne daß es auch nur einmal laut gesagt wird. ‚Amerika ist verlorengegangen’, wenn man einen solchen Satz liest, gerät man heutzutage gleich doppelt ins Grübeln.


    Nahezu unheimlich ist die Fähigkeit Franks, Sprache und Tonfall wiederzugeben, und zwar von allen Personen. Sie setzt einen vergleichsweise kleinen Wortschatz ein und schafft es, damit sowohl punktgenau zu charakterisieren als auch nahezu poetische Stellen zu kreieren. Die gleichen sparsamen Worte können einmal äußerstes Elend und nicht lange danach in einem nur minimal veränderten Kontext plötzlich Liebe ausdrücken. Es ist verblüffend, was aus dem Wort ‚Sch ...’ werden kann, wenn es nicht nur offensiv verwendet, sondern überlegt offensiv eingesetzt wird. Der (hochwichtige) Brief von Amerikas Halbbruder etwa besteht aus vier kurzen Sätzen, besagtes Schimpfwort kommt zweimal darin vor. Es ist dennoch nichts weniger als ein Brief der Liebe und eine der bewegendsten Stellen in diesem Roman, dem es an emotionalen Stellen wahrhaftig nicht mangelt.


    Die Handlung des Romans erstreckt über drei Jahre, so lange dauert es, bis Amerika, nun achtzehn Jahre alt, einigermaßen vertrauensvoll in etwas blicken kann, das eine Zukunft sein kann. Seine Zukunft. Er fühlt sich am Ende gefunden.
    Die letzten Sätze sind das einzige, das mich nicht ganz zufriedenstellte. Sie sind zu sentimental. Aber ich bin nicht Amerika und es sind Amerikas Sätze. Wenn er es sentimental ausdrücken möchte, hat er, verdammt noch mal, jedes Sch...-Recht dazu. Kein Scheiß jetzt!


    Die Übersetzung von Heike Brandt ist überaus gelungen, man merkt streckenweise nicht, daß man einen US-amerikanischen Text liest. Für einmal habe ich mich nicht eine Minute lang nach dem Original gesehnt, so klar und richtig klingt das alles auch auf deutsch.


    Ein Jugendroman, bei einem Jugendbuchverlag als solcher erschienen, aber es wäre falsch, wenn man ihn auf eine einzige Gruppe von LeserInnen beschränkebn würde. Es ist ein echter Roman, für jedes Alter ab. ca. 14.

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Es ist immer schön, Deine Rezensionen zu lesen, ja zu genießen, magali.
    Auch wenn ich danach oft weiß, dass es absolut kein Titel sein wird, den ich in absehbarer Zeit lesen werde. :-]



    bewundernde Grüße von Elbereth :wave

    “In my opinion, we don't devote nearly enough scientific research to finding a cure for jerks.”

    ― Bill Watterson

  • Vielleicht fragt mal jemand nach dem Buch.
    ;-)


    Höchste Leseempfehlung.


    Die Geschichte ist nicht leicht wegzustecken. Das Buch läuft bei mir unter 'Wunder'. Daß Handlung und Schreibtalent auf eine solche Art zusammenkommen, findet man nicht häufig.
    Noch dazu ist die Autorin Therapeutin!
    :wow



    <duckundweg>



    magali ( :grin)

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus