Wir Ertrunkenen
Carsten Jensen
Knaus Verlag
784 Seiten
ISBN:978-3-8135-0301-2
Übersetzt von: Ulrich Sonnenberg
Original Titel: Vi, De Druknede
Der Autor: Carsten Jensen geboren 1952 wuchs in Marstal auf der dänischen Insel Aero als Sohn eines Kapitäns auf. Er studierte in Kopenhagen Literaturwissenschaft und arbeitete danach als Journalist und Kritiker. „Wir Ertrunkenen“ ist Jensens dritter Roman. Das Buch erschien 2006 in Dänemark und wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet unter anderem auch mit dem wichtigen „Danske Banks Litteraturpris“. Er ist Vater einer Tochter, lebt und arbeitet in Kopenhagen und hat nach eigenen Angaben fünf Jahre für das Buch gebraucht und ca. 500 Seiten verworfen, bis er die universelle Geschichte seiner Vorstellung gefunden hatte.
Klappentext: Alles beginnt im Jahr 1848, als der Seemann Laurids Madsen in den Himmel fliegt und unversehrt wieder zur Erde zurückkehrt. Der Tod hat ihn nicht gewollt. Später wird er sagen, seine Stiefel seien zu schwer für ein Leben da oben gewesen. Seither ist Laurids Madsen eigenartig, und irgendwann verschwindet er auf den Weltmeeren. Seine Stiefel bleiben zurück, bis sein Sohn Albert sie anzieht. Er macht sich auf den Weg in die Südsee, um seinen Vater zu suchen. Mit dem Schrumpfkopf von James Cook und dem Geheimnis der Geldvermehrung kehrt er als reicher Reeder zurück. Er weiß, in den Frachträumen der großen Segelschiffe liegt im neuen Jahrhundert die Zukunft. Von Marstal aus sollen noch mehr Schiffe in See stechen, doch Albert hat nicht mit den Frauen gerechnet. Sie hassen das Meer, das ihnen ihre Männer und Söhne genommen hat und immer wieder nimmt. Auch Klara hat gerade ihren Mann verloren. Niemals soll ihr Sohn auf einem Schiff anheuern. Doch Knut Erik lauscht den phantastischen Geschichten Alberts, und während der alte Reeder und Klara sich näher kommen, hat die Mutter ihren Sohn bereits an das Meer verloren. Klara will sich nicht damit abfinden und nimmt den Kampf auf.
Meine Rezension: Jensen erzählt die Geschichte, oder besser gesagt, die Geschichten der Stadt Marstal und ihrer Bewohner in der Zeit von 1848 bis 1945. Wie schon im Klappentext beschrieben, beginnt das Ganze mit dem Flug von Laurids Madsen in den Himmel. Mitten im ersten Seegefecht gegen die Deutschen beobachten die Marstaler aus ihrem Rettungsboot, wie bei der Explosion ihres Schiffes Laurids eben diesen beschriebenen Flug vollführt und danach auf beiden Beinen wieder an Deck landet. Es kommt, wie es kommen muss: Laurids wird dadurch zu einer lebenden Legende. Diese und sehr viel mehr Geschichten werden erzählt und es sind so viele, das Buch ist so prall damit gefüllt, dass es schwer fällt, sie auch nur ansatzweise zu schildern oder anzureißen.
Das Buch ist in vier Teile gegliedert und nicht nur in diesem ersten Teil beweist Carsten Jensen ganz großes Erzähltalent. Immer ist da ein versteckter Humor zu spüren, wo man eigentlich nur ernste Sätze erwartet - der Leser liest nicht nur die Anekdoten der Marstaler, nein, er erlebt ihre Entstehung mit. Leider kann Jensen diesen Humor nicht bis zum Ende des Buches durchziehen, aber er schafft es meisterhaft, viele verschiedene Handlungen, Zeitstränge und Personen so geschickt miteinander zu verknüpfen, dass man der Geschichte gut folgen kann, ohne sich zu irgendeinem Zeitpunkt zu fragen, wer denn gleich wessen Sohn oder Tochter war. Der Schreibstil hat mir gut gefallen. Er ist schnörkellos und wenig emotional gehalten, doch gerade dadurch gewinnen die Geschichten an Authentizität und ich fühlte mich als Leserin in die Rolle der interessierten Beobachterin versetzt, die ihre Augen überall hat und die sich aussuchen kann, bei welcher Handlung, welcher Person sie länger verweilen möchte. Ein bemerkenswerter Einfall ist das kollektive„Wir“ als Erzählerstimme. Das „Wir“ steht für die Bewohner der kleinen Stadt. Es weiß ja alle Dinge, hört und sieht alles und was es nicht weiß, dass wird eben dazu gedichtet und so erfährt man alles von einer „Gesamtstimme“, die einem sozusagen den Platz in der ersten Reihe reserviert.
Es ist ein Buch, dass vom Leben und vom Sterben erzählt, von Jungen, die zuerst in der Schule und dann an Bord ihrer Schiffe geprügelt wurden, deren Väter nur einmal im Jahr zu Besuch kamen und die ihnen oft seltsam fremd blieben und deren Tod nur allzu oft in einem nüchternen Brief der Reederei mitgeteilt wurde. Es erzählt von den Frauen, die ihre Kinder allein großziehen mussten und von den leeren Friedhöfen der Stadt, da die wenigsten Seemänner ihr Grab an Land fanden - Von der Einsamkeit der Frauen, berichtet es ebenso wie von der Sehnsucht der Männer nach dem Meer und von vielen Abenteuern auf See, wie wir sie aus den großen alten Seefahrergeschichten kennen. Leider wird die Geschichte zum Ende hin immer unglaubwürdiger und da die Handlung bis weit über die Buchmitte sehr realistisch dargestellt wird, ist das mein großer Kritikpunkt. Irgendwann war alles nicht mehr glaubhaft und wirkte auf mich, als habe selbst der Autor nun genug und würde versuchen irgendwie zum Ende zu kommen, was ja auch nach 780 Seiten dann endlich der Fall ist. Ebenfalls negativ ist meiner Meinung nach auch dies:
Ein weiterer Kritikpunkt, der aber sicherlich nur mir als Sensibelchen so furchtbar Magengrimmen verursacht hat, ist, dass auf mehr als 5 Seiten das Quälen eines Hundes und die Gefühle der Peiniger bis ins Detail beschrieben wurden. So etwas mag ich nicht lesen und habe es deshalb wütend überblättert.
Fazit: Insgesamt hat mir das Buch gut gefallen. Es ist eine Mischung aus Seefahrerabenteuern, Seemannsgarn, Anekdoten und Familiengeschichten. Eine Geschichte, die von entbehrungsreichem Leben, von abwesenden Vätern, von verpassten Möglichkeiten und vom Tod, der so dazu gehört, dass er für die Protagonisten schon fast seinen Schrecken verloren hat, handelt und dennoch niemals traurig oder nordisch düster wirkt. Trotzdem gab es einige Kritikpunkte und so würde ich dem Buch 7 von 10 Punkten geben.