OT: Mademoiselle Berthe et son amant 1944
Kommissar Maigret sitzt an einem frühen Maimorgen in einem Café der Pariser Boulevards und ist grantig. Was ihn so ärgert, ist er selbst. Eigentlich ist er in Pension, eigentlich sollte er noch in Meung-sur-Loire im Bett liegen oder wenigstens in seinem Garten arbeiten, auf den er so stolz ist. Statt dessen hat er sich vom Brief einer unbekannten jungen Frau in die Hauptstadt locken lassen. Der Brief war ihm von Anfang an theatralisch erschienen, jawoll! Trotzdem hatte er ihn Madame Maigret verschwiegen. Nun sitzt er im Café, knurrt vor sich hin und kommt sich vor wie ein älterer Liebhaber auf Abwegen.
Als die Absenderin des Briefs endlich kommt, weicht sein Mißtrauen, aber nur langsam. Mademoiselle Berthe trägt ein gar zu rotes Hütchen. Doch ihre Geschichte beeindruckt ihn. Sie hat einen jungen Mann, Albert, kennengelernt, der, aus guter Familie stammend, in die Kriminalität gerutscht ist. Er war vor kurzem an einem Banküberfall beteiligt, er soll dabei jemanden erschossen haben. Nun ist er auf der Flucht nach England und will, daß sie ihm nachfolgt.
Mademoiselle Berthe aber ist ein anständiges Mädchen, bei aller Liebe will sie keinen Kriminellen heiraten! Kaum hat sie Albert das geschrieben, fing er schon an, sie auf das Schrecklichste zu bedrohen. Ihr Leben ist in Gefahr. Maigret soll sie beschützen.
Die Sache mit dem Banküberfall macht Maigret neugierig. Er setzt sich mit seinem Neffen in Verbindung, der inzwischen selbst bei der Pariser Polizei arbeitet. Dieser bestätigt Mademoiselles Berthes Geschichte. Aber etwas an Mademoiselle Berthe läßt Maigret stutzen. Und dann hat er eine Idee, die ihm richtig gute Laune bereitet. Doch, der Ausflug nach Paris hat sich gelohnt.
Was diese Kriminalerzählung aus den Geschichten von Simenon heraushebt, ist der geradezu heitere Ton, in der sie abgefaßt ist. Nichts von der Melancholie und der großen Traurigkeit über die Abgründe der menschlichen Seele hier. Man kann geradzu sagen, daß der Autor über seine stets traurige Hauptfigur ein klein wenig spottet. Es ist aber ein sehr liebenswerter Spott. Der große, schwere Kommissar, der sich am wohlsten am Tisch einer Kneipe fühlt, muß sich sozusagen seinen Weg durch das Boudoir einer jungen Frau bahnen, die eigene Interessen verfolgt. Daß sie als Schneiderin für Kundinnen preiswert die Modelle großer Modeschöpfer kopiert, paßt genau zu ihr. Nicht alles, was sie erzählt, ist echt, und doch ist es kunstvoll, schön, und nur zu einem bestimmt: es soll glücklich machen.
Während Maigrets Neffe noch stirnrunzelnd in Sachen Banküberfall ermittelt, breitet sich langsam ein Lächeln über Maigrets Gesicht. Es hat schon alles seine Richtigkeit mit dem Fräulein. Auch wenn sie ihm wirklich keck kam, keck wie rotes Hütchen.
Nette Lektüre, ein richtiger ‚Cozy’ von Simenon.
Enthalten ist die Erzählung in dem Band: Maigret. Seine großen Fälle (Scherz Verlag, 1994)
In der alten Diogenes-Ausgabe findet sie sich unter dem Titel: Sechs neue Fälle für Maigret (1987), der leider nicht mehr lieferbar ist.
Ich habe sie gelesen in dem Sammelband: Maigret und die Frauen, Volk und Welt 1987.