OT: Maigret et la vieille dame 1950
Die Geschichte beginnt gemütlich, obwohl sie an einem unfreundlichen Bahnhof beginnt. Kommissar Maigret ist unterwegs in ein normannisches Küstenstädtchen, wo er in einem rätselhaften Mordfall ermitteln soll. Doch die Ermittlung hat noch nicht begonnen und Maigret läßt sich von Erinnerungen an Ferienaufenthalte am Meer verführen. Er ist gutgelaunt, fast glücklich. Zu seiner guten Stimmung trägt auch bei, wie er an diesen Fall kam. Es begann damit, daß eine alte Dame ihn in seinem Büro in Paris aufsuchte, eine äußerst liebenswürdige alte Dame. Ihr Dienstmädchen Rose wurde vergiftet, an ihrer Stelle, erklärt die alte Dame auf die reizendste und überzeugendste Art. Maigret hat das noch nicht ganz verdaut, als ein Anruf des Ministers die Sache klärt. Der Stiefsohn seiner Besucherin ist Abgeordneter. Maigret muß ermitteln.
In Étretat angekommen, fühlt sich Maigret immer noch beinahe wie in den Ferien, fast unwillig lauscht er den Berichten des örtlichen Kollegen. Die Besuche im Haus der alten Dame - ein ganz kleine Haus, voller Nippes und Spitzendeckchen, ein Puppenhaus, zierlich, zart, elegant - sind eher gesellschaftliche Angelegenheiten als polizeiliche Befragungen. Ah, und der Calvados! Dreißig Jahre alt, ein Genuß.
Aber Rose ist tot.
Noch gemächlicher als sonst erwacht Maigret aus seiner Verzauberung aus Kinderträumen und Ferienstimmung. Die Worte des Kollegen dringen zu ihm vor, die Personen rund um die alte Dame gewinnen Konturen. Die Tochter aus erster Ehe, die beiden Stiefsöhne, die über neunzigjährige Nachbarin, die Familie von Rose. Maigret wandert durch Étretat, stellt ein paar Fragen, vor allem aber hört er zu. Und er trinkt. Sein Alkoholkonsum in diesem Roman ist ungeheuer. Er ist kaum einen Moment nüchtern.
Das ist amüsant zu lesen, stimmt aber mit der Geschichte zusammen. Die Wahrheit liegt nämlich hinter Schleiern verborgen, hinter Kindheitsträumen, Nostalgie, Träumen vom großen Leben, Träumen vom Meer, Liebesträumen. Dazu paßt der Alkoholdunst ausgezeichnet. Getrunken wird überdies nach sozialem Stand, Bier, Cocktails, ein wenig Wein und vor allem teuerster Calvados. Arm und Reich, die Fischer und die Fabrikantenwitwe, das Dienstmädchen und der Playboy, die Verkäuferin aus der Konditorei und die große Dame, der Politiker und der Matrose, alle sind sie da, manchmal in ein - und derselben Person.
Nicht nur Maigret ist in diese Schleier gehüllt, auch die anderen Personen sind es. Es gibt aber auch jemanden, der die Schleier webt und wirft, und der rücksichtslos noch einen zweiten Mord begehen wird, um sein Ziel zu erreichen. Als die Entzauberung eintritt, wird deutlich, was hier verhüllt werden sollte: Habgier, lebenslang, ungebremst, kälter als der Wind vom Meer. Der Aufprall auf dem Boden der Wirklichkeit ist so schmerzlich und unumkehrbar wie ein Fall von den Klippen Étretats, die bekanntermaßen für ihre Steilheit berühmt sind.
Ein traditioneller Maigret-Krimi, aber mit einer ganz besonderen Stimmung. Er enthält überdies einige faszinierende Psychogramme, vor allem von Frauen, die in manchen Punkten ziemlich klarsichtig sind. Und das alles, ohne viele Worte zu machen.
Die Übersetzung stammt von Renate Nickel.