FLIEG SO LANGSAM DU KANNST
** Nur durch einen guten Abschied, ist man frei
*Menschen, die man im Herzen trägt,
kann einem niemand nehmen.
DIE SEELE WANDERN LASSEN
Im Raum ist es dunkel.
Es ist jedoch keine finstere Düsternis. Licht schimmert weißlich vom Gang her unter dem Türspalt hindurch, die Notknöpfe für die Krankenschwestern ergeben einen matten, orangeroten Ton und der Halbmond scheint durch die Fenster.
Ich wollte nicht, dass die Nachtschwester die Vorhänge zuzieht. Hatte Angst vor der Nacht, hatte Angst dor dem Allein sein, hatte Angst vor dem Abgeschottet sein.
Die Nacht, die mir immer Angst bereitet hatte.
Als Kind - weil ich damals glaubte, die Monster kämen unter dem Bett hervor.
Als Erwachsene - weil ich heute glaube, die Verbrecher kämen aus ihren Verstecken hervor.
Licht - im Lichtstrahl des Lebens sein. Schatten werfen, die einen verfolgen, aber nicht fangen werden.
Das Allein sein, das mir immer Angst bereitet hatte.
Alleinsein, einsam sein, schutzlos sein.
Ich brauche Menschen um mich. Wie feste Mauern, die das Herz erwärmen.
Gemeinsam mit einem Menschen leben - wie wunderbar, wie tröstend.
Das Abgeschottet sein - das mir immer Angst bereitet hatte.
Hinter Wällen verborgen, welche die Psyche erdrücken.
Im Leben stehen - es genießen und sich treiben lassen.
Der Halbmond spricht mit mir. Er flüstert leise Worte in mein weinendes Herz. Ich rede nicht. Ein Balsam des Schweigens.
Die Sterne funkeln in der Nacht. Im Schwarz des Universums.
Ziehen gleichmütig ihre Bahn und vergehen still.
Mir scheint, als würden sie mein Leid beklagen.
Der Mond hat seinen halben Glanz verdeckt -
die Sterne jammern lautlos.
Ruhe hat sich über das Krankenhaus gelegt.
Kaum ein Piepen, kaum ein Summen, kaum ein Wort, kaum ein Laufschritt.
Alles hat sich mit mir verbunden.
Schlaf.
Ich denke an den Schlaf. An das tröstende Abdriften des Seins in den inneren sicheren Ort. Nichts Böses kann mir da passieren, kein Schmerz wird mir zugefügt.
Ich denke an den Schlaf.
Und ich denke an mein Kind.
Ich denke an mein totes Kind.
Meine Gedanken werden lahm, erstarren.
Meine Augen werden feucht.
Meine Atmung kommt stoßweise.
Mein Herz zieht sich zusammen.
Mein Magen verkrampft sich.
Ein leises Klopfen lässt mich aufhorchen, die Tür öffnet sich langsam.
Ich sehe eine Nonne. Klein, gebückt, alt.
In schwarzer Tracht.
Sie spricht nicht. Sie weiß, Worte sind jetzt unzulänglich und falsch.
Ich bin dankbar, sie ist hier.
Mühsam stehe ich auch, sie versucht zu helfen.
Mein Unterleib zieht sich zusammen, als wisse er nicht, dass er jetzt kein Kind mehr tragen müsse.
Schleppend gelangen wir in die kleine Kapelle.
Ich weiß, mein Kind liegt dort.
Dort liegt mein totes Kind.
Sie lässt mich vorgehen: Steht schützend hinter mir, um mir den Rücken zu stärken. Halb gebend.
ich beginne zu sprechen. Vorsichtig und leise.
Und merke, wie Ballast von mir fällt.
"Flieg so langsam du kannst, süßer Engel, und lass mich niemals allein. An diesem Ort ohne Wärme, der so kalt ist wie Stein.
Und zeigt der Herbst seine Pracht, lass mich bitte nicht bangen. Wenn der Regen fällt, küss meine Wangen.
Flieg so langsam du kannst, süßer Engel, und dann hör ich das Lied, das die Schatten vergisst, das mein Leid besiegt. Hüll mich ein in warme Sonnenstrahlen und küss mein Tränen. Ja eins, das ist gewiss mein Kind, ich werd mich ewig nach dir sehnen.
Und sobald das Licht im Meer versinkt, dann warte du auf mich. Und führ mich sicher heimwärts. In die Welt voller Wärme, in die Welt voller Licht.
Entfalte die Flügel, die dir vom Himmel verliehen.
Reich mir deine Hand, damit wir gemeinsam entfliehen.
Von diesem Ort voller Trauer, diesem Ort voller Leid.
Reise nie mehr allein,
wir reisen zu zweit."