Dörthe Binkert: Weit übers Meer – Roman, München 2008, dtv Deutscher Taschenbuch-Verlag, ISBN 978-3-423-24693-4, 235 Seiten, Softcover, Format: 13,5 x 21 x 2,6 cm, EUR 14,90 (Deutschland), EUR 15,40 (Österreich), sFr 25,80 (Schweiz)
„Frau überquert Ozean auf einem Dampfer – in einer Abendrobe ohne ein weiteres Kleid“ stand am 3. August 1904 in der New York Times. Diese Meldung, die damals um die Welt ging, ist der wahre Kern des vorliegenden Romans. Die rätselhafte Dame in Weiß wurde auf dem Ozeandampfer „Kroonland“ entdeckt, der von Antwerpen nach New York fuhr. Sie war ohne Papiere, ohne Geld und ohne Gepäck unterwegs, obwohl sie über ein regelmäßiges Einkommen verfügte. Wie und warum sie an Bord gegangen war, hat man nie erfahren. Diese 100 Jahre alte Pressemeldung faszinierte die Schriftstellerin Dörthe Binkert, und sie beschloss, der geheimnisvollen Reisenden eine Geschichte zu geben.
Sonntag, 24. Juli 1904. Der Ozeandampfer „Kroonland“ hat soeben Dover passiert, nun geht es ohne weiteren Halt bis nach New York. Da verlangt eine junge, attraktive und vornehme Dame im sündteuren weißen Seiden-Abendkleid den Kapitän zu sprechen. Sie stellt sich als Valentina Meyer vor und gesteht dem verdutzten Kapitän, in Antwerpen als blinde Passagierin an Bord gegangen zu sein. Sie habe kein Gepäck und keinen Pfennig Geld dabei, sei aber von Haus aus vermögend und würde selbstverständlich im Nachhinein die Überfahrt bezahlen. Und sie gibt ihm ihre wertvollen Diamantohrringe als Pfand.
Nicht ganz ohne Hintergedanken sichert ihr der Kapitän zu, die Angelegenheit diskret zu regeln und ihr für die Dauer der Überfahrt eine Erste-Klasse-Kabine zur Verfügung zu stellen. Da die Kleiderordnung an Bord es verbietet, sich tagsüber in Abendgarderobe zu zeigen, kann Valentina ihre Kabine nur am Abend verlassen.
Diskretion hin, „Hausarrest“ her – die Nachricht von der schönen blinden Passagierin verbreitet sich wie ein Lauffeuer an Bord. Ist sie tatsächlich eine gesuchte Juwelendiebin, wie gemunkelt wird? Oder eine Kurtisane? Oder ist es doch eher so, wie das blutjunge Schiffszimmermädchen Lotte vermutet: dass die vornehme Dame von ihrem bisherigen Leben davongelaufen ist.
Die Tatsache, dass hier jemand ganz spontan sein bisheriges Leben hinter sich gelassen hat, aus welchem Grund auch immer, bringt so manch einen der Passagiere ins Grübeln. Ist so ein deutlicher Schlussstrich, so skandalös er auch sein mag, nicht ein ehrlicher Befreiungsschlag, eine mutige Tat? Mutiger auf jeden Fall, als sich mit einer trost- und hoffnungslosen Situation zu arrangieren und still zu leiden, nur weil die Konvention es so fordert. Und: Hätte man selbst den Mut zu so einer radikalen Veränderung?
Das Klima an Bord so eines Ozeandampfers begünstigt derlei Gedankengänge: „Hier aber, auf dem Ozean (...) herrschte bei aller Ordnung, die die Mannschaft aufrechterhielt, ein Ausnahmezustand, den niemand ausgerufen hatte und den doch jeder spürte. Als sei es den Menschen bewusst, das sie mit diesem Schiff untergehen könnten, sehnten sie sich mehr denn je nach dem Leben. Ihre Zweifel, Ängste und Sehnsüchte traten deutlicher hervor als an Land.“ (Seite 163)
Und so hinterfragen die Menschen an Bord ihr bisheriges Leben, werden sich ihrer Wünsche, ihrer Unfreiheit und ihrer Sehnsüchte bewusst.
Da ist Maria Vanstraaten, Mutter dreier Kinder, verheiratet mi8t einem lieblosen, grausamen Mann. Als sie über das Schicksal der blinden Passagierin nachdenkt, wird ihr auf einmal klar, wie unglücklich sie selbst ist. Valentina Meyer hat alle Bürden abgeworfen und ist frei. Sie kann sie selbst sein. Maria Vanstraaten wagt das nicht. Ihr ist bewusst, dass man die Freiheit teuer bezahlen muss, mit allem, was einem lieb und wert ist. In ihrem Fall wären es die Kinder. Und dieser Preis ist ihr zu hoch.
Und Monsieur Vanstraaten? Ein desillusionierter, strenger, ja brutaler Mann, der früh seine eigenen Träume begraben musste und nun alle Wünsche und Pläne aus seinen Kindern herausprügelt, um sie nur ja zu pflichtbewussten, charakterstarken Menschen zu erziehen. Die schöne Valentina Meyer erinnert ihn für einen Augenblick an seine alten, längst verlorenen Träume von der Liebe: „Ein wehmütiger Moment. Aber damit muss man leben. Die Träume gehören heute der Technik, der Wissenschaft. Der Zukunft. Das menschliche Glück ist nur eine zufällige Erscheinung, eine Illusion, und das Streben danach ist nur eine Eingebung unserer Schwäche.“ (Seite 145)
Da ist das belgische Fabrikanten-Ehepaar Borg, gefangen in einer lieb- und kinderlosen Ehe, einer Zweckgemeinschaft, die ihren Zweck nicht erfüllt hat und im Grunde auch längst keine Gemeinschaft mehr ist, sondern allenfalls ein schweigendes gemeinsames Bewohnen derselben Räumlichkeiten.
Henriette Borg ist zutiefst beunruhigt über Frauen wie Valentina Meyer, „die aus der normalen Ordnung fallen“ und einfach tun, was sie wollen. Und ihrem Mann, Willem Borg, wird angesichts der attraktiven Valentina plötzlich bewusst, „dass ich nicht mehr wirklich lebe, vielleicht nie gelebt habe, dass ich mein Leben nur verwalte, bis es eines Tages zu Ende sein wird.“ (Seite 38)
Wenn allein der Anblick der blinden Passagierin solche Gedanken und Gefühlsaufwallungen auslöst, wie ergeht es dann erst denen, die mit ihr persönlichen Kontakt haben?
Da wäre ihr Kabinennachbar Henri Sauvignac, ein Bildhauer aus Antwerpen, der auf dem Weg zur Weltausstellung nach St. Louis ist, wo ein paar seiner Werke ausgestellt werden. Er vermisst seine Geliebte, die Kunststudentin Lisette, die ihn verlassen hat, nachdem er sich geweigert hatte, sie zu heiraten. An Bord beginnt er eine Affaire mit Billie Henderson, einer etwas naiven Verkäuferin aus Philadelphia, die mit einem weiteren Mitreisenden liiert ist, dem verheirateten Geschäftsmann William Brown.
Henri Sauvignac hat das Leben immer genommen wie es kam und sich nie viele Gedanken über die Zukunft gemacht. In Valentinas Lebensgeschichte, die er so nach und nach von ihr erfährt, entdeckt er eine erschreckende Parallele zu seinem eigenen Leben. Und nun weiß er, was er zu tun hat ...
Den bei weitem stärksten Einfluss hat Valentina Meyers Anwesenheit auf das Leben des amerikanischen Geologen Thomas Witherspoon und das seiner etwas altjüngferlichen Schwester Victoria, mit der er gemeinsam reist. Victoria hat nach dem Unfalltod ihrer Mutter ihren zehn Jahre jüngeren Bruder großgezogen und versucht seither, ihn vor allen Gefahren zu beschützen. Auch vor denen, die die Liebe und ein eigenständiges Leben mit sich bringen.
Eines jedoch kann Victoria nicht verhindern: dass Thomas und Valentina sich auf den ersten Blick ineinander verlieben. Wären wir auf dem „Traumschiff“, kämen nun die Geigen das Happy End. Aber diese Geschichte hier ist ungleich näher am Leben. Valentina ist nicht frei, sie ist, wenn auch unglücklich, verheiratet. Thomas ist in gewisser Weise auch nicht frei. Er fühlt sich seiner Schwester verpflichtet, die ihm das Leben gerettet und seinetwegen auf eine eigene Familie verzichtet hat. Thomas ist zu ihrem Lebensinhalt geworden, und er wagt nicht, sie im Stich zu lassen. Jetzt hat er ein ernsthaftes Problem, denn in Valentina hat er die Frau gefunden, mit gegen alle Widerstände sein Leben verbringen will.
Zwischen den Geschwistern Witherspoon kommt es erstmals in ihrem Leben zu einem heftigen Streit. Es fallen deutliche Worte – mit dramatischen Folgen.
Wird es Valentina und Thomas gelingen, in den USA gemeinsam ein neues Leben anzufangen? Wird Victoria Witherspoon lernen, ihren Bruder loszulassen und ihr eigenes Leben zu führen? Welche Konsequenzen ziehen die Mitreisenden aus den Gedanken, die sie sich auf der Überfahrt über ihr eigenes Schicksal gemacht haben?
Nicht zu vergessen: Was hat denn nun Valentina Meyer – oder richtig: Valentina Gruschkin – bei Nacht und Nebel veranlasst, im Abendkleid und ohne Geld als blinde Passagierin an Bord eines Überseedampfers zu schleichen? Doch diese tragische Geschichte soll sie Ihnen am besten selbst erzählen ... im Buch.
Nein, eine Reise mit dem „Traumschiff“ ist WEIT ÜBERS MEER gewiss nicht. Im Hinblick auf die Beziehungen der Menschen untereinander ist es sogar ein regelrechtes Alptraumschiff. Und das Erschreckende daran: Diese Schicksale sind nicht gar nicht so untypisch für die damalige Zeit: Man heiratet irgend jemanden, der von Stand, Vermögen und Ansehen zu einem passt und lebt, wenn es dumm läuft, fortan sprachlos nebeneinander her. Von Liebe ist dabei keine Rede.
Für die Männer mag das noch erträglich sein, wie man an den Geschichten im Buch sieht. Sie können sich das, was ihnen zu Hause fehlt, in aushäusigen Beziehungen suchen, doch die Frauen haben so gut wie keine Alternative. Passt es nicht mit der Partnerwahl, hat man quasi lebenslänglich. Wer noch andere Vorstellungen vom Leben hat, muss es machen wie Valentina: alles zurücklassen und außerhalb der guten Gesellschaft von vorne anfangen. Nur Außenseiterinnen gelingt es, ein eigenständiges Leben zu führen.
Berchthild Klöppler, die Modeschöpferin, die auf der „Kroonland“ mit ihrer Kollektion von Reformkleidern nach New York unterwegs ist, bezahlt einen anderen Preis für ihr selbstbestimmtes Leben: dem Ruf der verschrobenen, politisch radikalen alten Jungfer. Heute würde man sie vermutlich „Emanze“ schimpfen.
Vielleicht schafft es doch eine der Reisegefährtinnen Valentinas, ihr Leben nach ihren eigenen Vorstellungen zu gestalten: Die intelligente 16-jährige Lily Mey aus Wien, die als interessierte Beobachterin meist etwas abseits des Geschehens in ihrem Rollstuhl sitzt und sich über Gott und die Welt Gedanken und Notizen macht. Sie möchte gerne Physik studieren und dann Schriftstellerin werden. Sie rechnet sich gute Chancen aus, denn, wie sie ganz unsentimental bemerkt: Als Frau mit einer körperlichen Behinderung ist sie auf dem Heiratsmarkt ohnehin nicht gefragt. Lily Mey hat den Preis für ein selbstbestimmtes Leben gewissermaßen schon im voraus bezahlt.
Man kann das Buch als berührende Liebesgeschichte und als fesselndes Familiendrama lesen. Aber es ist mehr als das. Es ist ein Sittengemälde aus der Zeit vor 100 Jahren, lebendig, packend und oft auch erschreckend. Man kann als Leserin nicht umhin, im Geiste ein herzliches Dankeschön an all die VorkämpferInnen zu schicken, die es möglich gemacht haben, dass wir uns heute nicht mehr blind den Konventionen beugen müssen, sondern doch eine Wahl haben, wie wir unser Leben gestalten wollen. Vergelt’s Gott, Schwestern! Und wir bleiben am Ball!
Die Autorin:
Dörthe Binkert, geboren in Hagen/Westfalen, wuchs in Frankfurt am Main auf und studierte dort Germanistik, Kunstgeschichte und Politik. Nach ihrer Promotion hat sie dreißig Jahre lang für große deutsche Publikumsverlage gearbeitet. Seit 2007 ist sie freie Autorin und lebt heute in Zürich.