Die 20jährige Kassiererin Tracy Pringle verliert ihren Job, weil sie vor lauter Tagträumerei einen unter ihrer Nase stattfindenden Ladendiebstahl übersieht. Sie muss schleunigst neue Arbeit finden, um die prekäre finanzielle Situation zu Hause nicht noch zu verschärfen: Ihr Vater Eric ist arbeitslos, seit bei der Explosion eines Gastanks sein Fußgelenk zerschmettert wurde, und ihrer hart arbeitenden Mutter kann nicht noch mehr Last aufgebürdet werden, als sie als Erzieherin in einer Vorschuleinrichtung ohnehin schon trägt.
Tracy macht sich auf und findet dank ihrer Hartnäckigkeit einen Job in dem vegetarischen Restaurant "Taste of Persia", das von dem etwa 50jährigen Sam Sahar geführt wird. Tracy wird schnell zu einem unverzichtbaren Mitglied der Belegschaft des Restaurants. Auch mit Sam, dessen Frau Yvette ebenfalls im "Taste of Persia" bedient, versteht sie sich immer besser. Als eines Tages Sams kleiner Sohn Mohamad im "Taste of Persia" erscheint, macht Tracy allerdings ein paar Entdeckungen: Yvette ist nicht die Mutter von Sams Kindern, die gehören der schönen Firouzeh, ehemalige Frau von Sams jüngerem Bruder, der bei einem Bombenattentat im Irak ums Leben gekommen ist. Außerdem sind die Kinder eigentlich Sams Neffen. Und Yvette ist auch nicht Sams einzige Frau, Firouzeh ist ebenfalls mit ihm verheiratet.
Nach einer anfänglichen Verwirrung gewöhnt sich Tracy an dieses häusliche Arrangement und mehr als das. Denn nach und nach beginnt sie sich in den charmanten und weltgewandten Sam zu verlieben. Das bleibt von ihrer Umwelt nicht unbemerkt und sowohl Tracys Eltern als auch ihr ehemaliger Liebhaber Ricky Innes sind nicht gerade begeistert, als sie erfahren, dass Tracy Sams dritte Frau zu werden gedenkt. Die Gegenmaßnahmen, die ergriffen werden, zeitigen allerdings eine Menge unvorhergesehener Komplikationen.
Anthony McCarten legt mit "The English Harem" großartige und intelligente Unterhaltung vor. Ein Buch, das man kaum beiseite legen kann, voller überraschender Wendungen und allmählicher Enthüllungen. Auf sehr clevere Weise wird der Finger in die moralisierende Wunde der seriellen Monogamie gelegt. McCarten zeigt in verdichteter, aber keineswegs komplizierter oder übermäßig konstruierter Weise die Lügen und Beschönigungen, von denen dieses für die westliche Welt so selbstverständliche Konstrukt lebt. Er zeigt die Vorurteile und Obsessionen einer Gesellschaft, die gerade in diesem Punkt keine Abweichung dulden kann und sich eine eigentlich nicht sehr extravagante Familie zu einem höchst unmoralischen Swingerclub ausfantasiert.
Die Zwischentöne gelingen McCarten dabei besonders gut, etwa wenn er die voruteilsstarren Ost-/West-Fronten auflöst, indem sich plötzlich die englische Arbeiterfamilie mit der traditionell muslimischen Familie aus dem theokratischen Iran einig darüber ist, dass die Ehe zwischen Sam und Tracy nicht zu akzeptiern sei. Oder indem der übereifrige Mitarbeiter der Londoner Social Services Sebastian Partridge durch einen verführerischen Ausschnitt dazu gebracht wird, die moralische Unbedenklichkeit des Vielfrauenhaushalts vor Gericht zu bezeugen.
Rätselhaft blieb mir eigentlich nur, warum trotz allen Wissens um die Vorurteile der Umgebung, die Sahars so unglaublich störrisch auf der Benennung ihrer Beziehung als "Ehe" bestehen. In allen anderen Beziehungen sind die Figuren sehr reflektiert und voll praktischer Weisheit gezeichnet, in dieser einen Beziehung geht die Symbolik der Benennung offenbar vor dem problemlosen Zusammenleben.
McCarten macht aber durch seine Auflösung der Handlung diese Überlegungen fast schon obsolet, denn am Ende hätte auch ein weniger aufgeladenes Vokabular den Gang der Dinge nicht verändert.
Ein wirklich gelungener Roman eines jungen Schriftstellers, auf dessen weitere Bücher ich nun sehr gespannt bin.
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Edit: Ich habe den deutschen Titel in der Überschrift ergänzt und die deutsche ISBN eingetragen, damit man das Buch in der Suche besser finden kann. LG Wolke