Wenn man ein Buch aufschlägt, weiß man nie, was eine erwartet. Was kommt, kann laut sein und leise, phantastisch bunt und pastellfarben, wild und ruhig. Es kann berechnet sein bis zur siebzehnten Stelle hinter dem Komma und dahinströmen wie Wasser nach der Schneeschmelze, einfach nicht zu bändigen. Es kann die ganze Welt zeigen oder die exakte Beschreibung eines Stecknadelkopfs. Es kann dumm sein und klug. Eigentlich kann ein Buch alles sein. Es kann sogar alles gleichzeitig sein.
Das habe ich jedenfalls bis gestern geglaubt.
Dann kamen diese 260 Seiten.
Laut dem Text auf der Rückseite geht es um folgendes:
Gemeinsam (stimmt) gehen Tim und Tanja (Namen stimmen) auf eine Interrail-Reise (stimmt) durch Skandinavien (ja, kommt auch vor). Die beiden kennen sich flüchtig (ja, okay) aus Berlin (stimmt) und treten die Fahrt aus ganz unterschiedlichen Motiven an. (Öhm. Ja. Mehr oder weniger. Manchmal eher, also, ja. Irgendwie. Shit happens, nee?) Es wird eine Reise in die Extreme (es gibt auch Extrem-Bügeln) der Gefühle (Papier ist geduldig): explosiv (manche Sätze sind in Großbuchstaben gedruckt), zärtlich (Tim ist ein ganz Lieber) und schmerzlich (der Redaktion bei Duden stehen noch die Tränen in den Augen) verwirrend (für den Autor).
Das neue Buch von Benjamin Lebert, dem Autor von ‚Crazy’, ist ein Roman über Einsamkeit (des Papiers, das geglaubt hat, beschrieben zu werden) und heldenhafte (die Helden sind müde, wie man heute weiß) Versuche (Es gibt kein Versuchen. Tue es oder tue es nicht, sagt Yoda.), diese zu überwinden.
‚Kannst du’ lautet der Titel dieses, nun, Buchs. Diese Zusammenfügung zweier Worte, die nicht Aussage sind und nicht Frage, die keine Fortsetzung haben, die nach dem ersten Luftholen mitten in der Luft verhallen, sind Programm. Hier setzt einer an, eine Geschichte zu erzählen, aber er verstummt sozusagen mitten im Wort. Und bleibt stumm.
Nicht daß er deswegen nicht weiterschreiben würde. Ein Held eben, wie seine Hauptfigur.
Tim ist Anfang zwanzig, Tanja 18. Tim ist ein bißchen verliebt in Tanja. Außerdem ist er scharf auf sie. Eigentlich ist Tim auf so ziemlich jede scharf, die ein bißchen nett aussieht und ihn lieb anlächelt. Aber nun ist es eben mal Tanja. Allerdings benimmt sich die blondlockige Tanja aus Bremen unterwegs immer merkwürdiger. Statt süßer Liebesnächte unter skandinavisch blauem Himmel gibt es Albträume, statt Kuscheln blutige Schnitte in Arme und Brust (Tanjas). Schreiorgien statt Kußorgien. Tim ist verwirrt.
Tim ist nämlich Schriftsteller. Ein echter! Das sagt nicht er, das sagen die anderen von ihm. Vor allem die Frauen, die Tim nett findet. Sie erkennen sofort, daß er echt ist, während die anderen Schriftsteller nur eingebildet sind und sich selbst inszenieren. Davon erzählt uns Tim lang und breit. Ach, der böse Literaturbetrieb. Die Kollegen! Die Lektorinnen! Wenigstens sind die hübsch genug, daß man sie abschleppen kann. Oder wenigstens unter den Tisch trinken. Zu arbeiten hat glücklicherweise keine und keiner. Das ist international so, es gibt Szenen aus Frankreich und Rußland. Dort trifft unser Held sogar Tschetschenen. Nein, sie schießen nicht, sie saufen nur, wie die anderen auch. Und ihre Mädels sind süß. Wie die anderen auch. Alle Menschen sind eben gleich, überall. Kein Wunder, daß sie alle einsam sind. Wer will schon immer mit sich selbst zu tun haben, wenn er eigentlich andere trifft?
Jedenfalls ist Tim sensibel. Schreiben kann er auch nicht mehr, nicht einmal eine Liebesgeschichte für die persönlichkeitsgestörte Tanja. Es ist ein Jammer mit den sensiblen Künstlern. Auch wenn sie mal einen Bestseller gebrettert haben wie unser Tim.
Seine Tanja tut Tim ja wirklich leid, wenn er mal fünf Minuten hat, in denen er sich nicht noch viel mehr leid tut. Die fünf Minuten sind aber selten. Den Rest der Zeit sinniert er über die vielen schönen Frauen in seinem Leben (er ist, wie oben notiert, 21), unprofessionelle und professionelle. Tim liebt nämlich Bordelle. Dort gibt er in wenigen Stunden schon mal 700 Euro aus. Und wenn dann noch so ein süßes Profi-Mädel, das noch nahezu unberührt ist und ganz aus Versehen in den Job gerutscht, also, wenn so eine reine Süße sagt, wie jung und zart er ist und er Jungfrau spielen darf, gibt er noch einen Hunni mehr. Ein ganz Lieber eben.
Tanja schnitzt derweil (un)fröhlich an sich herum.
Natürlich hat Tim auch ein ‚echtes’ Problem, er leidet unter dem Tod seines Bruders. Deswegen flüchtet er in Alkohol und Sex. Das nimmt man beim Lesen so mit. Wie den Rest auch. Es zieht an einer vorüber, hinter einer Glasscheibe, unter Wasser, im Weltraum, sehr fern. Irgendwo sind da Geschichten, Menschen, irgendwo ist da ein Roman.
Kannst du ... ihn mir erzählen, Autor?
Nein.
Dieses Buch ist leer, da ist nichts. Vielleicht ein Wort, iregdnwo, ein verhaltenes Klingen, das schon verhallt ist, ehe es zu Ende gesprochen wurde. Manchmal zieht ein Hauch einer Atmosphäre durch, aber er ist schon verweht, ehe einer klar wird, daß etwas an der Nase vorbeizog.
Auch stilistisch gibt das Buch nichts her. Die Worte entfalten kaum Wirkung, sie wirken wie aus der Ferne gesprochen, gleich, wie emotional, sentimental, kitschig, platt oder sogar treffend - das kommt das eine oder andere Mal auch vor - sie sein mögen. Das gilt für Dialoge ebenso wie für die zahlreichen Reflexionen oder die Landschaftsbeschreibungen. Der Text klingt, wie wenn man gegen eine hohle Wand klopft.
Man könnte seitenlang Vergehen gegen Ausdruck und Grammatik zitieren, aber tatsächlich hat das keine Bedeutung in diesem Text, weil der ganze Text keine Bedeutung hat. Er ist nicht nur nicht ‚echt’, er ist gar nicht da. Deswegen kann man sich am Ende nicht einmal ärgern über Tim, wenn er auf einmal doch kein ganz Lieber mehr ist. Auch das, was als ‚Heldentat’ gegenüber Tanja deklariert wird, ist wohl eher keine. Das ist aber auch nicht wichtig.
Ich habe immer geglaubt, daß Bücher, gleich welcher Art, auch noch im Allerentferntesten etwas mit der conditio humana zu tun haben. Hier fand ich nur eine conditio vacui.