Sherko Fatah, Das dunkle Schiff

  • Kerim wächst im Irak der Kuwaitkrise als ältester Sohn eines nominell alevitischen, de facto aber atheistischen Restaurantbesitzers auf. Erzählt wird seine Lebensgeschichte, in der er zunächst ein verhätschelter und übergewichtiger Stammhalter ist. Nachdem aber sein Vater aus recht undurchsichtigen Gründen von den Handlangern Saddams ermordet wird, muss Kerim das Restaurant übernehmen. Das tägliche Einerlei hat er schnell satt. Er träumt davon, es seinem Onkel Tarik gleichzutun und nach Deutschland auszuwandern. Die Gelegenheit dazu ergibt sich unter eigenartigen Umständen: Als er auf dem Weg zu seinen Großeltern ist, wird er eines Tages von islamistischen Fundamentalisten gekidnappt, denen er sich nach kurzer Gefangenschaft halb aus Angst, halb aus Faszination anschließt. Es folgt eine Zeit, von der die Leser erst nach und nach erfahren, am Ende löst sich Kerim jedoch von den "Gotteskriegern" und nicht nur das, er stiehlt ihre gesamte Barschaft, als sie während einer Razzia durch die Amerikaner im allgemeinen Tumult kurz unbeaufsichtigt ist. Ausgestattet mit diesem kleinen Vermögen kehrt er zunächst zu seiner Familie zurück und nimmt das Geschäft wieder auf, doch längst ist in ihm der Entschluss gereift, mit Hilfe des gestohlenen Geldes die Auswanderung nach Deutschland zu bezahlen.


    Ich hatte von Sherko Fatah bis zu seiner Nominierung zum diesjährigen Deutschen Buchpreis nichts gehört, dabei ist "Das dunkle Schiff" nicht der erste Roman, mit dem er Aufsehen erregt. Bereits 2001 erhielt er für seinen Erstling "Im Grenzland" den Aspekte-Literaturpreis.


    "Das dunkle Schiff" geistert als moderner Abenteuerroman mit all seinen Varianten durch die Feuilletons: Da ist die Rede vom Schelmenroman, gar vom Entwicklungsroman, kaum eine Tradition scheint zu gewaltig für dieses Buch. Tatsächlich ist "Das dunkle Schiff" ein süffig zu lesender, dabei formell nicht wahnsinnig innovativer Roman über die Lebensgeschichte eines Emigranten. Abgesehen von den Rückblenden in Kerims Zeit bei den "Gotteskriegern" wird hier schön chronologisch ein Leben erzählt. Und ich möchte behaupten, das wäre nicht weiter interessant - wäre da nicht die Hauptfigur.


    Kerim ist kein Schelm, er ist auch kein "Wilhelm Meister", wenn sein Leben auch ein bewegtes ist. Das heißt im Umkehrschluss nicht, dass es im Roman keine Entwicklung gibt, die gibt es in Hülle und Fülle, und sie ist beileibe nicht nur äußerlich. Doch Kerim wird vom dicken, feigen Kind zum dicken, feigen und frustrierten Erwachsenen, zum dünnen, gläubigen Erwachsenen, zum Auswanderer, zum naiven Opfer der eigenen Passivität. Und auch das trifft es nicht vollkommen, denn Kerim ist bis zu seinem 22. Lebensjahr weitaus aktiver und wagemutiger als der durchschnittliche Mitteleuropäer. Er hat auch viel mehr erlebt und viel mehr Verantwortung getragen. Er hat sich auch verändert.


    Das Geheimnis der Figur liegt aber in ihrer Gewöhnlichkeit. Kerim ist eigentlich ein Spießer, Antrieb seiner Handlungen ist eine diffuse Feigheit und das fast vegetative Interesse am eigenen Vorteil. Das Buch ist in fünf Teile unterteilt und in jedem der Teile macht sich Kerim eines feigen Verrats schuldig - nicht böswillig, einfach aus Schwäche und Selbstschutz, doch nichtsdestoweniger folgenreich für die Opfer (und für den Leser) von großer Abscheulichkeit. Man ist an solche Protagonisten nicht gewöhnt. Man ist an die Helden und an die Feigen, an die Schwachen und an die Berechnenden gewöhnt, aber nicht an die Gewöhnlichen, die in Situationen geraten, in denen für Moral kein Platz ist, und die ihr Leben, nachdem sie moralisch eklatant gefehlt haben, vielleicht auch nur aus einer Laune heraus, einfach weiterleben und das immer noch als ganz normale Menschen: Fatah zeigt in unglaublich geschickter Weise, auf welcher "moralischen" Grundlage Menschen gewöhnlich handeln.


    Das Großartige an dem Buch ist, dass Kerim trotz seines oft haarsträubenden Verhaltens nie unsympathisch wirkt. Das gelingt durch die klare und lapidare Erzählweise Fatahs, der die Lesenden mit Kerim in gewisse Situationen führt, in denen für lange Reflexion meist keine Zeit bleibt. Die Verfehlungen werden aus dem Bauch heraus begangen und später nicht einmal verdrängt, sondern durchaus als Verfehlungen akzeptiert. Weder Figur noch Leser sehen eine wirkliche Alternative zu diesem Handeln. Fatah gelingt auf diese Weise der Entwurf eines unglaublich memorablen Charakters.


    Gerade deshalb überzeugt mich das Ende des Buches nicht, das sich von seiner Hauptfigur passagenweise entfernt und hier oft hölzern und unbeholfen wirkt. Allerdings sehe ich die Schwierigkeit, in die der Handlungsverlauf eine so spontan angelegte Figur bei diesem Ende führen muss. So halte ich den fünften Teil des Buches zwar nicht für glücklich, aber immerhin für konsequent. Und da ich hier nicht alles verraten kann, gilt: selber lesen.


    Ohne die Konkurrenz schon gelesen zu haben, wünsche ich Sherko Fatah das Vorrücken auf die Shortlist am 17. September.


    *

  • Ein Prolog wie ein Schlag ins Gesicht, ein Lebensweg wie über Geröll: Das sind die beiden fast körperlich spürbaren Charakteristika dieses Buches. „Das dunkle Schiff“ enthält die Geschichte des jungen Kerim im Grenzland zwischen Irak, Iran und der Türkei.


    Mit Beginn des Irak-Krieges steht Kerims Familie plötzlich den Panzern der Amerikaner gegenüber. Während Saddam herrscht und ausländische Soldaten patroullieren, haben sich im grenznahen Bergland bereits Gotteskrieger formiert.


    Sherko Fatah greift mit diesem Titel eine Reihe hochaktueller Fragen auf: Wie wird man eigentlich Attentäter, Kofferbomber, Gotteskrieger? An welchem Punkt seines Lebens entscheidet ein junger Mann, zur anderen Seite überzulaufen? Und: Wer definiert, welches ‚die andere Seite’ ist? Auch Kerim schließt sich den Gotteskriegern an. Er ist jedoch kein Mann, der steuert, er hält lediglich mühsam Schritt. Die baldige Flucht von der Gruppe zwingt ihn trotzdem zum Verlassen seines Heimatlandes. Doch selbst in Deutschland - fern der irakischen Bergmassive - holt Kerim die Vergangenheit wieder und wieder ein.


    Der Autor verbindet in diesem Roman gekonnt seine irakischen Wurzeln mit seinen europäischen Erfahrungen, um ein sozialkritisches Thema mit weltweiter Relevanz aufzugreifen. Stark auffällig dabei ist der Wechsel zum zweiten Teil des Buches, der Kerims Leben in Deutschland umfasst. Hier verändert sich der Schreibstil - es ist offensichtlich, dass der Autor wie der Protagonist nun vor anderen kulturellen Hintergründen agieren.


    Das Faszinierende an Kerims Weg ist das Gewöhnliche, was ihn in ungewöhnliche Situationen führt. In klaren Sätzen beschreibt der Autor die Lebensschnitte eines jungen Mannes, der in den Wirren des Krieges auf der Suche nach Halt und Anerkennung auf die andere Seite gerät. Dieses Buch lässt einen Blick erhaschen auf die Hintergründe des Extremismus, seine Verführung und seine Macht. Dass Extremismus kein reines Gedankengut ist, sondern unter realen Lebensbedingungen seinen Aufschwung erfährt, wird dem Leser durch Fatahs Zeilen nachdrücklich bewusst.


    Dabei schwingt bis in die letzten Kapitel eine leise Ahnung mit: Es hätte auch ganz anders kommen können. Nicht alle Gotteskrieger entscheiden sich zur Flucht…


    Meine Quintessenz sind diese zwei Wörter: 'hochaktuell' und 'empfehlenswert'!


    GRÜSSE
    savanna

  • Kerim, ein junger Iraker, wächst im kurdischen Teil auf. Sein Vater führt ein Gasthaus, Essen spielt eine zentrale Rolle im Leben des wohlbeleibten Kerim. Religion spielt in der Familie keine grosse Rolle.
    Kerim wird daheim zur Arbeit herangezogen; in der Schule fasziniert ihn vor allem das Fach "Englisch", weil er so Dinge "neu" benennen kann.
    Schon früh macht Kerim sich schuldig, als er eine folgenschwere Lüge begeht.
    Als sein Vater ermordet wird, ändert sich Kerims Leben.
    Auf dem Weg zu Verwandten wird Kerim von "Gotteskriegern" entführt. Dort lernt er den charismatischen Führer der islamistischen Gruppe kennen.
    Doch er muss fliehen - warum, wird eindrucksvoll am Ende des Buches erklärt.
    Er flieht nach Deutschland, wo er erst in einen Heim, dann zu seinem Onkel zieht. Er verliebt sich in eine deutsche Frau und doch lebt er irgendwie haltlos.


    Kerim ist Opfer und Täter zugleich, Sherko Fatah erklärt und verurteilt nicht - er schreibt eher etwas distanziert.
    So kann der Leser selber urteilen - die Frage, was zur Radikalisierung führt, kann man sich nach der Lektüre des Romans stellen.
    Mir hat vor allem das erste und das letzte Drittel gefallen. Das Ende ist eindrucksvoll geschrieben.
    Die Landschaftsbeschreibungenl und auch die Beschreibung des charismatischen Führers der radikalen Gruppe haben mir gut gefallen.

    Jeder trägt die Vergangenheit in sich eingeschlossen wie die Seiten eines Buches, das er auswendig kennt und von dem seine Freunde nur den Titel lesen können.
    Virginia Woolf

  • Titel: Das dunkle Schiff
    Autor: Sherko Fatah
    Verlag: btb
    Erschienen: Januar 2010
    Seitenzahl: 440
    ISBN-10: 3442739071
    ISBN-13: 978-3442739073
    Preis: 10.00 EUR


    Darum geht es in diesem Buch:
    Kerim, von Beruf Koch, macht sich aus dem irakischen Grenzland auf die beschwerliche und gefährliche Reise nach Europa. Er war unter Gotteskrieger geraten und mit ihnen durch das Land gezogen, bevor er sich entschied, vor ihrem Weg der Gewalt zu fliehen. Kerim versucht, in Deutschland ein neues Leben zu beginnen, und findet in dem fremden Land seine erste Liebe. Doch die Vergangenheit lässt sich nicht abschütteln. Seine Heimat fängt ihn wieder ein, als die Gotteskrieger ihn in Deutschland aufspüren und für seine Flucht bestrafen.


    Der Autor:
    Sherko Fatah, geboren 1964 in Berlin, aufgewachsen in der DDR, 1975 Übersiedlung nach West-Deutschland. Studium der Philosophie und Kunstgeschichte in Berlin. Auszeichnungen: 2001 mit dem aspekte-Literaturpreis und dem Deutschen Kritikerpreis.


    Meine Meinung:
    Das Buch von Sherko Fatah stand immerhin auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2008. Das setzt den Leser dann doch ein klein wenig in Erstaunen; denn eine wirklich Offenbarung bzw. eine wirklich literarische Meisterleistung ist dieses Buch ganz sicher nicht. Dazu ist es ganz einfach zu „steril“. Sherko Fatah erzählt nicht, er berichtet. Und indem er lediglich berichtet, schafft er es eben so gut wie nicht, seine handelnden Personen „wirklich leben“ zu lassen. Sie kommen leider ziemlich konturlos daher. Sherko Fatah hat sich mit dieser sehr interessanten Thematik übernommen, denn ansonsten würde seine Geschichte emotionaler sein und wäre nicht von dieser kühlen Künstlichkeit. Fatah schildert zwar die Schrecken des Irak-Krieges und die Lebenssituation der Menschen, aber wirklich nahe bringt er diese Lebensumstände dem Leser nicht. Alles leider nur kühl und sehr distanziert. Das Buch hat mich schon unbefriedigt zurück gelassen; aus dem Thema wäre sicher viel mehr zu machen gewesen. Und zu guter Letzt sei die Feststellung erlaubt, dass die Jury für den Deutschen Buchpreis eben auch nur aus Menschen besteht, die sich bezüglich ihrer Auswahl durchaus auch einmal irren können. Ein Buch aus der Kategorie "eher schwach".

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

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  • Zitat

    Original von Conor
    Kerim ist Opfer und Täter zugleich, Sherko Fatah erklärt und verurteilt nicht - er schreibt eher etwas distanziert.
    So kann der Leser selber urteilen - die Frage, was zur Radikalisierung führt, kann man sich nach der Lektüre des Romans stellen.


    Das ist eine perfekt Zusammenfassung fuer diesen Roman! Und ja, diese Frage kann zu guten Diskussionen fuehren. Wir haben das Buch in unserem Lesekreis gelesen, und da hat sich so einiges ergeben, worueber es sich in so einer Runde gut diskutieren laesst.


    Feur mich startete das Buch gleich mit einem genialen Prolog - ein Schlag ins Gesicht, wie es savanna schon sehr passend beschrieb. Der Schoenheit des kurdischen Landes und seiner Kultur wird eine Brutalitaet entgegengesetzt, die kaum grauenhafter und sinnloser sein koennte - und gleichzeitig zum Alltag fuer Kerim wird. Er ist hier der distanzierte Beobachter wie er der Leser beim Lesen dieses Buches sein wird.


    Diese fast schon emotionslose Distanz, die Voltaire hier eher kritisch sieht, find ich in diesem Fall aber durchaus angemessen. Sie erlaubt es uns eine sehr komplexe Situation zu betrachten, wo man gar nicht so einfach seine Gefuehle einer "guten" Seite zuwenden kann. Denn so einfach ist es gar nicht gut und boese zu unterscheiden. Es gibt einfach zu viele Grautoene.


    Kerim ist kein klarer Sympathietraeger, er ist Opfer und Taeter und oftmals einfach ein Feigling. Damit ist er wahrscheinlich nicht schlechter oder besser als der Durchschnittsleser. Ich frag mich an vielen Stellen, ob ich an seiner Stelle anders gehandelt haette, wuensche mir oft ich haette es anders machen koennen. Aber wenn ich ehrlich mit mir selber bin, weiss ich gar nicht ob ich wirklich diese innere Staerke besitze, die einem in solchen Ausnahmesituationen abverlangt wird.


    Ein Protagonist wie Kerim macht es mir nicht leicht, mich mit ihm zu identifizieren. Und doch zieht mich die Geschichte in ihren Bann. Es liest sich auch fluessig genug. Fast schon koennte man meinen es sei ein etwas zu einfacher und langweiliger Schreibstil. In der zweiten Haelfte wird es dann etwas interessanter, die chronologische Erzaehlung wird mit sehr passenden Rueckblenden unterbrochen.


    Das Ende ist letztlich in seiner Konsequenz das einzig passende.


    Fazit: Ein sehr nachdenklich stimmender Roman, der sich einer sehr schwierigen und komplexen Thematik annimmt, die keine einfachen Loesungen hat. Der eher distanzierte, fast emotionslose Schreibstil erlaubt es zum Alltag gewordenen Horror und Menschlichkeit aufzuzeigen, die es dem Leser nicht einfach machen Urteile zu faellen, dafuer umso mehr Stoff fuer Fragen und Diskussionen liefert.

    Gruss aus Calgary, Canada
    Beatrix


    "Well behaved women rarely make history" -- Laura Thatcher Ulrich