Das mohnrote Meer, Amitav Ghosh, Orig.titel „Sea of Poppies“, Übersetz. Barbara Heller und Rudolf Hermstein, Blessing, München, August 2008, ISBN 978-3-89667-359-6
Zum Autor: (lt. Klappentext)
Amitav Ghosh, 1956 in Kalkutta geboren, wuchs in Bangladesch, Sri Lanka und Nordindien auf. Er studierte Geschichte und Sozialanthropologie in Neu-Delhi und unterrichtet zur Zeit an der Harvard University. Heute leb er mit seiner Frau und seinen zwei Kindern in New York, verbringt jedoch jedes Jahr mehrere Monate in Kalkutta. Mit „Der Glaspalast“ (Blessing, 2000) gelang dem schon vielfach ausgezeichneten Autor weltweit der große Durchbruch, er wurde in zwanzig Sprachen übersetzt, und die Kritik war begeistert. Ghosh ist ein Pendler zwischen zwei Welten – und das lässt ihn sein Heimatland schärfer sehen.
Meine Meinung:
Amitav Ghoshs neues Epos „Das mohnrote Meer“ ist soziales Gesellschaftsdrama und spannender historischer Abenteuerroman in einem und zeigt die großen erzählerischen Fähigkeiten, über die sein Autor verfügt.
Indien, 1838: Die Menschen am Oberlauf des Ganges, ob reich, ob arm, arbeiten und leben für die britische Opiumindustrie, die in die Krise gerät, nachdem China den Opiumhandel unterbinden will. Auf der Ibis, einem ehemaligen Sklavenschiff, trifft eine Gruppe von Flüchtlingen zusammen, die gemeinsam haben, alles verloren oder nichts zu verlieren zu haben. Die Gründe ihrer Flucht sind unterschiedlich. Da ist der als Urkundenfälscher verurteilte Raja von Rashkali, da ist die junge Witwe Diti, die von Kalua vor dem Verbrennen auf dem Scheiterhaufen geretet wurde und ihre Tochter auf der Flucht zurücklassen musste, da ist Paulette Lambert, Waise eines französischen Wissenschaftlers, die Zudringlichkeiten ihres Pflegevaters zur Flucht zwangen, da ist Jodu, ein junger Laskare, der mit ihr aufgewachsen ist, da ist der opiumabhängige strafgefangene Mischling Leong Fatt, und noch einige mehr. Sie alle werden in einer Schicksalsgemeinschaft mit den Seeleuten der Ibis verbunden. Für einige bedeutet die Ibis Hoffnung auf eine Zukunft, einige soll die Ibis in eine Strafkolonie bringen, für andere ist die Ibis eine Endstation, für alle bedeutet sie aber Ungewissheit.
Amitav Ghosh gelingt es authentisch Unterdrückung und Kolonialismus, das Aufeinanderprallen von Kulturen und die damit verbundenen menschlichen Emotionen vor den Augen seiner Leser lebendig werden zu lassen. Obwohl sein Roman „Das mohnrote Meer“ im Wesentlichen die individuellen Geschichten der Flüchtlinge erzählt, werden deren Schicksale miteinander verknüpft und mit der Reise auf dem Schiff ein bis zum Ende langsam steigender Spannungsbogen entwickelt.
Auch wenn Amitav Ghoshs Erzählstil manchmal märchenhaft anmutet, wirken die geschilderten sozialen Probleme greifbar und nah. Trotz der ernsten Themen, die der Autor behandelt, erreicht Ghosh mit zahlreichen humorvollen Szenen und Figuren und mit der Menschlichkeit vieler Figuren, daß der Roman „Das mohnrote Meer“ zwar tragisch, teilweise auch bedrückend, aber niemals unerträglich erscheint. Amitav Ghoshs Sprache und Erzählstil sind ein Genuss, dennoch ist sein Roman mit einer Vielzahl indischer Begrifflichkeiten und dem gebrochenen Reden einiger Figuren nicht leicht zu lesen.
„Das mohnrote Meer“ ist ein lohnender unterhaltender, spannender und literarischer Ausflug ins Indien der Kolonialzeit, Amitav Ghoshs Erzählstil ist nicht beschönigend, nicht romantisierend, fasziniert aber über die Authentizität, die er bewirkt.
8 von 10 Punkten