Hallo Eulen,
heute nach langer Zeit mal wieder eine Buchvorstellung von mir:
Tja, wie könnte man den Inhalt am besten beschreiben? Schwierig! Ein Roman im bekannten Sinne ist es nicht, eine Sammlung von Geschichten auch nicht. Es ist ein Kompendium über die fiktive Stadt Ambra und beinhaltet unter anderem mehrere Erzählungen, eine Studie zur Geschichte der Stadt, Protokolle und Gutachten aus einer psychiatrischen Anstalt, eine Familienchronik, Tagebuchaufzeichnungen und ein gigantisches Sammelsurium von Informationen und Querverweisen im Glossar und der Bibliografie.
Vorgestellt werden mehrere Personen und Persönlichkeiten, etwa der junge Dradin, der sich in eine schöne Unbekannte verliebt, oder die Hoegbottons, die zu den einflussreichsten Familien der Stadt gehören. Auch "Hoegbottons Führer zur Vor- und Frühgeschichte der Stadt Ambra" fehlt nicht. Akribisch wird darin geschildert, wie der Pirat Katten John einst die Ureinwohner der Stadt, die pilzähnlichen "Grauhüte", besiegte (naja, "besiegen" ist nicht ganz das richtige Wort, aber das sollte man selbst lesen). Und da wäre auch der Maler Martin See, der eines Tages eine "Einladung zu einer Enthauptung" erhält und sie tatsächlich annimmt, nicht ahnend, was das für sein künstlerisches Schaffen bedeutet (nein, es ist nicht seine eigene Enthauptung, so billig lässt VanderMeer seine Leser nicht davonkommen). Eine wichtige Rolle spielen auch die Königskalmare aus dem Mott-Fluss, denen eine ganze Abhandlung mit Bildmaterial gewidmet ist.
Klingt seltsam? Ist es auch! Wahn und Wirklichkeit, Fiktion und Realität überschneiden sich immer wieder, jeder Text kann die vorherigen Geschichten in ein völlig neues Licht setzen. Manche davon entpuppen sich beispielsweise als fiktive Werke, die der Vorstellung eines Wahnsinnigen entsprungen sind. Dieser ist der Meinung ist, die Stadt Ambra (in der er selbst lebt) sei seine Erfindung. Und in dem ganzen Sammelsurium ist schließlich auch noch die Geschichte der Grauhüte eingebettet, die Ambra zurückerobern wollen. Dieser Handlungsstrang ist vor allem in Nebensätzen und Fußnoten präsent, wird angedeutet als Ahnung einiger weniger Bewohner, deren Warnungen als Verschwörungstheorien abgetan werden.
Mein Eindruck:
Das Buch ist wie eine verstaubte, verwinkelte Bibliothek voller erstaunlicher Schätze, in denen man als Leser stöbert, auch mal schwere Kisten vom Schrank wuchten muss, dann aber als Belohnung sehr ungewöhnliche Dinge findet. Es zu lesen ist anstrengend und stellenweise sperrig, man muss sich an einigen Stellen durchbeißen, sich auf verschiedene Typographien und Schreibstile einlassen, die von literarischer, metaphernreicher Erzählung bis zum trockenen Protokoll einer psychiatrischen Sitzung reichen. Aber man wird mit einer großartig ausgearbeiteten Phantastik-Stadt belohnt, die sich Geschichte für Geschichte und Fragment für Fragment vor dem geistigen Auge zusammensetzt.
Begeistert hat mich unter anderem die düstere Stimmung, die oft beklemmende Atmosphäre, der Humor, die geradezu irrsinnige Detailverliebtheit in den Fußnoten und dem Glossar. Die Geschichten sind abgefahren, beängstigend, alptraumhaft, skurril, witzig und an manchen Stellen - ja - auch schwülstig oder staubtrocken.
Fazit:
Definitiv das ungewöhnlichste Phantastik-Buch, das ich seit langem gelesen habe, sperrig und unbequem, aber einfach genial. Kein Buch zum entspannten Lesen, sondern eins zum Forschen und Finden! Für mich 10 von 10 Punkten!
Liebe Grüße
Nina