Kontrapunkt – Anna Enquist

  • Luchterhand Verlag, 2008, Gebundenes Buch, 224 Seiten
    ISBN: 978-3-630-87282-7


    Originaltitel: Contrapunt
    Aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers


    Handlung:
    Hörte sie nicht den Schmerz in dieser schlichten Melodie?
    Eine Mutter will die Erinnerung an ihre tragisch verstorbene Tochter lebendig erhalten. Sie stemmt sich gegen die verstreichende Zeit – und verzweifelt fast daran. Erst als sie, die ausgebildete Pianistin, wieder beginnt, Bachs Goldberg-Variationen am Klavier einzustudieren, erkennt sie, dass ihr die intensive Auseinandersetzung mit der Musik eine Brücke zu ihrer Tochter sein kann.
    Nichts ist schmerzlicher als der Verlust eines geliebten Menschen. Und nichts ist schrecklicher als das allmähliche Verblassen der Erinnerung an ihn. Nach dem tragischen Tod ihrer Tochter will sich die Mutter nicht damit abfinden, dass ihr die verstreichende Zeit die Erinnerungen nimmt oder verfälscht, dass sie mit der Vergangenheit abschließen und in die Zukunft blicken soll. Nein, sie will die Vergangenheit, in allen Einzelheiten will sie ihre geliebte Tochter sehen, lebendig, als Baby, als Mädchen, als junge Frau.
    Dann nimmt sie sich zum ersten Mal seit ihrer Zeit am Konservatorium die Goldberg-Variationen von Bach wieder vor, kauft Partituren, schreibt Fingersätze, beschäftigt sich mit Bachs Leben. Spielt und interpretiert. Dreißig Variationen, eine Aria am Anfang und am Schluss. Und das Wunder geschieht: Die Harmonie, die Vielstimmigkeit, die verschiedenen Formen und Klänge von Bachs Musik evozieren und begleiten Szenen aus dem Leben mit ihrer Tochter, von der Geburt bis zum Studienabschlussfest, Familienferien zu viert mit Mann und Sohn, Meinungsverschiedenheiten und Augenblicke größter Nähe. Selten wurden bisher so intensiv und klar Leben und Musik in eins gesetzt, und selten berührte ein Buch so tief.


    Zur Autorin:
    Anna Enquist wurde 1945 in Amsterdam geboren, ist ausgebildete Konzertpianistin und arbeitete lange Jahre als Psychoanalytikerin. Seit 1991 veröffentlicht sie Gedichte, Romane und Erzählungen, wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet und in fünfzehn Sprachen übersetzt. Inzwischen widmet sich Anna Enquist nur noch dem Schreiben; sie lebt in Amsterdam.


    Rezension:
    Mit ihrem Erfolgsroman Letzte Reise hatte Anna Enquist einen der besten historischen Romane, die nicht aus dem Genre des rein unterhaltenden historischen Romans stammt, vorgelegt und damit auch den Maßstab für ihren Folgeroman hoch angesetzt.
    Es ist nicht verwunderlich, dass Kontrapunkt ein leiser, ruhiger Roman geworden ist, der anders ist und eine weniger komplexe Geschichte erzählt als die Story um James Cooks Ehefrau.


    Stilistisch sind die gleichen Stärken da, die voll zur Geltung kommen und es steht wieder eine Frau mittleren Alters im Mittelpunkt. Ihr Name wird nicht verraten. „Sie wird Frau genannt, vielleicht auch Mutter. Es gab Probleme mit der Benennung." Die Geschichte dreht sich um ihre Gedankenwelt, in der Musik, speziell die Aria aus Bachs Goldbergvarianten, die sie einüben will und auch das ist nur vordergründig, da dahinter die Erinnerung an ihre verstorbene Tochter steckt. Das Thema Musik wird gründlich und mit Tiefgang angegangen, schließlich ist die Autorin selbst eine ausgebildete Konzertpianistin. Wer sich überhaupt nicht für die Welt der Musik interessiert, wird es schwer haben. Aber wie gesagt, es gibt mehrere Schichten.


    Trotz dieses kleinen Rahmen wird eine große Welt eingefangen mit den Themen Zeit, Erinnerungen und mit der Wahrnehmung.


    Im folgendem wechseln Rückblicke über das vergangene Familienleben mit der Tochter und Kapitel voller Musiktheorie, in der es viel interessantes zu entdecken gibt.
    In den Rückblicken werden die Stationen des Lebens der Tochter gestreift. Von Geburt, Kinder- und Teenagerzeit bis zum Erwachsenenleben, jedoch wird das adäquat zu Erinnerungsflüssen nicht linear erzählt.
    Tatsächlich wird auch die Geschichte Bachs ein wenig erzählt und so abermals ein historischer Rahmen gebildet, mit der sich die Frau identifiziert. Bachs Trauer um seine erste, geliebte Frau, seine Heirat mit einer zweiten, viel jüngeren Frau, seine Arbeit beim Komponieren, z.B. der Goldbergvarianten und sogar sein Tod, werden beschrieben. Das Buch verführt schnell zum Hören von Bach, da es ein so gutes Musikerportrait bietet.
    Diese Affinität gilt auch für den Abschnitt, der Reflexionen der Frau über Glenn Gould wiedergibt. Der Pianist, dessen ungewöhnliche Einspielungen der Goldbergvarianten so bekannt und bedeutend wurden und der doch relativ jung starb.


    Anna Enquist reichen wenige Sätze von großer Genauigkeit, um eine Tiefe zu erreichen, bei der sich der Schmerz der Frau deutlich spürbar aber ohne große Sentimentalität auf den Leser überträgt.


    Viele Sätze möchte man sich aus dem Buch notieren, um ihre große Wahrhaftigkeit zu unterstreichen. Ein unglaublich reiches Buch.

  • Hört sich sehr interessant an - ich werde es dann mal auf dem Weihnachtswunschzettel notieren, allerdings ist da nicht mehr sehr viel Platz.

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Das klingt in der Tat interessant, vor allem das Einbinden der Musik. Allerdings geht es mir ähnlich wie Voltaire: mein Wunschzettel ist schon ziemlich lang. Macht aber nichts, dann müssen die anderen Titel eben etwas zusammenrücken, damit dieses Buch auch noch drauf Platz hat.

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")