Die Fremde im Garten - Marjaleena Lembcke (ab 12 J.)

  • Marjaleena Lembcke gehört zu den ganz besonderen Autorinnen von deutschsprachigen Jugendbüchern. 1945 in Finnland geboren, seit 1967 in Deutschland lebend, schreibt sie auf Deutsch Geschichten, die meist in Finnland spielen. Sie erzählt geradlinig, ihre Sprache ist spröde und sanft zugleich und entwickelt eine ganz eigene Poesie. Ihre Geschichten zu lesen, ist, wie wenn man in einen klaren Bach schaut, der über Kiesel fließt. Die Steine sind Steine, hart und unnachgiebig, aber das Wasser macht ihre Konturen weicher und bricht das einfallende Sonnenlicht so, daß man sie nicht nur grau, sondern vielfarbig sieht, mit ihren silbernen und golden Einsprengseln.


    Sommer in einer Kleinstadt in Finnland, im Jahr 1958. Hillevi ist zwölf. Sie ist ein Einzelkind, ein Spätankömmling. Ihre Eltern sind nicht mehr jung und ein wenig überfürsorglich. Aber sie sind liebvoll und lassen Hillevi viele Freiheiten.
    Ihre Freizeit verbringt Hillevi oft im Garten eines verlassenen Hauses, in den sie de facto eingebrochen ist. Sie liest dort, aber noch häufiger träumt sie und denkt sich fantastische Geschichten über erfundene Personen aus. Manchmal denkt sie auch an Pasi, ihren Klassenkameraden, oder an Tuomo, den flotten Bruder ihre Freundin Sonja. Aber das ist nichts Ernstes und schon gar keine Liebe, noch ist Hillevi ein Kind.
    Sitzt sie nicht Garten, besucht sie Onkel Topi, der immer lustig ist und so gut Akkordeon spielt, und Tante Saara, die immer mürrisch ist.


    In diesem Sommer aber verändert sich alles, denn eines Tages ist das Haus, zu dem der Garten gehört, wieder bewohnt. Ein fremde Frau schaut aus dem Fenster.
    Die Fremde, so erfährt Hillevi kurz darauf von ihren Eltern, ist Viola, die Besitzerin des Hauses. Sie war, heißt es, lange Jahre in einer Nervenheilanstalt. Mehr wollen die Eltern nicht sagen.
    Dann fängt auch noch Tante Saara an, sich merkwürdig zu benehmen. Sie erzählt mitten beim Essen und ohne Vorwarnung, von monatlichen Blutungen bei Frauen. Hillevi ist komplett durcheinander. Ihr Garten ist weg und nun so etwas Schreckliches. Von da an trägt sie, wenn sie aus dem Haus geht, nur noch ihre langen roten Hosen. Es könnte ja etwas passieren, jeden Tag. Tante Saara hat’s gesagt.
    Die Jugendfreizeit, auf die Hillevi sich gefreut hat, verliert jeden Reiz. Und Sonja, die beste Freundin, verliebt sich dort in Mats, den Koch. Obwohl der mit der Leiterin verbandelt ist. Tuomo scheint sich für Hillevi zu interessieren. Das Leben wird kompliziert.


    In diesem emotionalen Durcheinander lernt Hillevi Viola kennen, sie erledigt Einkäufe für sie. Viola spricht nicht viel und was sie sagt, bleibt immer ein wenig rätselhaft. Viola bringt Hillevi zum Zeichnen und Malen. In ihren knappen Gesprächen und mit dem einen oder anderen Hinweis von Seiten der Eltern erfährt Hillevi Violas Lebensgeschichte, die eigentlich eine unglaubliche Liebesgeschichte ist.
    Am Ende hat Viola ihr Haus entrümpelt. Sie hat sich, im Wortsinn, von der Vergangenheit gelöst. Sie verläßt die Stadt für immer. Hillevi dagegen hat die Kindheit endgültig verlassen. Vor ihr liegt ihr eigenes Leben. Vielleicht mit Pasi, eines Tages. Wir schreiben nun das Jahr 1960. Ins das Haus ziehen fremde Menschen, vom Garten bleibt Hillevi ein gesticktes Bild, das Viola angefertigt hat, in einer Zeit, als es ihr ‚sehr schlecht ging’.


    Dieses Buch ist nichts weniger als die Beschreibung von der Vertreibung aus dem Paradies. Aber Marjaleena Lembcke wäre eben nicht Marjaleena Lembcke, beließe sie es dabei. Wer aus dem Paradies vertreiben wird, verliert die Unschuld, gewinnt aber auch etwas, sagte sie, Liebe nämlich, den größten Schatz. Doch das ist zugleich ein gefährlicher Schatz, denn Liebe steht eng zusammen mit Enttäuschung und Verrat. Auch der höchste Einsatz - Viola bringt ihn - ist kein Garant für den Gewinn am Ende. Zugleich beweist Viola, daß man den höchsten Einsatz wagen muß. Daß man aus Liebe falsch handeln kann, muß auch Hillevi erfahren, einmal bestiehlt sie Viola. Hat man das Paradies hinter sich gelassen, lauern die Gefahren von allen Seiten.
    Der mit knapp 140 Seiten sehr kurze Roman ist so gut aufgebaut, das Grundthema nahezu perfekt durchgearbeitet und in einer beträchtlichen Zahl von Variationen gespiegelt, daß er eigentlich zur Literatur gezählt werden muß. Sprachlich ist er sehr knapp gehalten, die Rätsel, vor die das Leben die Protagonistin stellt, werden nicht alle gelöst. Manches erschließt sich, manches bleibt unausgesprochen zwischen den Zeilen, anderes wird man nie erfahren. Die Autorin läßt den LeserInnen viel Raum, zum Denken wie zum Träumen.


    Zugleich ist das ein ganz ausgezeichnetes Buch über Familienbeziehungen, über die körperlichen Veränderungen in der Pubertät und eben die Liebe. Der ängstlich-neugierige Blick Heranwachsender auf die Welt der Erwachsenen, die da draußen gleichermaßen wartet und lauert, ist vollendet getroffen. Eingefangen ist auch die Atmosphäre der Zeit, in knappen Rückblicken auf die Vergangenheit Finnlands und die sozialen Verhältnisse, in winzigen Hinweisen auf die Politik der späten Fünfziger und die kleinen Veränderungen im Alltag, die z.B. das Fernsehen mit sich bringt. Die Personen sind lebendig, jede und jeder ist für sich genommen etwas Besonderes. Die Dialoge sind oft voll Witz, es gibt einiges an Alltagskomik.


    Das Schönste an diesem Buch ist, neben der rundum gelungen Ich-Erzählerin Hillevi, wie es der Autorin gelingt, ihre Worte von Düften durchwehen zu lassen. Die Blumen des Gartens in voller Sommerpracht, die Kiefern und das Meer, die Gewürze, aber auch Salzfisch und Leder im Laden von Hillevis Eltern, all das strömt einem beim Lesen entgegen und läßt das Buch unvergeßlich werden.


    Herausragende Lektüre.

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Ein Buch von ihr ist in der SZ-Jugendbuch-Reihe und wurde hier schon vorgestellt.
    Ich verlinke noch mal extra, weil der automatische Link beim amazon-Link eventuell übersehen werden kann.


    Hier


    Ihre Bücher sind alle toll, das hier, Die Fremde im Garten, ist allerdings grandios.


    Immer wieder anziehend finde ich auch, daß sie in Finnland spielen. Man weiß eigentlich so wenig von diesem Land. Und Lembckes Geschichten schildern den ganz normalen Alltag. Sie macht auch neugierig auf dieses andere und sehr ferne Land. Es gibt Bücher, da werden auch finnische Liedtexte oder Grußformeln eingestreut, Original. Die Übersetzung kommt erst hinterher.


    Wenn man ein Weilchen liest, merkt man, daß der Blick auf die Welt und die Menschen sich von dem unseren unterscheidet.
    Bei allen Problemen, die beschrieben werden, sind es sehr warmherzige Bücher.
    Es ist aber keine Kuschelwelt, wohlbemerkt.


    Lembcke wurde, glaube ich, letztes Jahr, für den deutsche Jugendbuchpreis nominiert, den Österreichischen Staatspreis für Kinder - und Jugendliteratur hat sie 2005 bekommen. Sie steht auch seit den späten 90ern (ihr erste Buch ist 1993 erschienen) auf zig Ehrenlisten.


    Was immer das aussagt. :grin
    Ich halte die Bücher für echte Schätze.



    :wave


    magali

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Ich habe bei Amazon noch ein anderes von ihr entdeckt, das mich inhaltlich eigentlich interessiert. Allerdings heißt die Protagonistin AULICKA und ich weiß wirklich nicht, ob ich diesen fürchterbaren Namen ein ganzes Buch lang ertragen kann. Ich gebs ja zu, ich mag viele der nordischen Namen einfach nicht. Das Okka-Leverentz-Syndrom... :lache

    Lieben Gruß,


    Batcat


    Ein Buch ist wie ein Garten, den man in der Tasche trägt (aus Arabien)

  • Aulikki, wie Aulikki Rautawaara, die Sopranistin, die so wunderbar Sibelius singen konnte.
    Sehr finnisch, zugegeben.



    Das Buch ist übrigens kein Jugendbuch. und wenn's hundertmal auf der Liste des deutschen Jugendbuchpreises letztes Jahr stand.
    Es fällt mir nicht leicht, 'Liebeslinien' zu beschreiben, der Roman geht tief.


    Wenn ich die Worte finde, schreibe ich etwas dazu, wahrscheinlich unter 'Zeitgenössisches'.




    :wave


    magali

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • *OT an*


    @ magali
    Ich weiß, daß ist jetzt gar sehr OT, aber dennoch:
    Aulikki Rautawaara schreibt sich ja bis auf einen einzigen Buchstaben Unterschied im Familiennamen wie Einojuhani Rautavaara, der lt. Wikipedia bei einer Tante aufwuchs; altersmäßig würde das passen. Weißt du zufällig, ob die beiden verwandt sind? (Der eine Buchstabe Unterschied könnte ja auch die die Übersetzung bedingt sein.) Von dem Komponisten Einojuhani Rautavaara habe ich nämlich (bisher) zwei wunderschöne CD-Aufnahmen. Und nach Aufnahmen der Sopranistin gehe ich suchen, denn Sibelius mag ich sehr.


    *OT aus*



    Edit. "ich" durch das eigentlich hingehörende "ist" ersetzt.

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")

    Dieser Beitrag wurde bereits 1 Mal editiert, zuletzt von SiCollier ()

  • Guck an, Lembcke zieht.
    :grin



    SiCollier und kräftig OT


    Die beiden Nachnamen schreiben sich wirklich einmal mit 'w' (Aulikki) und einmal mit 'v' (Einojuhani). Also nicht verwandt.
    Auf youtube kann man Rautawaara hören.



    :wave


    magali

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Zitat

    Original von magali
    Guck an, Lembcke zieht.
    :grin


    Ja, in der Tat.
    Erst mal vielen Dank für Deine Antwort, auf Grund der ich mir die Rezi (?! ;-) ) nochmals in Ruhe durchgelesen - und das Buch umgehend in einen Warenkorb befördert habe. Jetzt brauche ich nur noch die Zeit, all die Bücher zu lesen, die ich in den letzten Tagen als "unbedingt sofort zu lesen" eingestuft habe. :rolleyes

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")

  • SiCollier


    muß mich berichtigen, was das OT betrifft.
    Die beiden sind Cousin und Cousine, lt. Historical Dictionary
    of the Music and Musicians of Finland, 1997, S. 333.


    Und da sag noch eine/r, daß die Eulen nicht bilden.
    :lache



    :wave


    magali

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Zitat

    Immer wieder anziehend finde ich auch, daß sie in Finnland spielen. Man weiß eigentlich so wenig von diesem Land. Und Lembckes Geschichten schildern den ganz normalen Alltag. Sie macht auch neugierig auf dieses andere und sehr ferne Land. Es gibt Bücher, da werden auch finnische Liedtexte oder Grußformeln eingestreut, Original. Die Übersetzung kommt erst hinterher.


    Das klingt - für mich - traumhaft.
    Überhaupt suche ich ja meistens nur nach Fantasy oder historischen Büchern und da wäre diese Autorin ohne die Eulen mal wieder glatt komplett an mir vorbei gegangen.
    :anbet
    Ich hab das Buch jetzt auf der Wuli und bin wirklich sehr gespannt. :-)

  • Oh, das klingt alles toll und kommt deshalb gleich auf meine Wunschliste.
    Finnland fasziniert mich und die Geschichte ist genau das, wonach ich schon seit längerer Zeit gesucht hab. Danke für die Rezension und das Aufmerksammachen auf eine Autorin, auf die ich sonst sicher nicht so schnell gestoßen wäre.

    Nur eines ist vergnüglicher als abends im Bett, vor dem Einschlafen, noch ein Buch zu lesen - und das ist morgens, statt aufzustehen, noch ein Stündchen im Bett zu lesen.
    - Rose Macaulay -