Ich stelle diesen Versuch einer Rezi unter "Zeitgenössisches"; es fällt mir schwer, dieses Buch eindeutig einem Genre einzuordnen: Sachbuch? Essay? Autobiografie? Roman? Von allem etwas oder doch etwas ganz anderes?
Frau Berkéwicz selbst hat sich laut Spiegel online dagegen verwahrt, es als Schlüsselroman oder autobiographischen Essay über den Tod ihres Mannes, des Suhrkamp-Leiters Siegfried Unseld zu lesen - obwohl diese Assozation sehr nahe liegt.
Inhalt:
(dem Buch entnommen)
"Die Liebes- und die Todestage lagen vor uns. Das ist bald lange her."
Wir wissen, dass wir sterben müssen. Wie aber leben wir mit dem Todesgedanken? Wie leben wir mit dem Tod des Lebensmenschen, wenn alles anfängt, ohne ihn zu sein?
"Wenn ich durch Gedankenfluchten eindringe in Vergangenheitsräume, Herzkammern, in denen das Gewesene, das Verschmerzte wie das Unverschmerzte, überdauert, fortfährt, nie vergeht, wenn das Erinnern sich ereignet, das Innewerden, Innesein, weiß ich doch nicht, was in Vergessenheit wie in Verschollenheit geraten ist."
Weicht man der Angst, der Erfahrung des Verlusts, des Verlassenseins nicht aus, begegnet man dem Unverschmerzten auf Erinnerungswegen, öffnet sich das, was nicht mehr ist, auf das hin, was bleibt und bleiben wird.
Überlebnis ist ein Buch, das die Trauer durchquert, subjektiv und radikal.
Die Autorin:
(dito)
Ulla Berkéwicz lebt in Frankfurt am Main. Sie ist Schriftstellerin und seit 2003 Verlegerin des Suhrkamp Verlags. 1982 erschien ihr erstes Buch Josef stirbt im Suhrkamp Verlag, zuletzt erschien Ich weiß, daß du weißt (1999) und Vielleicht werden wir ja verrückt (2002).
Mehr über Ulla Berkéwicz im entsprechenden Wiki-Artikel.
Meine Meinung:
"Ich habe kürzlich 'Überlebnis' gelesen", hieß es im April während eines Telefonates.
"Und - wie ist es?" kam meine prompte Gegenfrage. "Ich habe die Rezension in der 'Zeit' gelesen."
"Es ist..." Kurze Pause. "Ich glaube nicht, dass man dieses Buch rezensieren kann. Man kann es nur lesen. Es ist etwas sehr Eigenes."
Es war dieser bestimmte Tonfall meiner Gesprächspartnerin, der mich dazu bewog, mir dieses Buch zuzulegen - wenn sie über ein Buch spricht und SO dabei klingt, weiß ich, das Buch ist etwas für mich.
Trotzdem schlich ich darum herum, seit es auf meinem SUB lag. Ich traute mich nicht so recht, hatte fast ein bisschen Angst. Ein post im Eulennest (@ Herr Palomar ) war der kleine Schubs, den ich brauchte.
Okay, JETZT. Bald.
Ich habe das Buch vor einer Woche gelesen und musste es erst einmal sacken lassen.
Ich gebe meiner Gesprächspartnerin vollkommen Recht: Man kann dieses Buch nicht rezensieren. Zumindest sehe ich mich nicht in der Lage dazu.
Nur dazu, ein paar meiner Eindrücke, die mir ungeheuer ungreifbar erscheinen, hier niederzuschreiben - oder es zumindest zu versuchen.
Der Mann ist tot. Die Ich-Erzählerin, die Überlebende, hält Rückschau. Auf ihre ersten Begegnungen mit dem Tod, als Kind, das Zeuge wird, wie Tiere sterben. Wie das Sterben des Mannes beginnt, wie er stirbt, im Krankenhaus, in ihrem gemeinsamen Zuhause. Was sie fühlt und denkt, wie sie darauf reagiert. Eingeflochten sind ihre Erlebnisse mit dem Tod eines guten Freundes, einer älteren Verwandten. Sperrig dazwischen, kursiv und eingerückt gesetzt, Passagen mit mystischen Anklängen, in denen ich etwas Jüdisches darin gefunden habe, Christliches, manchmal etwas aus dem antiken Theater und vieles, das ich nicht zuordnen konnte. Weil Leben, Sterben und Tod so allgemeingültig sind?
Ich konnte das Buch trotz seines geringen Umfangs (138 Seiten und eine halbe) nicht am Stück lesen, manchmal nicht einmal ein Kapitel zu Ende. Weil's mir so naheging und mich getroffen hat.
Was mich störte und wütend machte: die schwarz-weiße Darstellung der Zeit im Krankenhaus, buchstäblich. Hier die guten, hilflosen Sterbenden, ihre Angehörigen und die mütterlich-energische, geerdete schwarze Putzfrau mit ihrem gebrochenen Deutsch; dort die bösen, unverständigen, kalten, geradezu faschistoiden Ärzte und Krankenschwestern. Obwohl ich weiß, wie es sich anfühlt, Angehöriger zu sein, so hilflos vor dem Unabwendbaren, dem Nichts-mehr-tun-können; wie es sein kann, das Pflegepersonal, das ebenfalls einfach nichts mehr tun kann, als abweisend und "böse" zu empfinden. Aber ich bin eng mit einer Krankenschwester befreundet, die diesen Beruf mit Leib und Seele ausübt, und ich weiß, dass sie sich sehr um ihre Sterbenden kümmert und sehr mitfühlt. Das waren die Stellen, in denen ich das Buch am liebsten voller Wut über diese ungerechte Darstellung in die Ecke gepfeffert hätte.
Aber dieses Buch erhebt auch keinerlei Anspruch, objektiv zu sein. Es ist durch und durch subjektiv - es beschreibt, was die Ich-Erzählerin sieht, hört, subjektiv erlebt - mag es auch aus objektiver Sicht noch so verzerrt erschienen; was sie denkt und fühlt.
Das ist schonungslos und drastisch, bis an die Grenze des (für mich) Erträglichen. Pathetisch manchmal, zärtlich sehr oft, und es hat mich tief bewegt. Denn eines ist es nie: sentimental, nie platt, nie hohl.
Ulla Berkéwicz schafft etwas Erstaunliches: das Sterben, das uns zum Verstummen bringt, in Worte zu kleiden. Der Trauer Ausdruck zu verleihen.
In einer Sprache, von der mir kein einziger Satz im Gedächtnis haften geblieben ist, die flüchtig ist und zugleich Gewicht besitzt und vieles in mir zum Schwingen gebracht hat.
Ich kann das Buch niemandem empfehlen, und ich kann niemandem davon abraten. Bewerten kann ich es schon gleich gar nicht, noch einfach sagen, ob's mir gefallen hat oder nicht.
Nur: es zählt für mich persönlich zu den wichtigsten Büchern der letzten Jahre.
Und wenn's einen ruft, dann muss man es auch lesen.
Aber darauf vorbereitet sein, dass es einen keinesfalls kalt lassen wird.