Goodbye Lemon - Adam Davies

  • Verlag: Diogenes, Gebundene Ausgabe: 352 Seiten, 2008
    OT: Goodbye Lemon
    Aus dem Englischen von Hans M. Herzog


    Handlung:
    Ein kleiner Junge, der in einen See springt und nie mehr auftaucht – und von dem keiner mehr spricht. Und der doch das Leben der anderen Familienmitglieder noch Jahrzehnte danach belastet. War sein Vater schuld an dem Tod? Warum durfte nie über die Tragödie gesprochen werden? Ist es jetzt zu spät? Denn der Vater sitzt nach einem Schlaganfall im Rollstuhl und kann nicht mehr reden. Kann Jack, der nach zwanzig Jahren wieder nach Hause gekommen ist, den Bann brechen


    Zum Autor:
    Adam Davies, geboren am 5. September 1971 in Louisville, Kentucky, arbeitete nach seinem Literaturstudium an der Syracuse University als Lektoratsassistent beim Verlag Random House, New York, danach als Dozent für Englische Literatur an der University of Georgia und am Savannah College of Art & Design. Heute pendelt er zwischen Brooklyn, New York, und Savannah, Georgia. Sein Romandebut, ›Froschkönig‹, wird gegenwärtig von Darren Starr (›Sex & the City‹) nach einem Drehbuch von Bret Easton Ellis verfilmt.


    Rezension:
    Eine intensive Familiengeschichte von berührender Wirkung.
    Nach 15 Jahren kehrt der Protagonist Jack mit seiner Freundin Halva in seine Heimat zurück, da sein Vater einen Schlaganfall erlitten hat. Das Verhältnis Jacks zu seinem Vater, ein starker Trinker, ist gespannt. Der Grund liegt in dem Vorfall vor vielen Jahren, als Jacks 6-jähriger Bruder Dexter, genannt Lemon, im See ertrank. Schuldgefühle und Schuldzuweisungen plagen die Familienmitglieder. Auch Jacks Beziehung zu seinem älteren, sehr verehrten Bruder Pressman, der ebenfalls stark trinkt, steht nicht zum Besten.
    Es dauert nicht lange und die familiäre Situation zieht Jack nach unten. Er fängt, verleitet vom Bruder, nach zwanzig Jahren Abstinenz wieder zu trinken an, seine Beziehung zur Freundin wird stark belastet und führt vielleicht zur Trennung.
    Erst spät wird das überraschende Familiengeheimnis aufgelöst.


    Alkohol ist ein großes Thema in diesem Buch, doch eigentlich kaschiert er nur die Trauer und die Verstörtheit, in die sich die Protagonisten befinden.
    Einige Szenen der Alkoholexzesse erinnern dann aber doch an Malcolm Lowrys großes Alkoholikerportrait aus seinem Meisterwerk „Unter dem Vulkan“.


    Was diese quälerische Selbstzerfleischung erträglich macht, ist der teils bittere, meist selbstironische Humor, in dem der Autor Jack seine Geschichte erzählen lässt.
    Diese Stilistik, die mich an Autoren wie Mark Haddon oder Mark Childress erinnert, bewirkt eine starke Anteilnahme des Lesers an den Figuren dieses gelungen Romans.

  • Mark Haddon und Mark Childress mag ich eigentlich alle beide.... hmmmmm... :gruebel


    Auf jeden Fall schon mal DANKE für die interessante Rezi. Das Buch werde ich garantiert mal anlesen, sobald ich es irgendwo sehe! :wave

    Lieben Gruß,


    Batcat


    Ein Buch ist wie ein Garten, den man in der Tasche trägt (aus Arabien)

  • Goodbye Lemon habe ich vor zwei-drei Wochen als Lesexemplar gelesen und es ist mir in uneingeschränkt positiver Erinnerung.


    Es ist ein Buch, dass durch ein Gleichgewicht zwischen schwarzem, bzw. Galgenhumor und trauriger Familiengeschichte überzeugt und berührt.
    Denn trotz der immer wieder zum Schmunzeln reizenden Bemerkungen oder feststellung spürt man die Verzweifelung Jacks, der immer noch nicht den Tod seines Bruders verkraftet hat und die Schuld beim Vater sucht - dem Vater, der jetzt gefangen ist in seinem Körper, locked-in, und die Pflege nicht nur der liebenswerten Krankenschwester, sondern der Familie benötigt.


    Doch was für eine Familie ist das? Eine Mutter mit einem Hang zu Desinfektionsmitteln und perfekter Sauberkeit, ein Bruder, der sein verkorkstes Leben in Alkohol ertränkt, und über allem der Tod des kleinen Dexter als Bindeglied. Es kommt, wie es kommen muss, doch es bleibt voller Humor.


    Und so sehe ich es auch nicht als Selbstzerfleischung wie Herr Palomar, das scheint mir ein wenig zu hoch gegriffen und sehe auch nicht die alkoholischen Ekzesse so sehr im Vordergrund, sie wirken fast eher beiläufig. Es sind die Personen die überzeugen, die Brüder, die ihr Leben nicht auf die Reihe bekommen, und die Mutter, die sich ihr perfektes Leben als Tarnung zugelegt hat.


    Sie sind es, allesamt auf ihre Weise zerrütet, die das Buch lesenswert machen, sie und der Humor, der manchmal trotz seiner Bissigkeit wie ein winziger Hoffnungsschimmer wirkt.


    8/10 Punkten


    :wave bartimaeus


    Edit:
    Den Titel finde ich allerdings ein wenig zu sehr an "Goodbye Lenin" angelehnt :gruebel

  • Zitat

    Original von bartimaeus
    Und so sehe ich es auch nicht als Selbstzerfleischung wie Herr Palomar, das scheint mir ein wenig zu hoch gegriffen und sehe auch nicht die alkoholischen Ekzesse so sehr im Vordergrund, sie wirken fast eher beiläufig.


    Gegen diese familiäre Tragödie wird der Witz des Erzählers gestellt, daher ist "Selbstzerfleischung" vielleicht etwas zu kräftig ausgedrückt, obwohl meiner Meinung nach durchaus auch gegeben


    Das Thema Alkohol als ausschlaggebende Komponente für die Probleme aller Familienmitglieder mt Auswirkungen auch auf die anderen Beteiligten (z.B.Halva) würde ich aber nicht unterschätzen!

  • Zitat

    Original von Batcat
    Bartimäus,


    frag nicht, wie oft ich auch schon tatsächlich "Goodbye Lenin" gelesen habe! :lache


    Die Phase habe ich überwunden :lache Ich hab es sogar auf dem Buch zuerst falsch gelesen ...


    Herr Palomar
    Nein Alkohol im Allgemeinen, ohne jetzt zu viel verraten zu wollen, würde ich auch nicht unterschätzen, allerdings haben die alkoholischen Exzesse, zu denen Jack verführt wurde, für mich eher weniger Raum eingenommen.


    Was mich bei diesem Roman übrigens besonders fasziniert hat, ist die Art, wie Jack sich erinnert, schon der Beginn mit den verschiedenen Erinnerungsfetzen ist da gelungen. Ich glaube die rührendste Szene war für mich die am Ende mit dem Badelatschen.

  • Dieses Buch hat mich schon im Verlagsprospekt total angesprochen und kommt nun ernsthaft auf die Wunschliste!

    ...der Sinn des Lebens kann nicht sein, am Ende die Wohnung aufgeräumt zu hinterlassen, oder?


    Elke Heidenreich


    BT

  • Hört sich sehr interessant an, danke für eure Rezensionen, hab es mal auf die WL gesteckt.

    LG Melanie
    :lesend


    „Egal wie tief man die Messlatte des geistigen Verstandes eines Menschen legt, es gibt jeden Tag jemanden der bequem darunter durchlaufen kann!“

  • Meine Meinung:


    Nachdem ich “Goodbye Lemon” innerhalb von zwei Tagen gelesen hatte, war meine erste Reaktion mich zu fragen, welcher arme Praktikant für dieses Werk den Klappentext schreiben durfte, ohne es gelesen zu haben. Von “Jacks neuer Liebe Hahva” ist da Rede, die “droht ihn zu verlassen, wenn er sie nicht einweiht”. Auch von seinem Vater wird gesprochen, “der droht das Geheimnis mit ins Grab zu nehmen”, weil “er [ist] der Einzige ist, der weiß, was damals wirklich geschehen ist”, aber sich nicht mehr äußern kann. Warum? Seit einem Schlaganfall ist er gelähmt und stumm, kann sich nur über’s Augenzwinkern mitteilen bzw. über ein Gerät namens Dynovox kurze, knappe Befehle geben, die seine Grundbedürfnisse befriedigen sollen.


    Was nach einer Familie klingt, die ein Familiengeheimnis hütet, welches sich um den verstorbenen Bruder Dexter, genannt Lemon, rankt, ist ein einziges Verwirrspiel, in dem Realität und Scheinrealität durchmischt werden. Für den Protagonisten Jackson richtet sich sein ganzer Hass, seine ganze Trauer, seine Aggressivität, die daraus entsteht, und die Hilflosigkeit gegen seinen Vater, gegen dessen Alkoholismus, insgesamt gegen seine Existenz. Für ihn ist klar, sein Vater, der zum Zeitpunkt des Todes seines Bruders die Aufsichtspflicht hatte, hat diese vernachlässigt und deswegen ist er ertrunken. Außerdem hat er die universitäre Karriere des älteren Bruders Press auf dem Gewissen, genauso Alkoholiker wie sein Vater; genauso eine gebrochene Existenz, die noch im Hause seiner Eltern wohnt, der kein eigenes Leben führen, keinen Job machen und keine Beziehung halten kann. Dazu gehört noch die kontrollsüchtige, neurotische Mutter, die ihren Söhnen hinterher wischt, hinterher räumt und im Eigentlichen keine eigenen Wünsche und keine Ideale hat. An all diesen Umständen ist der Vater Schuld - Er muss dafür büßen, dass er der Familie das schöne Leben zerstört und den kleinen Bruder Dexter ums Leben gebracht hat… glaubt zumindest Jackson.


    Es geht eigentlich weniger um den Bruder als vielmehr um die nicht aufgearbeitete Trauer, die nicht aufgearbeiteten Probleme und Konflikte innerhalb der Familie, die dazu führen, dass der Protagonist Jackson sich eine Wahrheit zimmert, die mit seinen Kindheitserfahrungen konform geht. Kein anderer, außerhalb dieser Familie, weiß von dem Geschehen und so ist die neue Freundin Hahva, die ihn im übrigen nicht die Wahrheit durch emotionale Erpressung entreißen will, ein Störfaktor - Sie stellt unangenehme Fragen, versucht hinter die Fassade zu kommen und dringt in Jacks Welt ein, die er so fest versucht hat vor ihr zu verbergen.


    Die sprachliche Aufbereitung erinnerte mich mit dem spritzigen, ab und an sehr flapsigen Stil an Nick Hornby. Die Trauer ist trotz der „urkomischen Geschichte“, wie amazon-Rezensentin Helga Kurz es nennt immer präsent, immer liegt ein leichter, melancholischer Schatten über dem Erzählten, trotz der leichten Erzählweise. Wie ein Krimi lässt sich dieses Werk lesen – Man findet einen Täter, den Vater vor; man sucht nach den Hintergründen und vor allem nach den Ursachen, wie eine ganze Familie so emotional gestört, ja, zerstört werden konnte. Oder aber man liest dieses Buch wie eine Fallstudie. Eine Fallstudie über zerstörte Existenzen – wie sehr Alkoholismus den Menschen, nicht körperlich, auch psychisch, nachhaltig schädigt und wie sehr am Ende Angehörige und Bekannte darunter leiden.


    Eine lohnende Lektüre, eine spannende Lektüre.
    Sowohl handwerklich als auch inhaltlich spannend, mit vielen Geheimnissen umwobene, skurrile Geschichte mit liebevoll, gezeichneten, schrägen Charakteren.


    Ich sage nur noch eines: Wer dieses Werk lesen möchte, sich dafür interessiert, den heiße ich wie Jackson „willkommen im Sellbstmordpalast“.

    Nicht nur der Mensch sollte manches Buch,
    auch Bücher sollten manchen Menschen öffnen.
    (Martin Gerhard Reisenberg, *1949)

  • Seit 15 Jahren war Jack nicht mehr zu Hause, doch nun holt ihn seine Vergangenheit wieder ein als sein Vater einen schweren Schlaganfall erleidet und er auf Drängen seiner Freundin Havha wieder zurück fährt - und das obwohl er sich geschworen hat nie mehr zurückzukehren. Nachdem Eintreffen kommen all seine Erinnerungen wieder hoch - vor allem die an Dex, seinem Bruder, der im Alter von sechs Jahren ertrunken ist..


    Das Buch hat mir von Anfang an gut gefallen - die Charaktere werden liebevoll, mit all ihren Macken, beschrieben. Das Buch wird aus Jacks Sicht geschrieben und ist in viele kleine Abschnitte eingeteilt und jeder Abschnitt hat seine eigene, passende Überschrift. Die Geschichte spielt überwiegend in der Gegenwart und zwar ab dem Zeitpunkt als Jack und Havha im Haus seiner Eltern eintreffen. Wir erfahren aber auch etwas über Jacks Kindheit und den Erinnerungen an seinen verstorbenen Bruder. Dieses erzählt der Autor sehr authentisch, da die Erinnerungen an Dexter so verwirrend und unterschiedlich sind – schließlich handelt es sich hier um die Erinnerungen eines 5-jährigen, der den Verlust seines Bruders, das daraus resultierende Schweigen seiner Familie und die restliche schwierige Kindheit nicht richtig verarbeitet hat und der sich immer wieder die Frage nach der eigentlichen Wahrheit stellt. Schön beschrieben sind auch die wechselhaften Gefühle von Jack zu seinem eigentlich tief verhassten Vater und die Beschreibungen seines Verhältnisses zu seinem Bruder Press. Etwas „übertrieben“ fand ich Jacks Veränderung während seinem Aufenthalt – aber an dieser Stelle möchte ich nicht zu viel verraten.
    Eigentlich passiert hier nicht allzu viel – das muss es aber auch nicht – das Wichtige sind hauptsächlich Jacks Erinnerungen und Gefühle.


    Leider konnte ich mich nicht ganz so auf die Geschichte einlassen wie ich gern gewollt hätte. Ich hatte das Gefühl, dass die Personen für mich ziemlich „weit weg“ sind – das lag aber wahrscheinlich mehr an mir, als an dem Buch selbst.


    Fazit: Eine rührende und liebenswürdige Familiengeschichte über Schmerz, Erinnerungen, Schweigen, Missverständnisse und Trauer gespickt mit einer Prise Humor. Auf jeden Fall ein lesenswerter und empfehlenswerter Roman. Ich vergebe 9 von 10 Punkten.

    Einige Bücher soll man schmecken, andere verschlucken und einige wenige kauen und verdauen.