Lola auf der Erbse - Annette Mierswa/ Illustrationen Stefanie Harjes (ab ca. 10 J.)

  • Die achtjährige Lola - ihren neunten Geburtstag wird sie am Ende der Geschichte feiern - wohnt auf einem Hausboot am Fluß, der ‚Erbse’. Das ist nicht das einzig Sonderbare an diesem Mädchen. Darüberhinaus hat sie rosarote Haare, ist viel zu klein für Alter, trägt merkwürdige Kleider und wäscht sich nie den Hals. Dann nämlich würde sie das wegwaschen, was für sie das Wichtigste ist: den Kuß, den ihr ihr Vater gegeben hat, als er sie und ihre Mutter verließ. An diesen Kuß klammert sich Lola, wie sie sich auch gern in märchenhaften Geschichten verliert. Am liebsten sitzt sie bei einem Nachbarn, dem alten Fischer Solmsen, und läßt sich von seinen phantastischen Abenteuern erzählen.
    Eines Tages kommt es, wie es kommen muß: Lolas Mutter bringt einen neuen Mann nach Hause, Kurt. Lola sperrt sich, gleich wie freundlich Kurt ist. Sie wird ihren Vater nie verraten!
    Etwa zur gleichen Zeit lernt Lola einen Klassenkameraden, Pelle, näher kennen. Pelle hat ein Geheimnis. Er lebt illegal in Deutschland, eigentlich dürfte er nicht einmal zur Schule gehen. Pelles Geschichte bringt Lola dazu, daß sie über ihr eigenes Leben nachdenkt. Und allmählich sieht doch einiges ganz anders aus. Auch Kurt.


    Die Geschichte spielt sich in nur einer Woche ab, von einem Sonntag im August bis zum darauffolgenden Samstag. Sie ist schön erzählt, freundlich, poetisch, läßt nichts aus, um auf die Wunder des Lebens zu verweisen und darauf, daß auch aus Schatten Licht werden kann. Die Sache mit dem Kuß, den Lola nicht wegwaschen will, ist nicht nur einfallsreich, sondern auch wirkungsvoll umgesetzt. Ebenso die Frage mit dem Wachsen. Lolas Umgebung wird mit vielen, liebevoll ausgemalten Einzelheiten geschildert. Die Mischung aus Märchen und Realität, die schon im Titel deutlich wird, ist ausgezeichnet gelungen.
    Gelungen sind auch die zahlreichen Illustrationen, ein wenig verrückt, sehr phantastisch, schön und ein wenig unheimlich, mit vielen Details. Auch beim zweiten und dritten Anschauen kann man noch Neues entdecken. Text und Bilderwelt ergänzen sich geradezu perfekt.
    Das ganze Buch ist wunderschön aufgemacht, die bewährte Tulipan-Qualität eben. Allein das tiefrosafarbene Vorsatzblatt ist ein Genuß.


    Dennoch bin ich mit diesem Buch nicht glücklich geworden. Zum einen wird ein wenig zuviel erzählt, die Märchen sind ein wenig zu lang, Straffung vor allem in den Beschreibungen, hätte nichts geschadet. Lola als nicht ganz gängiger Vorname für ein Kind wäre eigentlich ausreichend, es ist nicht nötig zu lesen, daß Lola nur eine Abkürzung ist und das Mädchen Loretta heißt. Die rosafarbenen Haare, eine echte Auffälligkeit, haben gar keine Funktion im weiteren Verlauf der Geschichte. Solche Beispiele gibt es viele. Es fehlt ein wenig an Konzentration aufs Thema, die Autorin gibt ihrem Spieltrieb nach.
    Das sind typische Fehler in einem Debütroman und eben das ist die Geschichte von Lola auch.
    Schlimm ist das nicht, dieser Kinderroman trägt trotzdem.


    Was nicht tragbar ist, ist der zweite Handlungsstrang mit Lolas Schulfreund Pelle. Kinder und Jugendliche, die in diesem Land ‚illegal’ leben, sind ein Problem, das sehr, sehr schwer wiegt. So etwas als Nebenhandlung in ein Buch einzuführen, in dem ein in soliden Verhältnissen lebendes kleines Mädchen, das zu seiner Mutter eine stabile und im Grund glückliche und liebevolle Verbindung hat, bringt die Haupthandlung in eine eigenartige Schieflage.
    Pelle, der eigentlich Kurde ist und Rêbin heißt, erzählt die Geschichte seines Lebens selbst, das ‚große’ Geheimnis. Da fällt dann schon ein Satz wie der, daß Großvater während der Geburtswehen einfach die Musik lauter stellte. So etwas Achtjährigen aufzubürden, in einer Geschichte voller Muscheln, Blumen, fliegenden Fischen und blauem Sommerhimmel mit weißen Federwölkchen, ist eine merkwürdige Entscheidung.


    Rêbin kann unter dem falschen Namen ‚Pelle’ auch nur deswegen die Schule besuchen, weil der Direktor und die Klassenlehrerin das erlauben. Menschenliebe pur. Dagegen ist auf den ersten Blick nichts einzuwenden, wohl aber dagegen, daß das als ganz selbstverständlich dargestellt wird. Organisationen, die sich eben um dieses schlimme Problem in unserer Gesellschaft kümmern und zwar mit dem Ziel, den betroffenen Kindern und Jugendlichen zu ihren Rechten zu verhelfen, gibt es offenbar nicht. Wir sind eben voller guter Absichten, deswegen sorgen wir dafür, daß solchen Kindern, so sie uns zufällig über den glatt asphaltierten Weg laufen, ein paar Bildungsbrosamen zukommen. An Rêbins Lage ändert sich derweil nichts.
    Ganz übel wird es dann, wenn einem beim Lesen dämmert, daß das, was Pelle/Rêbin so treibt, wenn er nicht im Schulunterricht sitzt, sich mit genau einem Wort definieren läßt: Kinderarbeit. Er flickt, statt zur Schule zu gehen, Netze bei einem Onkel oder übernimmt die Putzarbeit seiner Mutter, als diese krank wird.
    Mit Duldung der Lehrerin und des Schuldirektors. Davon muß man nämlich ausgehen, weil das, was da erzählt wird, an keiner Stelle infrage gestellt wird. Ein Achtjähriger, ohne Dokumente welcher Art auch immer, ein Kind, das es gar nicht gibt, ein kleiner Mensch ohne jedes Recht, ist nicht Schrecken genug. Er muß auch noch arbeiten.
    Überhaupt ist das Ganze kein Schrecken. Lolas Unglück und ihre Albträume gelten allein dem Problem mit ihrem Vater.


    Pelles Leben bildet, wohlgemerkt, eine Nebenhandlung, eine Hintergrundgeschichte. Sie wird einfach erzählt. Daß Lola das Geheimnis nicht weitererzählt, gilt als Probe ihrer Freundschaft. Zum Trost lädt sie Rêbin gleich zu ihren Geburtstag ein.
    Ach, sind wir gut und ohne Vorurteile.
    Deswegen wohl ist, wie man dann erfährt, Lolas Vater auch mit einer Kubanerin durchgebrannt und hat schon ein süßes braunhäutiges Baby aufzuweisen. Exotismus hätte man früher dazu gesagt. Die Entscheidung der Autorin, Rêbin-Pelles kranke Mutter von Kurt, dem liebevollen Tierarzt (!) behandeln zu lassen, läßt einen im Kontext dessen, wie mit KurdInnen in dieser Welt umgegangen wird, geradezu erbleichen.
    Dazu paßt es dann auch, daß dem Buch ein Spruch von Ursa Paul, einer esoterisch-buddhistisch-spirituellen Lehrmeisterin der sog ‚Lebensenergie’ vorangestellt ist.


    Schade um eine gute Geschichte über Lola und die Schwierigkeiten mit der Trennung von ihrem Vater fertig zu werden, schade um wunderbare Illustrationen und ein schön gemachtes Buch eines eigentlich zurecht angesehenen Kinderbuchverlags.


    Nicht empfehlenswert.

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

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