Muschelstrand - Marie Hermanson

  • Inhalt:


    Direkt aus dem Waisenhaus in Indien kommt die kleine Maja in das Sommerhaus der Gattmanns. Ihre Adoptivfamilie ist eine Familie wie aus dem Bilderbuch: Die Eltern sind gebildet und wohlhabend, die Geschwister begabt und selbständig. Aber Maja ist, wie sich bald herausstellt, allen ein Rätsel. Trotz aller Liebe, die sie erfährt, bleibt sie stumm und unzugänglich. Als vierjährige begleitet sie ihre fast schon erwachsene Schwester zum Zelten am offenen Meer. Eines Nachts verschwindet sie spurlos. Sechs Wochen später findet man sie am Muschelstrand, weit entfernt von jener Stelle, wo sie verschwunden ist....


    Meine Meinung:


    Fesselnd, rührend, melancholisch


    Dieses Buch wird aus der Sicht zweier Hauptdarsteller beschrieben. Zum einen lernen wir das Leben und die Welt von Ulrika kennen, welche heute eine alleinerziehende Mutter ist. Sie beschreibt in ihrer Geschichte einen Teil ihrer Kindheit, die sie in den Ferien in einem wunderschönen Haus am Meer bei Familie Gattmann verbringt. Sie fühlt sich sehr wohl in der Familie und wünscht sich, ein Teil von ihr zu sein. Sie freundet sich mit der Tochter des Hauses, Anne-Marie, an und sieht sie quasi als Vorbild für sich selber. Sie möchte so sein wie sie, möchte so ausschauen wie sie, so reden wie sie.


    Zum anderen zeigt uns die Autorin das Leben von Kristina, einer sehr schüchternen Frau, die sich einen großen Teil ihres Lebens hinter Masken versteckt, um sich nicht zeigen zu müssen. Diese Masken sind nicht rhetorisch gemeint, sondern es handelt sich tatsächlich um Masken, die sie sich vor ihr Gesicht hängt. Sehr skurril und rätselhaft verfolgen wir so das Leben dieser eigenartigen Frau.


    Anfangs fragt man sich noch, was genau nun diese beiden Frauen verbindet, aber immer mehr kommt man dem Rätsel im Nachhinein auf die Spur. Familie Gattmann adoptiert zudem eines Tages das schwarze Waisenkind Maja, welches von Anfang an anders ist, als andere Kinder, was sich nicht nur durch ihre Hautfarbe darstellt, sondern vielmehr an ihrem Wesen. Sie versteht, was andere Menschen sagen, doch selber spricht sie kein Wort.


    Als Maja auf einmal spurlos verschwindet, nimmt die Tragödie ihren Lauf und der Leser wird in den Bann dieser Geheimnisse und Unheimlichkeiten gerissen, die dieses Buch so unheimlich fesselnd machen. Die Autorin versteht es, mit ihrer Sprache und Ausdrucksweise, das Buch so bildhaft zu schreiben, dass man das Gefühl hat, man sei live dabei, als die Ereignisse sich geradezu überhäufen.


    Das Ende ist dann plötzlich ganz anders, als man vielleicht denkt und hinterlässt, zumindest bei mir, einen sehr melancholischen Nachgeschmack.


    Es war für mich das erste Buch dieser Autorin, aber ihr Schreibstil hat mich überzeugt. Er ist fesselnd, spannend, aber zugleich auch wunderbar zart und gefühlvoll. Eine tolle Geschichte, die man sicherlich nicht direkt vergisst, nachdem man das Buch zugeklappt hat.

  • Ich könnte mir gut vorstellen, dass Leser den Beruf der Protagonistin und alles was damit zu tun hat, als mystisch ansehen. Sie recherchiert über sogenannte Bergverschleppung. Es geht also darum, dass Menschen eine zeitlang verschwinden und dann auf einmal wieder auftauchen. Das kann natürlich sehr mystisch auf einige Leser wirken.


    Da dies aber nicht die Haupthandlung des Buches war, ist es mir persönlich nicht soooo sehr aufgefallen, als dass ich das Gefühl hätte, ich müßte es erwähnen. Jeder Leser liest ein Buch sicher mit anderen Augen. Ich würde das Buch aber eher mit den drei Schlagworten in meiner Überschrift benennen und "mystisch" würde allerhöchstens an letzter Stelle erscheinen :-)


    LG,
    Andrea

  • Meine Eindrücke:


    Muschelstrand, das klingt wie ein Ort voller Magie. Der eigentlich magische Ort ist das Sommerhaus der Gattmanns in Tångevik. Dorthin wünscht sich Ulrika in honiggoldenen und apfelmostduftenden Träumen, als Teil der Familie Gattmann und als Schwester von Anne-Marie. Denn Anne-Marie ist das, was Ulrika befürchtet, nie zu werden: schön, selbstsicher, Teil einer wunderbaren Großfamilie. Eines Tages geschieht das Wunder und Ulrika und Anna-Marie werden Sommerfreundinnen. Sie fangen Krebse, schwimmen, angeln, spielen phantasievolle Spiele und verleben herrliche Sommer in Tångevik. Die Winter sind für Ulrika lange, dunkle Monate voller Einsamkeit und Sehnsucht nach Anna-Marie. Sie weiß, dass sie die Freundin viel mehr braucht, gewissermaßen emotional abhängig ist.


    Karin Gattmann, Anna-Maries Mutter, ist eine erfolgreiche Journalistin. Bei Recherchen in Indien stößt sie auf ein Kinderheim und findet Maja, ein sechzehn Monate altes Mädchen, das ihr Herz so berührt, dass die Gattmanns Maja adoptieren. Nun hat Anna-Marie eine kleine Schwester und die Sommer in Tångevik verändern sich für immer. Maja ist ein seltsames Kind. Trotz aller Liebe, die ihr geschenkt wird, bleibt sie merkwürdig verschlossen und spricht nicht. Sie hängt sich an Anna-Marie, und Ulrika und Anna-Marie können nur noch selten für sich sein. Selbst zum Mittsommerfest der Teenager auf einer abgelegenen Insel will Maja unbedingt mitgenommen werden und erzwingt es auf ihre stumme, unnachgiebige Weise.


    Als die Jugendlichen am Morgen nach der Party wach werden, ist die vierjährige Maja verschwunden.


    Ulrika erlebt mit, wie sich die Familie der Gattmanns dadurch verändert. Jeder geht mit der Ungewissheit und der Trauer anders um; die Familie zerfällt. Der Verfall wird nicht dadurch gestoppt, dass Maja sechs Wochen später unversehrt am Muschelstrand wieder auftaucht. Sie ist weder verletzt noch hungrig, weder schmutzig noch verwirrter als sonst. Sie ist einfach wie immer und lässt noch immer keine emotionale Nähe zu. Zärtlichkeiten erträgt sie; das Kind scheint unfähig, sich an jemanden zu binden.


    Was ist in jenen sechs Wochen geschehen?


    Ulrika kommt fünfundzwanzig Jahre später nach Tångevik zurück und will ihren Söhnen den Sehnsuchtsort ihrer Kindheit zeigen. Seit jenem Sommer hat sie Anna-Marie nicht mehr gesehen, alles ist anders geworden. Nur die Landschaft ist unverändert. Aber am Muschelstrand entdecken ihre Söhne einen Gang, den die Kinder damals in keinem Sommer gefunden hatten, und schließlich lässt sich doch noch rekonstruieren, was damals mit Maja geschah.


    Die Auflösung ist keineswegs so mythisch, wie das Buch anfangs glauben machen will, aber sie ist zutiefst berührend - und ich nehme sie der Autorin ab.


    Es geht um Freundschaft, Liebe, das, was Familien zusammenhält, um Sehnsüchte, das Erwachsenwerden, um Menschen, die anders sind und sich ihren Platz in der Welt erkämpfen müssen. Und um das Meer. Ich habe die wundervollen Beschreibungen des Meeres und der Landschaft, all die Gerüche, das Glitzern und die Sommer genossen. Anfangs fand ich den Schreibstil etwas sperrig, doch dann hat er mir immer besser gefallen. Die Lösung des Rätsels um Majas Verschwinden war dank des zweiten, in einzelnen Kapiteln eingestreuten Handlungsstranges relativ bald klar; die Details aber und die Neugierde darauf, was in all den Jahren aus Anna-Marie geworden sein mag, haben die Geschichte für mich bis zum Schluss spannend bleiben lassen.



    Link zur Homepage der Autorin

  • Auch ich bin von diesem Buch begeistert, noch mehr als von "Der Mann unter der Treppe", das bisher einzige andere Buch, das ich von Marie Hermanson gelesen hatte. Während "Der Mann unter der Treppe" hauptsächlich skurril war, ist "Muschelstrand" ein Buch, das mich tief bewegt hat.


    Es hat Erinnerungen an meine eigene einstige Sommerferienfreundin geweckt und auch an meine Faszination gegenüber Familien dieser Art, bei denen man einfach wünscht, man wäre ein Teil davon. Der Leser gewinnt tiefe Einblicke in Ulrikas Gefühle und Gedanken, und ihr Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit im Angesicht der schönen und selbstbewussten Freundin konnte ich gut nachvollziehen.


    Dann ist da Kristina, die von den Menschen abgewandt lebt, ein eigenständiges Leben in und mit der Natur führt - die Passagen, die von ihr erzählen, wirken beklemmend, verströmen Einsamkeit, aber gleichzeitig muss man anerkennen: sie ist glücklich mit diesem Leben. Und - ihre Andersartigkeit ist eine Stärke, kein Makel, das kommt immer wieder durch und hat mich sehr froh gemacht.


    Die beiden Erzählstränge laufen zunächst wie völlig von einander getrennt daher, bis sie allmählich, ganz leise, zusammenfließen und man erst ahnt und dann weiß, wie alles zusammenhängt.


    Mich hat das Buch ungemein gefesselt und berührt, ich möchte sogar meinen, dass dies eines dieser Bücher ist, die mich ein kleines Stück weit verändern.


    10/10