OT: Penny Maybe 1999
Penny, Titelheldin und Ich-Erzählerin, ist ein Pflegekind. Ihre Eltern kamen bei einem Autounfall ums Leben, als Penny noch sehr klein war, Verwandte hat sie keine. Inzwischen ist sie sechzehn und zu Anfang des Buchs kommt sie zu einer neuen Pflegefamilie. Wieder einmal. Das liegt, wie die Geschichte zeigt, nicht allein an Penny, sie scheint jemand zu sein, die einfach Pech mit anderen Menschen hat. Ihre eigenen Schwierigkeiten wirken wie ein Magnet auf die Schwierigkeiten anderer, und in der Regel endet es so, daß Penny die Folgen trägt. Jedenfalls ist das ihre bisherige Erfahrung, glaubt Penny. So ist Penny nie ein ‚nettes’ Mädchen geworden. Sie traut nichts und niemandem, sie klaut, sie lügt.
Sie hat ein Gesicht für die Pflegeltern und eins für die Schule. Sie hat viele schöne Worte gelernt, sie weiß genau, was die anderen hören wollen. Zugleich kann sie unglaublich vulgär werden, wenn sie verletzt wird, und sie fühlt sich oft verletzt.
Aber Penny ist nicht dumm und so langsam dämmert ihr, daß man, wenn man überhaupt niemandem vertraut, man am Ende auch sich selber vergißt und daß Worte, die man nur zum Lügen benutzt werden, am Ende auch für einem selbst jede echte Bedeutung verlieren. Penny ist kurz davor, sich zu verlieren, sie weiß nicht mehr, wer sie ist. Ihr Nachname ‚Maybe’, ‚Vielleicht’, den sie sich selbst gegeben hat, zeigt ihr Dilemma deutlich. Sie existiert nur noch als Möglichkeit, aber welche das ist, kann sie selbst nicht sagen.
In dieser sehr verzwickten emotionalen Situation stößt Penny auf den Ontariosee. Nicht, daß sie ihn nicht gekannt hätte, sie hat immer wieder einmal in Ufernähe gelebt. Auf einmal aber fängt er an, eine Bedeutung für sie zu entwickeln. In wachsendem Maß ist sie fasziniert davon, wie groß und alt er ist, wie gelassen er daliegt, obwohl sein Wasser von Jahr zu Jahr mehr verdreckt wird. Und sie stellt sich vor, wie es sein muß, durch diesen See zu schwimmen, von einem Ufer zum anderen.
Ehe sie es sich versieht, hat Penny ein Ziel gefunden, das kein ‚vielleicht’ mehr ist, sondern ganz konkret. Sie wird durch diesen See schwimmen.
Kaum hat sie den Entschluß gefaßt, scheint das Leben wieder bereit, ihr seine üblichen Streiche zu spielen. Die Pflegeeltern, Dan und Helen, sind alles andere als ein glückliches Paar, die Schule nervt. Penny verliebt sich Hals über Kopf, da sie emotional wenig stabil ist, geht dabei so ziemlich alles schief, was schieflaufen kann. Penny reagiert nach gewohnter Manier, lügt, stiehlt, bis zum Rand gefüllt mit Mißtrauen. Der See rückt weg, weiter und weiter.
Aber wer sich mit einem großen See einläßt, kommt nicht so leicht davon, das lernt auch Penny. Er ist ihr längst zu wichtig geworden, ebenso wie das Schwimmtraining mit ihrer Physiklehrerin, Mrs. Canyon, eine Naturgewalt eigener Art, das Wohlergehen von Dan und Helen und schließlich auch die keimende Freundschaft mit Lisa und deren Bruder.
Am Ende kommt nichts so, wie man es erwartet hat, bis auf eines: Penny macht sich auf ihren Weg durch den See. Ob sie am anderen Ufer ankommen wird, ist zweifelhaft, aber es ist nicht wichtig. Wichtig ist, daß man sich eine Aufgabe stellt, daß man sie angeht. Das Ziel kann sich ändern unterwegs, was zählt ist, wie weit man kommt.
Dieser geradlinig und mit sparsamsten Mitteln erzählte Kurzroman gehört zu den besten Geschichten übers Erwachsenwerden, die ich seit langem gelesen habe. Penny ist eine rundum überzeugende Heldin, gleich, ob sie um sich schlägt oder uns winzige Blicke in ihr höchst verletzliches Innenleben gewährt. Sie ist nicht besonders sympathisch, sie biedert sich nicht an. Sie will nur sie selbst sein.
Gelungen auch die anderen Personen, eigenständig, in ihren eigenen Welten lebend und mit ganz spezifischen Problemen. Dan, Installateur, weiß, Helen, Bibliothekarin mit Bildungsanspruch, schwarz. Mrs. Canyon, ziemlich exzentrisch und nicht nur wegen ihrer großblumigen Kleider, Lisa, die Klette, mit ihrer schwierigen Mutter, oder Chester, Lisas Freund, in den sich Penny verliebt. Und Lisas Bruder Tony, der auch nicht so ist, wie Penny gedacht hat. Sie alle haben ihre Träume, sie alle sind gescheitert, würde man auf den ersten Blick sagen, aber das ist falsch. Sie alle sind bis zu einem bestimmten Punkt gekommen und müssen nun sehen, wohin es von da aus geht.
Sprachlich ist es vermeintlich unaufdringlich gestaltet, tatsächlich aber sitzt jedes Wort genau da, wo es sitzen muß, um den größten Effekt zu haben. Die Autorin, aus Toronto stammend, hat Drehbücher und Theaterstücke geschrieben, sagt der Klappentext, und ich bin geneigt, es zu glauben. Recherchen im Internet über sie haben nämlich nichts weiter zutage gefördert außer ihrem Geburtsjahr, 1947. Penny Maybe scheint ihr erster und bis dato einziger Roman für Jugendliche zu sein.
Begeistert hat mich der Kunstgriff, den Ontariosee als denjenigen einzuführen, der es Penny ermöglicht, auch auf Menschen zuzugehen. Die Beschreibungen des Sees, immer mit Pennys Augen gesehen, gehören zu den allerbesten Stellen in diesem Buch, das seinerseits fast nur aus guten Stellen besteht.
Ich kann nur tief bedauern, daß ich nicht früher schon auf dieses Buch gestoßen bin. Es scheint rasch untergegangen zu sein, ganz unverdient. Es ist etwas wirklich Großes. Mindestens so groß wie der Ontariosee.