Die Nacht der gefangenen Träume - Antonia Michaelis [ab 10 Jahre]

  • Die Geschichte, die hier erzählt wird, ist vor allem eines: unheimlich. Es geht nämlich um etwas ganz wesentlich Menschliches, die Träume.
    Frederic hat das Glück auf eine Privatschule zu gehen, Glück deswegen, weil sein Vater sich die Schulgebühren nur leisten kann, weil er als Softwareexperte auch die Computer der Schule wartet. Frederic hält die Schule nicht für einen Glücksfall, seine Mitschülerinnen und Mitschüler sind alles andere als lustig. Eine Streberin oder auch zwei Streber hätte er ja ertragen, aber daß fast alle Kinder nur auf gute Noten aus sind und den Lehrerinnen und Lehrern deswegen geradezu an den Lippen hängen, ist des Guten zuviel. Nur ein Mädchen in seiner Klasse scheint anders zu sein, Änna. Die aber mag er nicht, sie wirkt verdruckst und nicht gerade sympathisch.
    Es ist aber ausgerechnet Änna, die erklären kann, was passiert ist an dem Tag, an dem Frederic gebissen wird. Mitten im Unterricht. Und ohne daß etwas zu sehen wäre, das so scharfe Zähne hat.


    Eigentlich glaubt Frederic Ännas Erklärung nicht, es klingt zu schräg. Außerdem hat er genug Eigenes zu bedenken. Frederic ist Erfinder, er denkt sich zu gern Apparate aus, die alles mögliche bewirken können, etwa den gründlich gehaßten Schuldirektor zum Fenster hinausbefördern. Überhaupt bleibt er lieber für sich in der Schule. Zuhause auch, mit seinem Vater redet er kaum, der spricht ja auch kaum mit ihm. Die beiden wurschteln sich allein durch den Alltag, seit Frederics Mutter bei einem Unfall ums Leben gekommen ist.
    Die Bißwunde und ein paar merkwürdige Vorkommnisse in der Schule aber fangen an Frederic zu beunruhigen. Als ihm dann noch eine alte Nachbarin Tropfen gibt, damit er besser sehen kann, wird Frederic endgültig neugierig. Das erweist sich als fatal. Denn nun sieht er, was Änna gesehen hat. Die aber scheint sich auf einmal an nichts zu erinnern. Bei einem illegalen nächtlichen Ausflug macht Frederic eine Entdeckung, die ihm klar werden läßt, daß hier Bitterböses am Werk ist. Und daß es nur einen Weg gibt, die Katastrophe zu verhindern: er muß eingreifen.


    Die Geschichte ist schauerlich, streckenweise purer Horror, nicht nur für das junge Zielpublikum. Michaelis nimmt das Thema sehr ernst. Entsprechend viel Raum ist denen gewidmet, denen der Anschlag zuerst gilt: den Träumen. In ihrer Beschreibung ist überbordende Phantasie am Werk, hinter der eine geradezu geniale Logik steckt. So hat man Träume nie zuvor wahrgenommen.
    Ernst und mit der von ihr gewohnten Zuneigung zeichnet sie ihre Kinderfiguren. Die Veränderungen, denen diese ausgesetzt sind, ihre Charakterisierung, die Unterschiede vor und nach dem Diebstahl der Träume, sind einfallsreich, durchaus kindgerecht, zugleich aber enorm unheimlich. Die Vorstellung eines Mädchens mit Josephines ‚Eigenheit‘ etwa ist beängstigend, ebenso das Bild, das Michaelis für Ännas Problem oder auch für Ännas Eltern findet. Das ist rundum beängstigend und verdeutlicht das Unglück der Kinder eindrucksvoll.


    Skurrile Verhaltensweisen einiger Erwachsener lassen bald auch auch in Frederics ansonsten normalem Alltag Gegebenes zunehmend nicht mehr verläßlich wirken. Zugleich erkennt er mit seinem neuen scharfen Blick, worin die Schwierigkeiten der Erwachsenen um ihn herum liegen. Das ist ebenso erschreckend, wie der Diebstahl der Träume. Dabei gibt es Erkenntnisse, die auch die Leserin erst einmal verdauen muß. Zugleich ist das ein tolles Bild für die erste Erkenntnis sehr junger Teenager, daß die Welt der Großen kein Paradies ist, sondern sie ebenso leiden läßt.
    Das Ganze ist keine Geschichte für empfindsame Seelen, auch wenn sie gut ausgeht.


    Da es mehrere Rätsel gibt, gibt es auch mehrere Lösungen, jede überzeugt, die letzte, das Verhältnis zwischen Erzählerfigur und Held, Frederic, ist die verblüffendste. Sie ist der letzte Beleg dafür, wie gut der Plot durchdacht und die Handlung konstruiert wurde. Michaels weicht Klischees aus und bricht die Erwartungen. Vor allem folgt keine Verdammung des Bösen. Da die Handlung so spannend ist, verlockt sie zu immer schnellerem Lesen. Dabei überliest man leicht einige wichtige Erkenntnisse über die Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern, Eltern und Kindern und Kindern untereinander. Es gibt eine Menge Kritik an falscher Autorität, Anpassung, Phantasielosigkeit und Ehrgeiz, der nur auf Materielles gerichtet ist. Diese Geschichte ist also keineswegs nur ein aufregendes Kinderabenteuer mit Fantasy-Elementen, sondern eine ernstzunehmende Erinnerung daran, wie wichtig Träume für Menschen jeden Alters sind.

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Danke für die ausführliche Rezension, Magali. Das Buch steht schon eine ganze Weile in meinem RuB. Der Titel klang mir zu düster und ich hatte zu viele Michaelis Bücher nacheinander gelesen, alle super oder gut, aber das Letzte war nicht so meins. Aber wenn ich deine Rezi so lese, bekomme ich Lust, "Die Nacht..." noch in diesem Urlaub zu lesen. Der Plot klingt ein bisschen ähnlich wie der von Wenn der Windmann komt. Das ist für mich eins der besten Bücher ever.

  • Ich habe grad meine Michaelis-Phase.
    :lache


    Die Gefangenen Träume haben mich restlos begeistert. Ich fand das Buch so schön durchgearbeitet (sie hat ja zuweilen lose Enden oder ist so phanatsievoll, daß man es nur durchgehen läßt, weil es so schön ist, aber besser nicht genau darüber nachdenkt).
    Und wenn man die Beschreibungen der Träume nicht gelesen hat, hat man, glaube ich, etwas verpaßt, auch literarisch, jetzt mehr von der Vorstellungskraft und Interpretation als rein sprachlich gedacht. Es ist ja ein Kinderbuch.
    Trotzdem kann ich es nur empfehlen, auch wenn es gruselig ist.


    'Windmann' liegt noch ungelesen auf meinem Stapel, der kommt als nächstes, jedenfalls laut Plan.

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Ich habe gerde erst Silber- das zweite Buch der Träume von Kerstin Gier gelesen. Das ist lustig, unheimlich und locker-flockig geschrieben. Daher brauche ich jetzt erst mal zwei Wochen zeitlichen Abstand, sonst vermischt sich womöglich alles.

  • Inzwischen habe ich Die Nacht der gefangenen Träume und kann mich der Rezension von Magali voll und ganz anschließen. Ein wirklich wunderschönes, pralles, ernstes und zugleich auch verspieltes, humorvolles und sehr gelungenes Buch.


    Auch machte es überhaupt nichts, dass ich vorher Silber gelesen hatte, denn die Träume und Traumwelten dort spielen eine völlig andere Rolle als in diesem Roman.
    Mir gefällt der sehr bildhafte Sprachstil von Antonia Michaelis immer wieder, und in Die Nacht der gefangenen Träume hat sie sich besonders schöne Mataphern und Sprachspiele einfallen lassen und eine Geschichte erzählt, die es in sich hat. Auf diese Ideen zu kommen... die Autorin hat eine Fantasie, die wirklich erstaunlich ist. Ich stimme zu: Wer die Gefangenen Träume nicht gelesen hat, hat wirklich etwas verpasst.


    Mehr möchte ich dazu nicht sagen, denn es sind schon viele wahre Gedanken in diesem Fred geäußert worden.
    Es ist übrigens eine ganz andere Geschichte als in Wenn der Windmann kommt, auch wenn es auf den ersten Blick die Parallelen Junge - Mädchen und Schule gibt. Das Geschehen und die Persönlichkeiten der Protagonisten und ihrer Eltern unterscheiden sich jedoch deutlich.


    Unbedingte Leseempfehlung!


    10 Eulenpunkte

  • Klingt gut. Ist mal vorgemerkt.

    In der Schule fragten die Lehrer mich, was ich später werden wolle. Ich antwortete: Glücklich. Die Lehrer sagten, ich verstünde die Frage nicht. Ich sagte, sie verstünden das Leben nicht.


    John Lennon




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