Hoffen und Bangen
Jens, ein Mann mittleren Alters, lag gemütlich dösend im Bett. "Schön ist es, endlich seit langen Jahren sturmfreie Bude zu haben", seufzte er genüsslich, erhob sich und machte mit lustvollen Schwung die nächste Bierdose auf. Seine Frau und seine beiden Kinder waren auf Wochenendbesuch in der Schweiz bei den Großeltern. Er konnte die Schwiegereltern nie leiden. Sie hatten etwas gegen ihn, und er etwas gegen sie. Es war praktisch Abneigung seit dem ersten Zusammentreffen. "Ich scheiß drauf" hatte Jens zu seiner Frau gesagt. Er wolle einfach nicht mit. Im Streit haben sie sich getrennt. Jens bereute es jetzt schon.
„Mal schauen, was im TV so los ist“ murmelte Jens vor sich hin, tastete mühsam nach der Fernbedienung und begann, munter drauflos zu zappen.
Schnell war er bei seinem Lieblingsnachrichtensender NTV angelang. Plötzlich erschien das Intro „Breaking news“. „Nicht schon wieder ne Katastrophe“ dachte Jens, und war gerade im Begriff umzuschalten, als folgende Meldung kam „Vor einer halben Stunde Boing 747 am Bodensee abgestürzt – vermutlich alle 200 Passagiere tot“. Sofort wurde Jens hellwach. Innerhalb von wenigen Sekunden sprang er schweißgebadet auf, konnte seinen Sinnen nicht trauen. Ist nicht Elisabeth mit den Kindern mit einer Boing geflogen? Panik stieg im Familienvater auf.
Er packte zitternd das Telefon, rief die Polizei an. „Wir können ihnen momentan nicht helfen. Die Situation ist zu verworren“. Jens konnte es nicht fassen. Er rief in die Schweiz zu den Großeltern an – doch keine Verbindung möglich. „Natürlich alles überlastet“ schoss es Jens durch den Kopf. Seine Gedanken wurden immer wirrer.
Schließlich rief er, mit seinen Nerven dem Ende nahe, Paul an. Paul war sein Nachbar, ein alter, betagter, lebenserfahrener Herr. Als Paul, der schon von der Katastrophe höre, und wusste, warum Jens ihn brauchte, in die Wohnung kam, fragte er sofort: „Was fühlst du jetzt, Jens?“ „Ich schwebe zwischen Angst und Hoffnung, Paul.“, wisperte Jens resignierend, der am Küchentisch saß, seinen Kopf mit seinen Händen stützend.
„Hoffnung ist eine Art von Glück; vielleicht das größte Glück, das diese Welt bereit hält", erwiderte Paul. Jens schüttelte weinend den Kopf. Ist der Alte nun schon völlig senil geworden?
Fortan die komischen Weisheiten von Paul ignorierend, versuchte Jens, seine Gefühle zu regeln. Es ging nicht.
Erschöpft schlief Jens im Laufe der Nacht am Küchentisch ein, während Paul über ihn wachte.
Er träumte von seiner Frau, seinen Kindern, über die wunderschönen Momente, die er mit seinen lieben verbracht hatte. Doch jedes Mal, wenn er sie erreichen und umarmen wollte, zog es sie noch weiter weg ... in ein tiefes schwarzes Loch.
Plötzlich bemerkte Jens ein raues Rütteln. „Jens, wach auf, es gibt Neuigkeiten. Du sollst so schnell wie möglich zum Flughafen fahren, es ist dringend!“
Als er ankam, war er auf das Schlimmste gefasst. Ein wissender Beamter wies ihn an, in der Nebenhalle Platz zu nehmen. Quälend lange verging die Zeit, und er überlegte sich alle möglichen Szenarien. Aber wie in Trance vernahm er auf einmal helles, unschuldiges Kinderlachen, bekannte „Papa, Papa“-Rufe, die feinen Klopfgeräusche von Stöckelschuhen.
Jens blickte auf, sah seine Familie reinstürmen, und konnte es nicht glauben. Als Elisabeth, die sich gewundert hat, warum die Maschine umgeleitet wurde und vom Unglück noch nichts wusste, den völlig verstörten Jens erblickte, sagte sie: „Aber Jens, wie sieht du denn aus? Was ist denn passiert?“ Jens, völlig überwältigt, meinte heiser: „Ach Schatz, es ist ... ich habe .. Hoffnung mit uns!“, und umarmte innig seine Lieben.