'Große Erwartungen' - Kapitel 26 - 34

  • Ich bin noch nicht ganz durch mit dem Abschnitt, poste aber trotzdem schon mal..


    Da war nämlich eine Szene, deren Bedeutung ich nicht verstanden habe:
    Ich glaube, es war Kapitel 26 und da sind die Jungs allesamt bei Mr. Jaggers zu Besuch. Und da zwingt er seine Haushälterin ihr vernarbtes Handgelenk zu zeigen, als sie über Stärke diskutieren. Wieso demütigt er sie so vor seinen Gästen? Und was haben die Narben mit Stärke zu tun? ?(


    Und auch in diesem Buch geistert Hamlet rum ;-) Auch wenn es diesmal nicht der echte ist :lache

  • Ich habe das so interpretiert- es gab da eine Andeutung von Jaggers Sekretär, dass die Dame mal Ketten trug, die nicht als Schmuck gedacht waren und daher die Narben stammen.

  • ...also war sie mal hinter Gittern? :gruebel


    Der letzte Abschnitt hat mich im ersten Moment schwer geschockt, weil ich Mr. J. G. gelesen habe. Natürlich musste ich sofort weiterlesen, weil ich Pips Reaktion darauf sehen wollte. Der Rest im nächsten Thread...


    Immer noch bin ich schwer gespannt, was es mit Jaggers auf sich hat. Das mit dem Hände und Gesichtabwaschen, nachdem er mit seinen Klienten gesprochen hat, charakterisiert ihn meiner Meinung nach sehr genau. Charles Dickens hat(te) so eine wunderbare Begabung mit Wörtern zu spielen und wieder habe ich mir nichts rausgeschrieben.
    Pip soll Estella fallen lassen. Aber er ist noch jung und verliebt und kann sich nicht so recht wehren.

  • Jaggers scheint mir in der Freizeit das genaue Gegenteil von Wemmick. Wo der Schreiber sein Büroleben völlig abstreift ist Jaggers durch und durch der Anwalt, der den jungen Drummle mit all der liebevollen Aufmerksamkeit beschenkt, die der als zukünftiger Klient verdient. :grin


    Bei der Haushälterin hatte ich ja als erstes Selbstmord im Kopf, an Wemmicks Bemerkung über Ketten kann ich mich gar nicht erinnern. Aber später dachte ich dann, dass die Narben vielleicht von Seilen stammen mit denen sie gefesselt war und die sie womölich irgendwie "gesprengt" hat? Das würde ja durchaus von großer Stärke zeugen.


    Joe lässt durch Biddy seinen Besuch ankündigen und es war absolut klar, wie Pip reagieren würde. Am liebsten würde er Joe Geld geben damit er nicht kommt! Ich glaube der einzige Grund, warum mir Pip nicht zutiefst verhasst ist, ist die Tatsache dass er, der diese Geschichte ja rückblickend aus einer offenbar geläuterten Position heraus erzählt, sich selbst alle Bosheiten ankreidet und darüber auch harsch urteilt. Somit mag ich Pip, den weiser gewordenen Erzähler, und verachte Pip, den Möchtegern-Dandy. Eigentlich geschickt gemacht von Dickens.


    Außerdem hat er ein wirkliches komisches Talent, das ich so nicht erwartet hätte. Es gab Sätze da saß ich einfach nur da und grinste oder schmunzelte vor mich hin. Zum Beispiel:
    S. 320: "... und veranlasste das Wohnzimmer und den Frühstückstisch, ihr prächtigstes Aussehen anzunehmen."
    Ich seh so ein Bild vor mir, wie Pip mit den Möben spricht: Dass ihr euch ja zusammenreisst und ordentlich ausseht! :rofl
    Oder Wopsle, der sich nach seinem gescheiterten Hamlet-Auftritt (an sich auch eine herrliche Szene) vom Kostümschneider würdevoll aus der Strumpfhose schälen lässt. Oder die Szene, als Pip für Estella eine Tasse Tee bestellt hat und der Kellner voller Übereifer so ziemlich alles bringt, inklusive Tranchierbesteck(!), nur eben keinen Tee!


    Auf der anderen Seite stehen dem wirklich wunderschöne, poetische Sätze gegenüber. Besonders gefallen hat mir in diesem Abschnitt, ebenfalls auf S. 320, die Beschreibung seiner Unterkunft: "..., daß Barnard aus seinen Fenstern rußige Tränen vergoß wie ein empfindsamer Schornsteinfeger-Riese." Ich muss wirklich sagen, Dickens Schreibweise begeistert mich mehr und mehr.


    Einen Stiefelknecht hat Pip jetzt auch. Ich verstehe nur ehrlich gesagt nicht genau warum. Von dem Moment an wo er ihn hatte und ausstaffieren sowie versorgen musste, ist er ihn leid. Für mich das erste Anzeichen, dass Pip beginnt sich über Statussymbole wie eben Dienerschaft zu definieren. Ich fürchte das wird noch viel viel schlimmer. Wir lesen ja auch später in diesem Abschnitt, dass die Möbel und auch die sonstigen "Vergnügungen" (jaja Covent-Garten, die feinen jungen Herren :chen) immer teurer und immer unsinniger werden. Als der Lehrling des Schneiders Pip so dermaßen auf den Arm genommen hat hab ich mir ein boshaftes Grinsen nicht verkneifen können. :[


    Joes Besuch ist ein kurzer Augenblick der Ehrlichkeit in Pips schon jetzt sehr verlogenem Leben. Gleich die ersten Worte treffen ins Schwarze: Hier würde ich nicht mal ein Schwein halten. :anbet Seine Abschlussrede zeigt mehr als deutlich, dass Joe kein dummer, sondern im Gegenteil ein sehr kluger (nur eben nicht gebildeter) Mann ist. Er begreift, dass er Pip wohl lästig sein und unnatürlich vorkommen muss. Und das ist er auch. Aber dort wo er zu Hause ist und sich auskennt, einfach er selbst sein kann, dort bräuchte sich Pip seiner nicht schämen. Wow, was für eine Ansprache. *spendet Applaus* Nun ist Pip es, der beschämt wurde. Aber leider, wie er selbst sagt, sind diese Tränen nur allzuschnell getrocknet.


    Unter dem Vorwand zu Joe zu wollen, folgt er der Einladung von Miss Havisham, mit dem Ergebnis, dass er vor lauter "Estella" hier und "Estelle da" gar nicht mehr zu ihm geht. Oh Pip, wie falsch bist Du geworden. Miss Havishams Befehl "Liebe sie!" befolgt er nur zu gern. Man ahnt, dass sie ihn mit Estellas Hilfe ins Unglück stürzen will. Ja, liebe sie und lass Dir das Herz brechen so wie es ihr selbst geschah. Orlick ist bei ihr jetzt Pförtner. Passt irgendwie so gar nicht zusammen, man wird sehen was darauf wird.


    Die Identität des Einäugigen klärt sich auch. Nicht der Anwalt, ein Mithäftling von Pips Sträfling ist er. Hat er schon wieder etwas verbrochen oder war er selbst auch auf der Flucht und wurde gefangen, da er nun wieder in Ketten ist?


    Mir ist nochwas aufgefallen, das mich stutzig macht. Herbert nennt Pip ja "Händel", aber gab es da nicht bei der Vereinbarung über die "Großen Erwartungen" mit Mr. Jaggers die Bedingung, immer nur den Namen "Pip" zu tragen? Ich frage mich die ganze Zeit, ob diese kleine Unachtsamkeit bei einem solchen Pedanten wie Mr. Jaggers nicht zu einer Stolperfalle für Pip werden könnte. :gruebel


    Mit 24 war man damals also volljährig. Aber wie alt ist Pip jetzt? Ich hatte so 15/16 geschätzt. Jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher. Denkt ihr, er ist älter?


    Als Pip und Estella am Gefängnis vorbeifahren, entfährt ihr ein "Die Elenden!" und irgendwie überlege ich, ob sie damit vielleicht nicht ihren Unwillen zum Ausdruck bringen wollte, sondern auf "Les Misérables" von Hugo anspielt? Sie war doch gerade erst lange in Frankreich.
    Ah, ich sehe gerade, Great Expectations wurde zwischen 1860-1861 geschrieben und Les Misérables erschien erst 1862. Schade, es hätte so schön gepasst. *g*


    Alles in allem ein Abschnitt in dem Pip immer Tiefer in den Strudel aus Selbstbetrug, aussichtsloser Liebe und Schulden versinkt und ein Ende der Spirale ist erst mal nicht in Sicht. Klar ist nur: Wenn nicht noch irgendwas geschieht, wirds eine mächtige Bruchlandung werden.
    Zum Schluss noch die Nachricht, dass seine Schwester verstorben ist. Jetzt hat er keine andere Wahl, als Joe wieder zu begegnen. Vielleicht können er und Biddy ja doch noch etwas ausrichten.

    „Furcht führt zu Wut, Wut führt zu Hass. Hass führt zu unsäglichem Leid.“

    - Meister Yoda

  • Ja, ich fürcht, Pip wird völlig pleite enden, so wie er es treibt... wie kann ein mensch, der arm war, und plötzlich zu geld kommt, bloss so blöd sein? Dasses nicht ewig anhält, vor allem, wenn man solche milchmädchenrechnungen wie er macht, kann er sich wohl an den fingern abzählen :rolleyes
    die dummheit des charakters nervt mich...

    DC :lesend


    Heinrich August Winkler: Geschichte des Westens I


    ...Darum Wandrer zieh doch weiter, denn Verwesung stimmt nicht heiter.
    (Grabinschrift F. Sauter )

  • Da gefällt mir die Bewertung von Pardise Lost besser: Selbstbetrug. Dummheit ist das nicht, sondern für die damalige Zeit für eine bestimmte Bildungsschicht- aus der Pip ja nicht kommt aber deren Leben er lebt- eher typisch. Deshalb ging "man" ja dann nach Indien, wo diese Typen als Offiziere - zum kaufen eines Offizierspatents reichte es meist noch- versuchten über die Runden zu kommen.

  • Für dumm halte ich Pip auch nicht, vielleicht noch immer für etwas naiv für sein Alter (ich schätze es eher auf 18 als auf 15/16). Ich würde es auch Selbstbetrug nennen.
    Und Schuldenmachen ist in diesen Gesellschaftskreisen die übliche Vorgehensweise. Traurig ist nur, daß Pip Herbert in seiner Verschwendungssucht mit hinabreißt in den Schuldensumpf.

    Joe ist ein wunderbarer Charakter und neben Wemmick meine Lieblingsfigur in diesem Roman.


    Dickens Beschreibung von Pips und Wemmicks Besuch in Newgate (Wemmicks Gewächshaus :grin) fand ich äußerst amüsant.


    Estella wird genau wie Pip von Miss Havisham manipuliert. Man möchte sie alle schütteln und die Fenster aufreißen, um mal frische Luft und Licht reinzulassen in diese Stickigkeit.

  • Geld verdirbt den Charakter und auf Pip scheint es wohl erstmal zu zutreffen. Leider zieht er auch seinen Freund mit rein, der eigentlich nur versucht mitzuhalten und seinen Träumen keine Taten folgen lässt.


    Joe's Besuch in London läuft mehr als unglücklich ab, man möchte Pip die ganze Zeit schütteln, ob er seinen Freund nun ganz vergessen hat.


    Miss Havisham läßt rufen und Pip springt, gibt es ihm doch die Gelegenheit Estella wiederzusehen. Leider überhört er wissentlich den ehrliche Moment in Estella's Worten, dass sie kein Herz, kein Gefühl habe.


    Pip's Schwester stirbt und auch auf deren Beerdigung benimmt sich Pip im Gespräch mit Biddy, wie ein Elefant im Porzelanladen. Irgendwann wird sein Glashaus zusammenfallen und mal sehen, wie er mit diesen Scherben klar kommt.
    Gut finde ich, das Biddy ihre bisher erreichte Bildung nutzen und als Lehrerin erweitern will. Pip sollte viel mehr auf sie hören!

  • verdorben ist das schöne wort, das ich suchte...


    Pip hat ein verdorbenes finanzgebahren, das mich zu tiefst abstößt, denn mir wurde schon als kleines kind eingetrichtert:
    1. man leiht sich kein geld, und man macht keine schulden
    2. man verleiht kein geld, und leistet keine bürgschaften
    3. man nimmt weder geld noch sonstige geschenke von fremden an


    ich finde a) das annehmen geldes aus unbekannter quelle skandalös, b) dass er noch dazu mehr davon ausgibt, als er bekommt, ist jenseits jeder kritik...


    diese umsichtslose antuscherei ist abgründig hirnlos und speibeproduzierend neureich...
    fakt ist, dass 'diese bestimmte bildungsschicht' zumeisst lebensuntüchtige exemplare hervorbrachte... dass man von den gentry's nichts halten darf wissen wir seit Austens Mr Eliot und dessen gleichgearteten neffen und hörten es zuletzt von Edward St. Aubyn...
    aber das hat weder mit bildungsschicht noch herkunft zu tun, es gibt 'lebenskünstler' auf pump in jeder schicht, und ich find sie als menschen schlicht und ergreifend widerlich...
    und Pip's avenger schlägt dem fass den boden aus;
    wenn's mein sohn wär, ich hätt ihn als Joe an dieser stelle hergfotzt...
    (*wünsch mir sehnlichst Mrs Joe's lucidität zurück, die hatte wenigstens finanziellen hausverstand*)

    DC :lesend


    Heinrich August Winkler: Geschichte des Westens I


    ...Darum Wandrer zieh doch weiter, denn Verwesung stimmt nicht heiter.
    (Grabinschrift F. Sauter )

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