Ich möchte jetzt schließen. Briefe vor dem Freitod - Udo Grashoff (Hg)

  • Kurzbeschreibung
    Nicht wegschauen, sondern hinsehen und zuhören, um den Freitod vielleicht zu verstehen - dazu fordert dieses Buch auf, das Abschiedsbriefe von Menschen versammelt, die den Suizid gewählt haben.
    Ob Dichter, Hausfrauen, Verbrecher, Polizisten oder Studenten - ihre Worte beleuchten eine Situation, die nach Jean Amry zu den Möglichkeiten jedes Menschen gehört: sein Leben durch eigene Hand zu beenden.


    Über den Herausgeber
    Udo Grashoff, geboren 1966, Historiker und Journalist, promoviert über Selbsttötung.


    Meine Meinung:
    Ich besitze dieses Buch schon seit einigen Jahren und lese immer wieder mal darin. Es scheint mir auch kaum möglich, es an einem Stück zu lesen, da die authentischen Abschiedsbriefe zum Teil so verstörend und bedrückend sind, dass es kaum mehr zu ertragen ist.
    Grashoff nimmt in seiner Einleitung Stellung zur Berechtigung dieses Buches:
    Es geht ihm in erster Linie darum, das Thema Suizid aus dem Tabustatus zu befreien und zu zeigen, dass Selbstmord ein Phänomen ist, das in allen Altersgruppen und sozialen Schichten auftritt.
    Grashoff betont, wie wichtig es ist, hinzusehen, den Blick nicht abzuwenden und will mit den Abschiedsbriefen nicht zuletzt Verständnis für etwas fördern, was den Zurückgebliebenen so völlig unverständlich scheint.
    Die Briefe wurden unverändert abgedruckt, Rechtschreibung und Zeichensetzung nicht korrigiert.
    Sofern über das Leben des Selbstmörders näheres bekannt ist, ist dies im Anschluss an den jeweiligen Brief protokolliert.
    Die Gründe für die Entscheidung, nicht mehr am Leben sein zu wollen, die sich aus den Briefen herauslesen lassen, sind oftmals die gleichen:
    Verlust des geliebten Partners durch Tod oder Trennung oder auch Existenzängste aufgrund der persönlichen beruflichen Situation.
    Ich möchte jetzt schließen ist ein gnadenloses, ein schmerzhaftes und deprimierendes Buch und gerade deshalb ungeheuer wichtig.
    Denn es romantisiert nicht, sondern zeigt die verzweifelte Realität von Menschen, die keinen anderen Ausweg mehr sahen, als ihr Elend selbst zu beenden, auf erschreckend authentische Art und Weise und zwingt damit zum Nachdenken.

  • Wieder was für mich :angel: Danke für die Rezi

    LG, Uhu :katze


    Bücher bergen mehr Schätze als jede Piratenbeute auf einer Schatzinsel... und das Beste daran ist, daß man diese Reichtümer an jedem Tag im Leben aufs neue genießen kann. (Disney, Walt)

  • Die Rezi hört sich auch für mich sehr interessant an...aber irgendwie trau ich mich nicht wirklich, ich heul ja eh schon immer gleich los.

    LG Melanie
    :lesend


    „Egal wie tief man die Messlatte des geistigen Verstandes eines Menschen legt, es gibt jeden Tag jemanden der bequem darunter durchlaufen kann!“

  • Dieses kleine Buch erschien erstmals 2004. Thema und Material, die im Titel genannten Briefe vor dem Freitod, gehen aus einer wissenschaftlichen Untersuchung hervor über Selbsttötungen in der DDR, an der der Autor damals noch arbeitete. Sie ist 2006 unter dem Titel: In einem Anfall von Depression - Selbsttötungen in der DDR erschienen.


    Briefe Verstorbener zu lesen, enthält immer auch ein voyeuristisches Element, sind es Briefe von Menschen, die gegen eines der letzten und größten Tabus unserer Gesellschaft verstoßen, nämlich dem ‚natürlichen’ Tod vorzugreifen, kann man durchaus Sensationslüsternheit addieren. Das kann einen zögern lassen, zu diesem Buch zu greifen.
    Zögern lassen kann einen gleichfalls die Erkenntnis, daß es hier um echtes Leid geht. Es sind keine erfundenen Geschichten, das Buch ist kein Roman.
    Tatsächlich soll man sich von beiden Vorbehalten auf gar keinen Fall hindern lassen, das Buch zu lesen. Man soll sie allerdings beim Lesen im Hinterkopf behalten, sie machen die Lektüre nur noch reicher.


    Grashoff bietet etwas Besonderes. Zum einen gewährt er den LeserInnen einen recht unbeeinflußten, freizügigen und offenen Blick auf das Thema Selbsttötung, zum zweiten auf Betroffene.
    Das Buch besteht aus zwei Teilen. Eine Einführung von knapp 30 Seiten gibt einen Abriß der unterschiedlichen Aspekte des Themas. Das beginnt bei der Begrifflichkeit: Selbstmord/Selbsttötung/Freitod, beleuchtet philosophische, medizinische und psychologische Erklärungsmuster und versucht Deutungen aus den Zeugnissen, den Briefen, über die Vorstellungen derjenigen, die ihrem Leben ein Ende gesetzt haben. Dabei geht es nicht so sehr um den Anlaß und den letztendlichen Auslöser der Tat, sondern um die beabsichtigte Wirkung der Tat und ihre Folgen für Überlebenden. Der letzte Brief ist ein letzter Versuch, in einen Dialog einzutreten, sich mitzuteilen, auf offene Ohren zu stoßen. Aber auch anzuklagen und dem persönlichen Leid noch einmal Ausdruck zu geben.
    Von daher kommt dann auch die Aufforderung des Autors, zuzuhören, zu versuchen, zu verstehen, und nicht zu verurteilen.


    Die fünfzig abgedruckten Briefe stammen nicht nur von Menschen aus der DDR, sondern auch aus der BRD, ein Teilkapitel ist dem Vergleich der beiden Staaten gewidmet. Wichtig ist hier vor allem, daß dem immer noch herumgeisternden Vorurteil, die Selbstmordrate sei in der DDR höher gewesen als in der BRD, weil die DDR die DDR war, gründlich widersprochen wird, mit dem längst bekannten, aber nicht sehr verbreiteten Argument, daß das Staatsgebiet der DDR zwei ‚klassische’ Selbstmordgebiete umfaß, Sachsen und Thüringen, die bereits im 19. Jh. auffällige Selbstmordraten zeigen.
    Eingegangen wird auch auf den Zusammenhang zwischen Selbsttötung und Politik, wobei deutlich wird, daß das individuelle, private Leid, unglückliche Liebe, Arbeitslosigkeit, drohende Anzeigen wegen Unterschlagung, Schulden, Krankheit, Verzweifeln an einer Welt ohne Frieden im Vordergrund steht, und die Selbsttötung als politisches Zeichen eher selten vorkommt.


    Die Einführung schließt optimistisch, die Selbstmordraten sind seit 1980 am Sinken. Gründe dafür sind vielfältig und uneinheitlich, sie reichen von der Entgiftung von Stadtgas bis zur verbesserten medizinischen und psychologischen Prävention.
    Auch nicht vergessen wird die Frage der Satire von Selbstmord. Grashoff vertritt einen Standpunkt, über den man ruhig nachdenken kann:
    „Spott, Ironie, Häme - das herabwürdigende Lachen der anderen ist etwas, das Menschen die abgrundtief verzweifelt sind, im besten Fall wütend machen kann; Wut ist Leben.“


    Die abgedruckten Briefe stammen aus einem Zeitraum von den fünfziger Jahren bis Ende der Achtziger, es sind nicht alle datiert. Die letzte Nachricht kam, rundum zeitgemäß, 2001 per SMS.
    Sie sind nicht in jedem Fall im Original überliefert, sondern stammen zum Teil aus älteren Publikationen zum Thema, meist wissenschaftliche Untersuchungen. Ich war mir nicht immer sicher, ob die Texte in jedem Fall vollständig sind, zumindest bei einem Brief wird noch auf eine Fortsetzung verwiesen.
    Wenn auch die Auswahl allein auf den Herausgeber zurückgeht, so zeigen die Briefe doch, daß Selbsttötung quer durch Berufs - und Alterklassen geht, Hausfrauen, Studenten, Polizisten, Ärztin, Teenager. In jedem liegt Fall ein völlig individuelles Schicksal zugrunde. Die Gründe weisen die gesamte Vielfalt auf, die ein Menschenleben mit sich bringt.


    Es ist bedrückende Lektüre, aber man kann Dutzende von Beobachtungen machen.
    Da machen sich die Scheidenden Gedanken über unbezahlte Rechnungen, äußern Wünsche für die eigene Beerdigung, schreien Rache, verteidigen sich, klagen an. In einem Fall zog der Abschiedsbrief, der eine versteckte Schuldzuweisung enthielt, prompt die Adressatin auch in den Tod. Dennoch scheint eine Erkenntnis die zu sein, daß diejenigen, die gehen, das Leben vor Augen haben und nicht das, was eventuell nach dem Tod mit ihnen geschieht. Bezugnahmen religiöser Natur sind fast nicht vorhanden.
    Schreckenerregend sind Briefe von Menschen, die nicht nur sich töten, sondern auch Angehörige, ihre Kinder etwa, in einem Fall einen zufällig vorbeigekommenen Bekannten.


    Durch die Zusatzinformationen, die de facto mager genug sind, entsteht beim Lesen aus jedem Abschiedsbrief, sei er noch so ungeschickt formuliert, die Geschichte eines individuellen Lebens. Erklären kann man die Tat aber nicht wirklich. Zuviel bleibt offen. Aber man kann sehr lange darüber nachdenken.
    z.B. über das unsensible, geradezu fahrlässige Verhalten von DDR-Behörden gegenüber einer Studentin, die behauptete, vergewaltigt worden zu sein, komplizierterweise von einem Studenten aus der Sowjetunion, über den Mörder, der sich umbringt, ehe er noch mehr Menschen tötet, ihnen das Leben aber nur schenkt mit dem Wunsch, sie mögen qualvoll sterben.
    Oder über den knapp 17jährigen Schüler, der ein für die Altersstufe typisches Gedicht voll Pathos hinterläßt, das dennoch einige Formulierungen enthält, die einfach nur schön sind. ‚An mir ist kein Dichter verloren gegangen’, schreibt er zum Schluß. Wenn ich seine Zeilen lese, muß ich sagen: Doch, die Möglichkeit besteht hier durchaus.


    Hin und wieder wird die Methode der Selbsttötung beschrieben, es ist sichtlich alles andere als leicht, sein Leben zu beenden. Denkt man ein wenig nach, geht einem auch auf, daß das Resultat alles andere als ästhetisch ist. Von daher gesehen, räumt Grashoff mit etwaigen romantischen Vorstellungen über das Sterben von eigner Hand auf.


    Das Ganze ist, auch wenn es eigenartig klingt angesichts des Themas, im Grund ein Buch über das Leben. Es ist alles andere als schöne Lektüre, aber man muß sie einfach empfehlen.

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Ich habe mir das Buch auf Grund der Rezi "still und heimlich" gekauft und bisher nur diagonal hineingesehen. Nun werde ich doch versuchen, es noch für August lesemäßig einzuplanen.

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")

  • Ihr seht mich verdutzt.
    :wow


    Ich bin bloß eine stille, unauffällige ältere D a m e (und tue mir deswegen nicht im Geringsten leid ;-) )



    Danke für die Blumen!



    :wave


    magali (verwundert an dem unerwarteten Strauß schnuppernd)

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Ich habe das Buch jetzt auch gelesen. Es ist bedrückend, erschreckend und manchmal blieb ich einfach auch nur beim kopfschütteln. Bei dem ein oder anderen Abschiedsbrief hatte ich Tränen in den Augen vor allem wenn Unschuldige mit genommen wurden in den Freitod.
    Ein Buch das einem die Augen öffnet und aufzeigt in welchen "Ausnahmesituationen" die Briefschreiber sich teilweise befanden auch wenn ich den von ihnen genommen Weg oft nicht verstehen konnte.

    LG Melanie
    :lesend


    „Egal wie tief man die Messlatte des geistigen Verstandes eines Menschen legt, es gibt jeden Tag jemanden der bequem darunter durchlaufen kann!“

  • Das man das Thema Selbstmord aus den Tabuthemen unserer Gesellschaft heraus holen möchte, finde ich schon eine gute Idee. Aber muss das auf diese Art und Weise geschehen? Ich finde, die original Abschiedsbriefe abzudrucken und sie der Öffentlichkeit preiszugeben ist falsch. Schließlich sind diese Briefe etwas ganz persönliches, ganz intim, und somit nichts für "jeden".
    Ich könnte so ein Buch gar nicht lesen und will es auch gar nicht. Und das nicht nur weil ich persönlich betroffen bin, sondern weil ich finde dass das der falsche Weg ist um das Thema aus der Tabuzone hinauszuholen!

  • Vielen lieben Dank für die super Rezi! Ich werde mich auch mal mit diesem Buch befassen müssen,ich kann nur sagen es ist ganz furchtbar wenn ein Mensch diesen Schritt begeht. Ein guter bekannter von mir hat sich das Leben genommen aber hat keinen Abschiedsbrief hinterlassen. Keiner weiß warum,es ist sehr schlimm und man kann als Bekannter es garnicht verstehen wenn es so plötzlich kommt. Für uns war kein Grund da aber für die Person die das tut ist immer ein Grund da. :-(


    ich habe mich früher nie damit beschäftigt aber jetzt ist es für mich aktuell und ich möchte es irgentwie verstehen können wie es soweit kommen kann.

    Der Sinn des Lebens hängt von der Beschaffenheit deiner Gedanken ab. :grin


    :lesend Elfenzeit-Merlins erwachen von Cathrin Hartmann