Verlag: Carlsen
Seiten: 287
Originaltitel: The London Eye Mystery
Übersetzung aus dem Englischen: Salah Naoura
Altersempfehlung vom Verlag: ab 11 Jahren
Rückentext:
Menschen lösen sich nicht einfach so in Luft auf, oder? Doch genau das scheint mit Teds Cousin passiert zu sein - Salim ist nämlich in eine Gondel des Londoner Riesenrades gestiegen und nicht wieder unten angekommen.
Ist Salim in eine Zeitschleife geraten und sitzt in einem Paralleluniversum fest?
(Eine von Teds acht Theorien)
Oder ist er entführt worden?
(Das glaubt Tante Gloria)
Und ist er überhaupt noch am Leben?
(Aber das sagt keiner)
Diese Geschichte handelt davon, wie Ted und seine große Schwester Kat jede Spur verfolgen, um Salim zu finden. Und dabei spielen der Dodo, das Wetter, 18 Fotos von einer Wäscheleine auch eine Rolle ....
Über die Autorin:
Siobhan Dowd, in London geboren, stammt aus County Waterford, Irland, und verbrachte dort einen großen Teil ihrer Kindheit. Sie ging in London auf eine katholische Schule und studierte in Oxford. Dort lebte sie zusammen mit ihrem Mann Geoff, bis sie im August 2007, im Alter von 47 Jahren an Krebs starb. Nach "Ein reiner Schrei" und "Der Junge, der sich in Luft auflöste" werden noch zwei weitere Romane von Siobhan Dowd bei Carlsen erscheinen.
Eigene Zusammenfassung:
Der Hurrikan Gloria naht. So kündet Teds Vater den Besuch der stürmischen Tante aus Manchester an. Sie und ihr Sohn Salim bleiben für zwei Tage zu Besuch, bevor sie nach New York fliegen, wo Tante Gloria einen neuen Job bekommen hat. Erst ist Ted ja gar nicht begeistert. Da soll ein Fremder mit in seinem Zimmer schlafen, da kann er ja gar nicht in der Nacht den See-Wetterbericht hören! Denn Ted ist absolut fasziniert vom Wetter, er plant bereits eines Tages ein großer Meteorologe zu werden.
Aber Salim ist ein sehr netter Junge und Ted kann sich wieder beruhigen. Am nächsten Tag geht die Familie mit den beiden in die Stadt, Salim soll einmal mit dem berühmten Riesenrad fahren. Doch die Schlange ist furchtbar lang und Tante Gloria wird ungeduldig, so dass die Mütter sich in ein Café zurückziehen. Da kommt plötzlich ein Fremder und bietet den Kindern eine Freikarte an. Es wird entschieden, dass Salim fahren soll, weil er als Einziger noch nie im Riesenrad war. Und als Ted und seine große Schwester Kat nach einer halben Stunde darauf warten, dass Salim aus der Gondel steigt, erleben sie eine böse Überraschung: Ihr Cousin ist weit und breit nicht zu sehen.
Die Erwachsenen, allen voran Tante Gloria, geraten in Panik. Kat und Ted müssen auf eigene Faust versuchen etwas über Salims Verschwinden zu erfahren, denn niemand will ihnen zuhören. Das ist gar nicht so einfach, denn eigentlich verträgt sich Kat nicht so besonders mit ihrem Bruder. Der benimmt sich immer so komisch. Weil sein Gehirn nämlich mit einem anderen Betriebssystem läuft als das anderer Leute. Aber vielleicht ist ja genau das der Schlüssel um etwas zu entdecken wo normale Gehirne versagen...
Meine Rezension:
Vom Rückentext her hatte ich einen Kinderkrimi mit einer Prise schrägen Humors erwartet. Das ist zum Teil auch richtig, aber eben nicht alles. Der Hinweis, dass Teds Gehirn mit einem anderen Betriebssystem läuft ist nicht einfach so dahingesagt. Denn Ted ist etwas anders, als die anderen Leute um ihn herum. Er ist sehr gut darin, komplexe Systeme mit vielen Variablen zu verfolgen, deshalb liebt er auch das Wetter. Aber er hat Probleme mit sozialen Beziehungen, kann die Körpersprache von Menschen nicht intuitiv verstehen (sein Lehrer hat ihm ein 5-Punkte-Erkennungsschema gegeben: Mundwinkel nach oben: fröhlich, etc.) und mag es auch nicht, wenn man ihn anfasst oder umarmt. Das erste Anzeichen, dass mich aufhorchen lies, war das ständige Erklären von Redewendungen (ähnlich, wie das auch in "Eine Reihe betrüblicher Ereignisse" der Fall ist), denn Ted nimmt alles was man ihm sagt wörtlich (wobei er bei manchen Redewendungen durchaus recht mit dem Nachfragen hat; was hat denn z.B. ein zusätzlicher Zahn mit der Geschwindigkeit zu tun?). Später, erfährt man, dass Ted ein "Syndrom" hat, und zwar eines, das angeblich auch Einstein und Warhol hatten. Näher wird darauf nicht eingegangen. Nach kurzer Recherche kann man herausfinden: Es handelt sich wohl um das Asperger-Syndrom, eine leichtere Ausprägungsform des Autismus.
Der Leser erlebt dieses Syndrom aus erster Hand mit, denn der Roman wird aus Teds Ich-Perspektive erzählt. Aber es kommt einem eigentlich gar nicht so schlimm vor. Er hat eine Familie die ihn liebt und die ihn, bis auf seltene Ausnahmen, ernst nimmt. In der Schule wird er wohl zwar von einigen Jungen gehänselt, aber sein Lehrer mit dem bezeichnenden Namen Mr. Shepherd ist sein Freund und kümmert sich um ihn. Nur an einigen wenigen Stellen hört man heraus, dass es auch Momente gibt in denen Ted sich wünscht kein „Syndrom“ zu haben, aber er ist alles andere als ein tragischer, kranker kleiner Junge.
Als Teds Denkvermögen vor eine so komplexe Aufgabe wie das Lösen dieses Kriminalfalles gestellt wird, versucht er sie wie der große Sherlock Holmes anzugehen. Zum Glück hilft Kat zu ihm, die ihn von den umwahrscheinlichsten Theorien (spontane Selbstentzündung und Zeitschleife im Paralleluniversum) gleich wieder abbringt und den praktischen Teil der Nachforschungen übernehmen kann. Ein Teil der Lösung ist für den aufmerksamen Leser nicht allzu schwer zu erraten, aber das war bei einem Kinderbuch auch nicht unbedingt anders zu erwarten. Dafür wird viel mehr Wert auf die Charaktere, vor allem Ted, gelegt und diese liebevoll ausgestaltet.
Das Cover gefällt mir außerordentlich gut, es passt zum Inhalt des Buches (auch wenn der Junge etwas jünger als 12 Jahre auf mich wirkt). Ich habe es immer mal wieder bewundert, wenn ich das Buch zugeschlagen habe. Schade, dass man von Ted wohl keine weiteren Geschichten mehr lesen wird, da die Autorin ja letztes Jahr verstarb. Ich hätte mir für ihn noch gut eine Fortsetzung vorstellen können.
Fazit: Ein schönes und warmherziges Kinderbuch mit der Geschichte eines ungewöhnlichen Jungen. Sein „Syndrom“ ist zwar einerseits allgegenwärtig, aber es wird andererseits doch nicht näher darauf eingegangen. Es gehört für den Protagonisten und seine Familie zum Alltag, was dem Leser merkwürdig erscheint ist für sie normal und nicht weiter erklärungsbedürftig. In manchen Bereichen mag Teds Besonderheit für ihn ein Hindernis sein, in anderen aber ist es ein Riesenvorteil, der es ihm ermöglicht Dinge aus einem neuen Blickwinkel wahrzunehmen, den andere nicht haben. Dieses Buch ist ein Aufruf zur Toleranz gegenüber andersartigen Kindern, seien es nun Ausländer, Kranke oder vermeintlich „Blöde“. Es zeigt auf unverkrampfte, leicht verständliche Art, dass der Unterschied doch gar nicht so groß ist, und einer vom anderen profitieren kann. 8 von 10 Punkten.