Hermynia Zur Mühlen (1883 - 1951) war eine bekannte Schriftstellerin und Übersetzerin der 20er und 30er Jahre des letzten Jahrhunderts. Sie entstammte dem österreichisch-ungarischen Adel, ihre Lebensziele waren jedoch ziemlich früh schon sozialreformerisch und schließlich sozialistisch ausgerichtet. Ab 1919 lebte sie in Deutschland. Neben Übersetzungen schrieb sie Jugendbücher, moderne Märchen für Arbeiterkinder und Romane. Eine Erzählung über einen Angehörigen der Schutzpolizei, der sich für die KPD ausspricht, brachte ihr 1924 einen Hochverratsprozeß ein. 1933 emigrierte sie nach Österreich, 1938 in die Tschechoslowakei, 1939 nach England, wo sie bis zu ihrem Tod als Schriftstellerin und Übersetzerin lebte. Ihre Bücher erfuhren das Schicksal, das die Bücher der meisten ‚verbrannten’ Autorinnen und Autoren erfuhren, sie wurden nach dem Krieg bald vergessen. Einige wenige wurden nachgedruckt, in Österreich vor allem, ein paar mehr in der DDR. Erst seit der Jahrtausendwende wird sie langsam wiederentdeckt.
Mit dem kleinen Roman ‚Unsere Töchter, die Nazinen’, der mit seinen nicht einmal 150 Seiten wohl eher eine Erzählung ist, nimmt sich Zur Mühlen eines Themas an, das mir in dieser Art noch nie untergekommen ist. Drei Mütter erzählen abwechselnd, wie ihre Töchter zu Anhängerinnen des Nationalsozialismus werden. Drei Mütter, drei Stimmen, drei unterschiedliche Blickwinkel nicht nur auf die nachfolgende Generation, sondern auf den Aufstieg und die Ausbreitung des Nationalsozialismus in Deutschland.
Als erste kommt die Arbeiterfrau Kati Gruber zu Wort. Kati war Dienstmädchen im Haushalt der Gräfin von Saldern, verliebte sich, zu ihrem Schreck in einen Sozialdemokraten, und findet unter dem Einfluß ihres Mannes dann selbst zur SPD. Die Tochter Toni wird geboren, wächst auf, das Familienleben ist glücklich, trotz der Bedrückungen durch den Ersten Weltkrieg und die anschließende Krisenzeit. Katis Mann stirbt überraschend, Kati muß sich dem kärglichen Leben einer Arbeiterwitwe stellen. Toni hat Glück und findet trotz der aufdämmernden Wirtschaftskrise Arbeit. Zuletzt holt die Krise aber auch sie ein. Unter diesem Druck entdeckt Toni eine neue politische Bewegung, die eine Lösung für alle Probleme verspricht. Kati muß zusehen, wie ihre Tochter immer mehr in die Fänge der Nazis gerät.
Die zweite Mutter ist Gräfin Agnes von Saldern, ihre Geschichte und die ihrer Tochter Claudia, erfahren wir aus ihren Tagebuch. Die Gräfin ist schon eine ältere Frau, über sechzig Jahre. Sie war unglücklich verheiratet und lebt nach wenigen unschönen Ehejahren in ihrer Villa am Rand der kleinen Stadt am Bodensee, wo die Geschichte spielt. Sie liebt Musik und Bücher und läßt das Leben lieber an sich vorüberziehen, als sich neuen Enttäuschungen auszusetzen. Sie ist freundlich und hilfsbereit, aber sie zieht eine harmonische Traumwelt allem anderen vor. Claudia dagegen leidet unter der aufgezwungenen Abgeschiedenheit, sie erstickt fast vor Langeweile und Frust. Der Kontakt mit Nazis ist für sie, die alte Junger nach den damaligen Begriffen (sie ist um die Dreißig) geradezu ein Lebensquell. Voll Eifer stürzt sie sich in diesen vermeintlich belebenden Strom. Sie wettert gegen die alte Zeit und gegen die alte Generation. Kunst und Literatur sind auf einmal Geistererscheinungen aus einer Zeit, die hinweggefegt gehört, Gott ein Hohn. Das Leben hat Gräfin Agnes eingeholt.
Die dritte ist die Ehefrau des Arztes, Martha Feldhüter. Sie erzähl, zuerst flüsternd, dann immer lauter werdend, von ihrem wunderbaren Aufstieg zur angesehensten Frau der ganzen Stadt. Das zu werden, war immer ihr Lebensziel. Sie war Krankenschwester, heiratete aus Karrieregründen einen Arzt, der sie eigentlich abstößt, und der ihr dann doch nicht bieten kann, was sie sich wünscht. Er ist seinerseits ein Karrierist, der vor allem eines kann. abwarten. Als die Nationalsozialisten sicher an der Macht sind, wird er Parteimitglied. Dem unaufhaltsamen Aufstieg von Frau Martha steht nichts mehr im Weg. Auch die Tochter Lieselotte nicht. Lieselotte ist eine moderne junge Frau, die vor allem ihr Leben genießen möchte. Gelegentlich rebelliert sie ein bißchen, aber wenn es dem guten Leben dienlich ist, ist sie auch bereit, einen hohen Nazifunktionär zu heiraten. Lieselotte hat gar keine Überzeugungen, sie ist zynisch. Im Leben muß man einfach überleben, und zwar so gut wie möglich. So hat sie sich eingerichtet.
Die sechs Lebensläufe nun kreuzen oder verbinden sich im weiteren Ablauf der Ereignisse. Das Ganze ist kunstvoll aufgebaut, die drei Mütter kommen abwechselnd zu Wort, jede zweimal. Kati, die Sozialdemokratin, hat das erste und das letzte Wort, die eher stille Gräfin gewährt uns Einblicke in ihr Tagebuch an zweiter und an vorletzter Stelle. In der Mitte, Kapitel drei und vier, lebt sich Martha aus.
Der Autorin gelingt es, tatsächlich drei unterschiedliche Stimmen laut werden zu lassen. Kati, zwischen Resolutheit, sozialdemokratischer Überzeugung und Resignation schwankend, Agnes vornehm-ästhetisch zartfühlend, bis schließlich eine geradezu urmütterliche Wut aus ihr herausbricht, und Martha, anpasserisch-schleimig, die Tatsachen so oft verdrehend, bis sie am Ende ihre eigenen Lügen glaubt.
Die Geschichte erlaubt eine fesselnde Innensicht auf die Ausbreitung des Nationalsozialismus in einer kleinen Stadt am Bodensee 1933. Man spürt die Angst, die Schrecken der Verfolgung, das Unverständnis gegenüber der nackten Gewalt, das ängstliche Zurückweichen der Menschen. Nicht wenige Erklärungen für den Zustrom zu den Nazis werden am Beispiel von Nebenfiguren durchgespielt. Immer wirbt die Autorin für Verständnis.
In ihrem Urteil über führende Nazis dagegen ist sie radikal, ihre Anklage umfassend.
Man spürt das Entsetzen Zur Mühlens, die Dringlichkeit ihres Anliegens, nämlich der Herrschaft der Nazis ein schleuniges Ende zu bereiten.
"Deutschland erwache“, sagt eine der Protagonistinnen. „Dieses Wort müssen wir den Feinden nehmen. ... Dieses Wort müssen wir verkünden. Deutschland, erwache! Mach die Augen auf und sieh, was dir geschehen ist!“
Der Konflikt zwischen Müttern und Töchtern ist gleichfalls durchaus facettenreich geschildert. Verständigungsprobleme, Fehler in der Erziehung, die Unüberbrückbarkeit von Ansichten über eine Generation hinweg werden thematisiert. Verblüffend moderne Ansichten über die Ehe und die Aufgaben von Ehepartnern kommen zutage. Modern auch so manche Ansicht über Sexualität.
Modern die Erzähltechnik, mit der Zur Mühlen immer wieder einmal ein - und dasselbe Ereignis von jeder der drei Protagonistinnen anders erzählen läßt, ohne zugleich alle Zusammenhänge preiszugeben. Auch die Verbündeten unter den Frauen wissen nicht alles über die jeweils andere, vor allem nicht in akuten Krisensituationen. Das trägt dazu bei, daß alle Frauenfiguren eigenständige Personen bleiben.
Hochinteressante Lektüre, als Roman ebenso, wie als Zeitdokument. Es ist sehr aufschlußreich zu lesen, wieviel in Deutschland selbst über Verfolgung von Gegnern des Regimes wie Juden bekannt war - das Buch entstand ja in den Dreißigern, das muß man sich immer wieder klarmachen beim Lesen - wieviel Hoffnung es aber auch gab, daß man dem allem ein baldiges Ende bereiten könnte. Ganz deutlich wird, welche Schrecken der Alltag bot, wie man sich verstellen mußte, weil überall Spitzel lauerten, nicht einmal vor Nachbarn war man mehr sicher. Daß manche Personen ein wenig überlebensgroß geraten sind, liegt auch am Thema und an der Grundaussage des Buchs, es ist ein Aufruf zum Widerstand.
Dennoch sind die inneren wie äußeren Konflikte überzeugend beschrieben ebenso die Entwicklung, die die Frauen durchmachen.
Das Buch erschien 1938 in Wien, der Einmarsch der Nazis verhinderte eine größere Verbreitung. Dennoch waren Nachdrucke nach dem Krieg möglich. 2000 erschien es in einer kommentierten Ausgabe in Wien. Diese Ausgabe liegt mir allerdings nicht vor, meine Rezension bezieht sich auf eine alte Taschenbuchausgabe des Aufbau-Verlags der DDR.