Gore Vidal: Julian. dt. von Philipp Weiler. TB, 608 S. btb, München 1999. ISBN 3-442-72508-9; vergriffen
OA Gore Vidal : Julian. TB, 544 S. Abacus Books 1993. ISBN 0349104735; ca. 18-20 Euro.
Klappentext (z.T. nach der btb-Ausgabe):
Ein Kaiser erzählt sein Leben: Flavius Claudius Julianus (331-363), der Neffe Konstantins des Großen, des ersten christlichen Kaisers. Nach seinem Regierungsantritt im Jahr 361 bekennt sich Julian zum alten Götterglauben. Doch sein Versuch, dem Christentum ein erneuertes Heidentum entgegenzustellen, scheitert. Die Christen nennen Julian den "Abtrünnigen" und leisten ihm offenen Widerstand ...
Julian wurde zwar im christlichen Glauben erzogen, war aber seit seiner Jugend ein Verehrer der "heidnischen" Geistes- und Götterwelt. Heimlich studierte er die alten Mythen und Philosophen, immer in der Angst, wie fast seine ganze übrige Familie der Mordlust seines Vetters Constantinus zum Opfer zu fallen, der seine Herrschaft durch Julian und dessen Bruder Gallus gefährdet sah.
355 wurde Julian zum Cäsar ernannt und mit dem Schutz Galliens beauftragt. Im Jahre 360 riefen seine Truppen ihn zum Augustus aus, und es wäre sicherlich zur militärischen Auseinandersetzung mit Constantinus gekommen, wäre dieser nicht plötzlich gestorben. Julian wurde sein alleiniger Nachfolger. Siegreich zog er gegen den persischen Großkönig Sapor zu Felde, kam aber schließlich bei einem Scharmützel durch einen römischen Speer zu Tode.
Über den Autor (nach der btb-Ausgabe):
Gore Vidal (Eugene Luther Vidal Gore), 1925 auf dem Gelände der amerikanischen Militärakademie in West Point geboren, wuchs bei seinem Großvater, dem legendären blinden Senator Thomas Pryor Gore, auf. Nach dem Schulabschluß ging er mit 17 zur Armee. Als Marineoffizier nahm er am Zweiten Weltkrieg teil. Sein erstre Roman (Willawaw) wurde 1946 veröffentlicht; zahlreiche Romane und Theaterstücke folgten. Gore Vidal gilt neben John Updike und John Irving als einer der bedeutendsten amerikanischen Autoren der Gegenwart.
Gore Vidal betätigt sich nicht nur als Schrifsteller, sondern ist auch seit dem Zweiten Weltkrieg politisch aktiv; er war u.a. Berater von John F. Kennedy, während dessen Präsidentschaft. Seine zeitgenössischen Romane waren in vielen Fällen thematisch ihrer Zeit voraus und beschäftigten sich mit den ethischen Fragen, die anstehende politische Entscheidungen und Entwicklungen nach sich ziehen. Seine historischen Romane, die Persönlichkeiten der US-Geschichte (George Washington, Abraham Lincoln, Theodore Rooseveldt) oder der Antike und frühen Hochkulturen (Julian Apostata, Jesus, Kyros) behandeln, streifen immer aktuelle Probleme und ziehen in intelligenter Weise Parallelen zum Jetzt.
Vidal Gore ist einer der profiliertesten und zugleich schärfsten Kritiker des politischen Systems der USA und zugleich ein Mann, der seine Heimat wie kaum ein anderer liebt -- vielleicht noch wie Philipp Roth.
Meine Meinung über den Roman:
Julian erschien 1964/65; von daher ist es schwer, den Roman rein als historischen Roman zu betrachten und nicht als Schlüsselroman zur Person der legendären US-Präsidenten John F. Kennedy, dessen Berater Gore Vidal zuvor gewesen war. Und dennoch muß dieses Projekt den Autor zuvor viele Jahre lang beschäftigt haben, was ihn nachgeradezu visionär erscheinen lässt.
Detailliert läßt Gore Vidal eine versunkene Welt wiederaufleben und Revue passieren; die ethische Korruption der Mächtigen, die krude Gradlinigkeit des religiösen Fanatismus -- all das findet sich gespiegelt sowohl im Konstantinopel des 4. Jhs. als auch in den Machtzentren der Vereinigten Staaten des 20. Jhs. Gore Vidal gelingt das ohne Abstriche bei der Überlieferung machen zu müssen. "Seine" Spätantike ist die Geisteswelt des 4.Jhs. und kein ideologischer Abklatsch. Und auf dieser Basis spürt er die Parallelen auf.
Julians Besonderheit liegt darin, daß er sich der Korrumpierung durch Reichtum und Macht mit aller Kraft seiner Gesinnung und seiner philosophischen Bildung entgegenstemmt -- und ebenso der Idiotie der religiösen Fanatiker. Heide aus Berugfung ist er durch und durch ein zutiefst christlicher Mensch. Sein Fehler ist, die Auswüchse, den Fanatismus für den Irrglauben zu halten, dem er mit dem Mut der Verzweiflung eine wiederbelebten heidnische Religion entgegenstellen will, nachdem er keinen Weg mehr sieht, das System von innen heraus zu erneuern.
Formal handelt es sich um eine Mischung zwischen Briefroman und fiktiven Aufzeichnungen, ein Kunstgriff, mit dem Gore Vidal eine Atmosphäre von Authentizität erschafft, die den ganzen Text durchzieht.
Bei aller Trauer und Bitterkeit über den Untergang Julians (ebenso wie John F. Kennedys) durchweht ein unerschütterlicher, wenn auch wehmütiger Optimismus und Glaube an den Menschen den Roman.
Überaus lesenswert!