Was darf Literatur?

  • Pathetisch? :wow


    Ich würde es eher verärgert nennen. Meiner Meinung nach gibt es zwar durchaus bessere Bücher als "Feuchtgebiete", die ähnlich viele Leser und Diskussionen verdient hätten (sogar in Programmierforen wird über diesen Roman gesprochen), aber es überschreitet einfach mein Verständnisvermögen, wenn sich Leute für zwanzig Öcken ein Buch kaufen, von dem inzwischen sogar Stammzellenforschungsembryonen wissen, was darin abgeht, um anschließend fassungslos-merkbefreite Kommentare abzusondern. Wer sich einen Pornofilm ansieht und danach die fehlende Emotionalität und Bindungsfähigkeit der Protagonisten kritisiert, sollte mal nachträglich die Strahlendosis messen lassen, der er während der eigenen Geburt ausgesetzt war. Davon abgesehen nervt es mich einfach, wenn Leute etwas tun, nur weil es alle anderen auch tun. In diesem Fall: Ein Buch kaufen.

  • Zitat

    Original von beowulf
    Man sollte nie vergessen, dass die tödlichste Waffe das geschrieben Wort ist und natürlich in langfristiger Entwicklug auch solche Bücher Veränderungen- nicht immer zum Positiven- bewirken. Nichtsdestotrotz die Freiheit der Literatur, die Freiheit des Lesers/der Leserin sind dabei immer das höchste Gut.


    Absolut richtig!

  • Zitat

    Original von Tom
    Autoren dürfen alles. Es ist eine Aufgabe der Literatur, den Gedanken zuende zu denken, den andere nicht einmal aussprechen würden. Literatur lotet Grenzen aus, reißt Abgründe auf, zeigt (fiktive) Menschen in (fiktiven) Situationen, die hoffentlich oder vielleicht niemals stattfinden. Literatur experimentiert mit der Realität. Meistens macht sie das auf sehr beschauliche und wenig verstörende Weise, manchmal aber eben auch nicht. Wer etwas liest, lässt sich auf ein Risiko ein. Es ist nicht die Aufgabe von Autoren, vor diesem Risiko zu schützen. Wer damit nicht zurechtkommt, sollte seine Lektüre auf Arztromane und Walt Disneys lustige Taschenbücher beschränken.


    Wow, das ist mal ne Aussage!
    Als ich das gerad gelesen hab, dachte ich zuerst: Was? Alles? Wo bleibt da die Verantwortung? Doch dann kam mir in den Sinn, dass die Vermarktung von Büchern ganz anders läuft als bei Musik zum Beispiel. Natürlich tun auch Autoren alles um ihre Bücher an den Mann zu bringen, aber letztlich scheinen sie wirklich alles zu dürfen, wie du sagst (siehe Erfolg von "Feuchtgebiete" :wow ). Was der Verlag und alle drum herum dazu sagen, ist ja dann ne andere Geschichte. ;-)
    Allerdings möchte ich doch noch hinzufügen, dass Autoren nicht fiktive Dinge als real darstellen sollten (in welchem Zusammenhang auch immer). Dass sie das auch tun, ist ne andere Sache, aber ich glaube da kommt wenigstens ein Stück Verantwortung durch. :unverstanden
    Vllt. merkt man, dass ich gerad noch dabei bin über die ganze Sache nachzudenken. :gruebel Sehr interessante Diskussion!

    :lesend Ich lese gerade: "Carry On" von Rainbow Rowell und "Mansfield Park" von Jane Austen | SuB: 50

  • Ja, das wollte ich auch gerade schreiben. In meinen Augen finde ich es unerhört wenn Autoren Dinge schreiben, die einfach unwahr und grundfalsch sind und die so darstellen, als wären sie es nicht. Wie Tom so schön bemerkt ist der Mensch ein Rudeltier, und vielen Menschen fällt das Leben leichter, wenn sie jemandem blind hinterhertrampeln können. Und wenn dann ein sprachlich gewandter Mensch Dinge verbreitet die durch Lüge oder schon allein durch das geschickte weglassen von wichtigen Details plötzlich ganz vernünftig klingen, ist das für manche Menschen ein gefundenes Fressen. Nicht selten Grenzt sowas an Volksverhetzung oder zumindest -verdummung.
    Ich denke allerdings das hier die Grenzen teils nicht leicht auszuloten sind. Denn auf der anderen Seite sehe ich gerade die Literatur als wichtiges Medium, neue Gedanken zuzulassen, eben auch mal neue Bahnen zu beschreiten. Wenn es solche Gedanken in früheren Zeitaltern nicht gegeben hätte würde für uns immernoch die Sonne um die Erde kreisen.
    Aber man sollte doch dabei bei Fakten bleiben oder zumindest reine Spekulationen auch als soclhe kenntlich machen, wenn man nicht grad einen Fantasyroman schreibt.


    lieben Gruß
    aj

  • Zitat

    Original von Tom
    Pathetisch? :wow


    Ich würde es eher verärgert nennen. Meiner Meinung nach gibt es zwar durchaus bessere Bücher als "Feuchtgebiete", die ähnlich viele Leser und Diskussionen verdient hätten (sogar in Programmierforen wird über diesen Roman gesprochen), aber es überschreitet einfach mein Verständnisvermögen, wenn sich Leute für zwanzig Öcken ein Buch kaufen, von dem inzwischen sogar Stammzellenforschungsembryonen wissen, was darin abgeht, um anschließend fassungslos-merkbefreite Kommentare abzusondern. Wer sich einen Pornofilm ansieht und danach die fehlende Emotionalität und Bindungsfähigkeit der Protagonisten kritisiert, sollte mal nachträglich die Strahlendosis messen lassen, der er während der eigenen Geburt ausgesetzt war. Davon abgesehen nervt es mich einfach, wenn Leute etwas tun, nur weil es alle anderen auch tun. In diesem Fall: Ein Buch kaufen.


    genau, danke! :write


    das denke auch, wenn wieder eine Eule ihr absolutes Entsetzen im Rezifred veröffentlich, da sie gerade festgestellt hat, wie schlimm dieses Buch doch ist...

  • Bei Volksverhetzung unter dem Deckmäntelchen der Literatur wäre bei mir definiv Schluss mit lustig. Da würde ich ernsthaft prüfen (lassen) ob man dagegen was tun kann.

    Und was die Autofahrer denken,
    das würd’ die Marder furchtbar kränken.
    Ingo Baumgartner

  • Zitat

    Original von redator
    Denn auf der anderen Seite sehe ich gerade die Literatur als wichtiges Medium, neue Gedanken zuzulassen, eben auch mal neue Bahnen zu beschreiten. Wenn es solche Gedanken in früheren Zeitaltern nicht gegeben hätte würde für uns immernoch die Sonne um die Erde kreisen.


    Ich finde, das ist eine sehr gute Aussage.
    Wo stünden wir heute, wenn Philosophen, Wissenschaftler, Dichter, etc. damals wie heute ihre provokanten, neuartigen Gedanken für sich behalten hätten?
    Wenn sie sich gedacht hätten "Hm, das könnten viele anstößig finden", dann wäre die Menschheit niemals auf dem Stand wie heute.

  • Zitat

    Ich würde es eher verärgert nennen. Meiner Meinung nach gibt es zwar durchaus bessere Bücher als "Feuchtgebiete", die ähnlich viele Leser und Diskussionen verdient hätten (sogar in Programmierforen wird über diesen Roman gesprochen), aber es überschreitet einfach mein Verständnisvermögen, wenn sich Leute für zwanzig Öcken ein Buch kaufen, von dem inzwischen sogar Stammzellenforschungsembryonen wissen, was darin abgeht, um anschließend fassungslos-merkbefreite Kommentare abzusondern. Wer sich einen Pornofilm ansieht und danach die fehlende Emotionalität und Bindungsfähigkeit der Protagonisten kritisiert, sollte mal nachträglich die Strahlendosis messen lassen, der er während der eigenen Geburt ausgesetzt war. Davon abgesehen nervt es mich einfach, wenn Leute etwas tun, nur weil es alle anderen auch tun. In diesem Fall: Ein Buch kaufen.


    Grundsätzlich sollte man (in diesem Fall konkret: ich) sich mit seiner Meinung zurückhalten, wenn man ein Buch nicht gelesen hat.
    Meine Zurückhaltung musste ich kürzlich im Gespräch mit einer Lehramtskandidatin in einer Buchhandlung aufgeben. Sie hatte sich fest vorgenommen, mit ihrem Abijahrgang "Feuchtgebiete" zu lesen. Auf meine erstaunte Frage, ob die Jugend mit nichts anderem zu begeistern sei, bekam ich die Antwort, dass sie das auch nicht wüsste. Sie würde aber gerne Empfehlungen entgegennehmen und erkundigte sich nach meiner Schullektüre, die nun auch schon über 20 Jahre her ist.
    Ehrlich gesagt war ich nach diesem Gespräch fassungslos.
    Sicherlich ist es für Lehrer schwer, Bildungsauftrag und Begeisterung für Literatur unter einen Hut zu bringen. Das war vor 20 Jahren sicherlich nicht anders.


    Zur Sache selbst:
    Literatur kann und sollte viel bewirken. Sie kann mächtig und manipulativ sein, sie darf beim Leser Glücksgefühle erzeugen und Wissen vermitteln. Manchmal kommt sie politisch und/oder religiös daher, ist Botschafterin ethischer Grundsätze und wenn der Leser Glück hat ist Literatur auch mutig. Letzteres würde ich mir häufiger wünschen.
    Ausgehend von der Frage, was Literatur alles dürfe, sollten die Literaturbegeisterten nicht den Fehler begehen, jegliches bedruckte Papier für Literatur zu halten. Auch wenn "Feuchtgebiete" sicherlich in die literarische Gattung Roman passt und deren technischen Anforderungen genügt wird dieses Buch immer zur Trivial- und nicht zur hochgeistigen Literatur zählen. Und die Leserschar wird sich damit abfinden müssen, dass ähnlich wie bei den Groschenheften ein Bedarf nach Unterhaltungsstoff da ist.
    Letztlich bleibt nur die Hoffnung, dass jeder Leser sich seine Lektüre aussuchen kann.

  • Zitat

    Original von LadyBrittany
    Doch dann kam mir in den Sinn, dass die Vermarktung von Büchern ganz
    anders läuft als bei Musik zum Beispiel.


    Das glaube ich nicht. Ich sehe hier ehrlich gesagt sogar immer mehr Paralellen.
    Es verkauft sich das, was im Gespräch ist.
    Ob es nun verissen wird oder hochgelobt - solange es nur in den Medien präsent ist, wird es sich verkaufen.
    Denn Menschen kaufen, worauf sie aufmerksam gemacht werden, gerade bei solchen überfordernden Füllen, wie sie ein CDladen oder ein Buchladen bietet.


    "Dreck" gibt es im kommerziellen Musikbereich, genauso, wie es ihn im kommerziellen Literaturbetrieb gibt.
    Und es gibt sowohl in der Musik, wie auch in der Literatur, Perlen, die es verdient hätten, aber auf die keiner aufmerksam macht und die darum im Regal verstauben.

    :lesend
    If you can read, you can empathize, luxuriate, take a chance, have a laugh, hit the road, witness history, become enlightened, turn the page, and do it all again
    Oprah Winfrey

  • Zitat

    Original von Tom
    Ich frage mich, was einen Leser dazu bringt, "solchen Dreck" zu lesen, wenn es denn "Dreck" ist? Dem Medienhype folgend schlurfen hunderttausende Lemminge in die Buchhandlungen und statten sich mit diesem "Dreck" aus, um anschließend bestenfalls heiße Luft darüber zu verbreiten. Das Problem ist nicht der "Dreck", sondern der fremdgesteuerte Buchkäufer, dem empfohlen sei, vor dem Literaturerwerb durchaus mal das eigene Hirn einzuschalten.


    Das hat mit "Fremdsteuerung" meiner Meinung nach nichts zu tun, sondern ist ein ganz normales Phänomen.


    Die Fülle der Neuerscheinungen überfordert ja schon Buchhändler. Der gewöhnliche Konsument ist damit vollends überfordert. Also greift der geneigte Käufer auf das zurück, auf das er aufmerksam gemacht wird.
    Er liest, was er so empfohlen bekommen hat oder etwas auf das er - durch was auch immer aufmerksam wird. Und wenn nun alle im Bekanntenkreis, in den Medien, in den Foren dieses Buch diskutieren, dann wird die Neugier siegen und man wird es auch lesen.


    Verisse waren noch nie schlecht für Bücher. Solange ein Buch nur irgendwo in den Medien vorgestellt wurde, war es schon für den Verkauf förderlich.


    Wenn ihr also ein solches Buch "strafen" wollt, was ihr so sehr verabscheut, dann verliert darüber kein Wort.


    Ich finde es geradezu witzig, daß die Leute, die das Buch hier so vehement hassen und so drastische Worte finden, nicht zu verstehen scheinen, daß sie damit den Verkauf eigentlich mehr fördern.
    Ein Buch zu ignorieren - das führt zu dem, was man erreichen will: das es keiner kauft. :lache

    :lesend
    If you can read, you can empathize, luxuriate, take a chance, have a laugh, hit the road, witness history, become enlightened, turn the page, and do it all again
    Oprah Winfrey

  • Zitat

    Original von LadyBrittany


    Allerdings möchte ich doch noch hinzufügen, dass Autoren nicht fiktive Dinge als real darstellen sollten (in welchem Zusammenhang auch immer). Dass sie das auch tun, ist ne andere Sache, aber ich glaube da kommt wenigstens ein Stück Verantwortung durch. :unverstanden


    Wenn eine Autorin 'fiktive Dinge' als 'real' darstellt, also etwas Erdachtes so beschreibt, daß man beim Lesen denkt, daß es Wirklichkeit ist, dann spricht das doch für die Autorin?
    Deswegen ist es aber trotzdem keine Wirklichkeit, sondern eben Fiktion.



    Vandam


    mit eben solchen Fragen sind Gerichte auch oft beschäftigt. Volksverhetzung, Rassismus, Verletzung von Persönlichkeitsrechten.
    Es gab im Frühjahr einen Prozeß um das Bilderbuch, in dem Ferkel und Igel Gott suchen. das gericht hat gegen den kläger entschieden.
    Aber ist der Roman von Biller nicht immer noch verboten?


    Das hat also seine guten wie schlechten Seiten.


    @all


    Verantwortung von AutorInnen ist eine schwierige Frage. Wem gegenüber?
    :gruebel
    Dem Staat? Der Gesellschaft? Einem Ausschnitt der Gesellschaft? Keine Sexszene, weil den Roman ein Jugendlicher lesen könnte? Der Kirche? Der Moral? Gibt es die?
    Tante Julchen, damit der Bäcker nicht komisch guckt, wenn sie Streuselkuchen kauft?
    Man kann ja unter Pseudonym schreiben. Was weitere Fragen aufwirft.



    :wave


    magali

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Hm...
    schwere Sache das.
    Vor einigen Monaten war ich sehr entsetzt, weil in einem Buch eindeutige kinderpornographische Gedanken eingewoben waren, die zum Handlungsstrang einfach nicht notwendig gewesen wären.
    Für mich hörte da die Freiheit der Literatur auf.
    Ich will nicht lesen, daß es normal ist, wenn 6 jährige angeblich Lust am Liebesspiel finden, auch nicht wenn sich diese 6jährigen in einem mittelalterlichen Buch befinden.
    Noch weniger will ich lesen, daß dann sonst sehr kritische Leser mit der Ausrede kommen "Der Autor habe wohl das Alter der Kinder aus den Augen verloren..."


    Da war für mich eindeutig eine Grenze erreicht, nämlich die, daß ich diesen Autor ab da nie wieder lesen werde und daß ich der Meinung bin, daß ihm vielleicht mal auf die Finger geschaut werden sollte.


    Allerdings bin ich gegen jegliche Form der Einschränkung von künstlerischer Freiheit. Schließlich kann jeder selbst entscheiden, was er lesen möchte und was er mit Verachtung straft.


    Mich selbst allerdings negativ dargestellt in einem Buch wieder zu finden und zu wissen, mich erkenne nicht nur ich, sondern auch anderen Menschen in meinem Umfeld würde klar werde, daß es sich um mich handelt, würde ich nicht wollen und wohl auch alle Hebel in Bewegung setzen um dies zu unterbinden.

  • Zitat

    Mich selbst allerdings negativ dargestellt in einem Buch wieder zu finden und zu wissen, mich erkenne nicht nur ich, sondern auch anderen Menschen in meinem Umfeld würde klar werde, daß es sich um mich handelt, würde ich nicht wollen und wohl auch alle Hebel in Bewegung setzen um dies zu unterbinden.


    Diesen Absatz beziehst Du auf Billers Buch. Richtig?
    Persönlich kann ich mich dem nur anschließen, dass die künstlerische Freiheit dort eingeschränkt werden soll, wo Persönlichkeitsrechte Dritter verletzt werden. Denn wer möchte schon sein Privatestes nach außen gekehrt wissen?

  • Biller?
    Ähm weiß jetzt grad nicht was du meinst.
    Ich hab mich mehr auf Özdogans Tourtagebuch bezogen, in dem er einige nicht sehr nette Dinge über sein Publikum sagt, zu dem ich und einige weitere Eulen auch gehört habe.
    Das löste allerdings nur Verärgerung und ein leichtes überhebliches Lächeln meinerseits aus, weil es eben nichts sehr persönliches war.


    Als Beispiel:
    Die Bücher von Dieter Bohlen fand ich als Außenstehende sehr amüsant. Hieße ich aber Naddel, hätten mich diese Bücher sehr verletzt und ich hätte wohl einiges getan, damit nicht so viel von meinem Privatleben an die Aussenwelt getragen wird.


    Außerdem bin ich ja selbst bei meinen Geschichten immer sehr darauf bedacht, daß sich niemand wiedererkennt.
    Im neuen Polizeipoetenbuch wird es eine sehr lange sehr persönliche Geschichte geben, die aufgrund der vielen Änderungen, damit sich eben niemand wieder erkennt, nahezu fiktiv geworden ist....

  • Ah... ja genau so etwas meinte ich.
    Dagegen würde ich mich ebenfalls wehren.
    Ich bin keine Person des Öffentlichen Interesses und damit möchte ich selbst entscheiden, wie viel ich wo von mir preisgebe.

  • Der immer wieder gerne ins Feld geführte Maxim Biller hat Persönlichkeitsrechte verletzt, indem er eine intime Geschichte fast wahrheitsgetreu erzählte, deren Protagonisten reale Vorlagen hatten, die eben auch für Dritte zu erkennen waren. Damit hat er keinesfalls etwas getan, was mit der "Freiheit der Literatur" zu tun hat, sondern das Gegenteil davon. Er hat etwas Literatur genannt, das keine war, sondern eine weitgehend reale Geschichte. Hier ist nicht etwa die Schwelle des möglichen Tabubruchs überschritten, sondern lediglich ein sehr reales und sinnvolles Gesetz. Man darf nicht einfach über echte Menschen so schreiben, dass sie weiterhin erkennbar bleiben und dadurch diskreditiert werden. Das hat nichts damit zu tun, ob sie im Buch als Pädophile dargestellt werden oder rund um die Uhr Klopapier häkeln, sondern einfach damit, dass die Freiheit der Literatur bei den konkreten Rechten des einzelnen endet. Das ist nur dann umgehbar, wenn man entweder Unerkennbarkeit herstellt oder über Persönlichkeiten schreibt, die sowieso im Licht der Öffentlichkeit stehen und deshalb auf einen Teil ihrer Persönlichkeitsrechte verzichten müssen. All das hat aber nichts mit Vorgängen, Verhaltensweisen und Sichten zu tun, wie sie von Frau Roche, Herrn Easton-Ellis oder Michel Houellebecq beschrieben werden. Kleingeistige Gutmenschen fühlen sich hier angemacht, weil sie etwas ablehnen, das sie als Meinung des Autors zu erkennen glauben. Das ist erstens in den meisten Fällen falsch und zweitens höchstens ein Problem des Lesers, nicht das des Autors. Niemand ist gezwungen, irgendwas zu lesen. Und gleichzeitig ist kein Autor gezwungen, so zu schreiben, dass es jedermann abnicken könnte. Oder seiner (vermeintlichen) Meinung wäre. Provokation ist eines der wichtigsten Mittel zeitgenössischer Literatur, eigentlich jeder Literatur. Eine Verantwortung exisitiert nicht, höchstens beim Leser: Zu verstehen, dass fiktionale Literatur kein Regelwerk für den Umgang mit dem eigenen Leben ist. Niemand wird durch "Feuchtgebiete" genötigt, selbst Erbrochenes zu essen oder an gebrauchten Tampons zu nuckeln. Offenbar aber halten viele Menschen Romane für nichts anderes als Lebensratgeber mit einer Geschichte drumherum.

  • Zitat

    Original von Tom


    Davon abgesehen nervt es mich einfach, wenn Leute etwas tun, nur weil es alle anderen auch tun. In diesem Fall: Ein Buch kaufen.


    Mich nervt es nicht (mehr).
    Dieses Buch hat es ohne Zweifel geschafft, Leute in den Buchladen zu locken, die einen solchen allenfalls am 23. Dezember und völlig verzweifelt betreten ...
    Wenn nur einige wenige durch Roches Buch merken, dass es auch noch andere Lektüre als die Fernsehzeitung gibt, bin ich eigentlich zufrieden :-]
    Und wenn "Literatur" (ich setze es mal ganz bewusst in Anführungszeichen) etwas darf, dann ist es auch, Begeisterung und Abscheu zu wecken, Leidenschaft, Interesse, heftige Diskussionen, merkbefreite, sinnlose Äußerungen, aber auch sehr differenzierte, abgewogene Meinungen zu evozieren, wie das die Diskussion um "Feuchtgebiete" durchaus auch tut.
    Darüber kann ich mich beim besten Willen nicht ärgern ... :-)

  • Ich denke auch, dass Literatur grundsätzlich alles dürfen sollte, solange sie nicht darauf abzielt anderen zu schaden.
    Ich habe "Feuchtgebiete" von Charlotte Roche nicht gelesen und möchte deshalb nicht darüber urteilen, allerdings denke ich allgemein gesagt, dass nicht jeder geschriebene Text "Literatur" genannt werden sollte.
    Ein stümpferhaft zusammengehauene Hütte würde man ja auch nicht als Architektur bezeichnen.

  • Zitat

    Original von jandaDenn Menschen kaufen, worauf sie aufmerksam gemacht werden, gerade bei solchen überfordernden Füllen, wie sie ein CDladen oder ein Buchladen bietet.


    Jeder kann allerdings selbst entscheiden worauf er aufmerksam gemacht werden will. Die Mehrheit lässt sich leider treiben.