"Alter Schinken" oder "Moderne Literatur"?

  • Ich habe vor ein paar Tagen mit zwei Freundinnen darüber gesprochen, wann den ein Buch ein "Alter Schinken" und wann es "Moderne Literatur" ist. Irgendwie sind wir dabei auf keinen grüßen Zweig gekommen.


    Als "Schinken" bezeichnet man ja eigentlich ein dickes Buch. Aber ab wann ist es ein "Alter Schinken"? Muss dafür der Autor schon tod sein? Oder das Thema abgegrast? Sind Klassiker schon "Alte Schinken"?


    Bin gespannt auf Eure Meinungen hierzu... :D

    "Nicht wer Zeit hat, liest Bücher, sondern wer Lust hat, Bücher zu lesen, der liest, ob er viel Zeit hat oder wenig."

    - Ernst Reinhold Hauschka

    Zitat

  • Hmm, da muß ich ja echt mal grübeln. :rolleyes:
    Also ein alter Schinken ist für mich persönlich einfach nur ein altes Buch. Wobei ich im Laden oft schon bei einem fünf Jahre alten Buch sage, och so ein alter Schinken. Mit dem Tod des Autoren hat es bei mir persönlich nichts zu tun. :)

  • Eine genaue Linie kann man glaube ich nicht ziehen und ich weiß auch von keiner Richtlinie.


    Mit dem Tod des Autors hat es ganz sicher nicht zu tun, ich denke eher, dass es einfach eine gewisse Zeitspanne ist, was natürlich wieder relativ ist. Für mich persönlich würde ich sagen sind "alte Schinken", so ab 10-20 Jahre.

  • Hm, nach Helgas Definition ist das neue Pompeji-Buch von Mr Harris, das Via hier irgendwo vorgestellt hat, also kein "alter Schinken", das Buch unseres verehrten Sir Eddie ("Die letzten Tage von Pompeji" ) aber sehr wohl. Obwohl beide das gleiche Thema behandeln... ?(


    Macht man diese Bezeichnung am Alter des Buches (Erstausgabe?), am Thema (sind dann alle historischen Romane "alte Schinken"?) oder am Tod des Autors (egal wann...) fest?


    Und: wann wird moderne Literatur zum alten Schinken? Was zeichnet moderne Literatur aus? Aktuelles Thema? Zeitgenössischer Autor? Ist die moderne Literatur meiner Eltern inzwischen zum alten Schinken geworden?


    Interessante Fragen... bin mal neugierig, ob jemand eine Erklärung für den Begriff "alter Schinken" hat...

    ToniO



    Betrachte nicht den Krug, sondern dessen Inhalt.
    Rabbi Me'ir


    Coincidence is God's way of remaining anonymous.
    Albert Einstein

  • Hallo,


    Ich denke auch, die Bezeichnung "Alter SChinken" bezieht sich auf das alter des Buches, nicht auf das Thema des Buches. Historische BÜcher sind nicht automatisch alte Schinken, nur weil sie vor soundso vielen hundert Jahren spielen.

    liebe Grüsse melanie


    Wenn man Engeln die Flügel bricht, fliegen sie auf Besen weiter !
    :keks


    :lesend )

  • Ohne große Umschweife, versuche ich hier nun einmal ein wenig Licht ins Dunkel zu bringen, indem ich kurz mal einen Blick auf die Historie werfe.


    Also, im Mittelhochdeutschen (ca. 1200) bezeichnete das Wort "Schinken" einen krummen oder gekrümmten Körperteil.
    Der Zusammenhang "Buch" war noch nicht gegeben.
    Später dann, im 18. Jahrhundert, als das gedruckte Buch zudem einen Umschlag aus Leder erhielt, welches sich natürlich nicht selten krümmte bzw. unter dem schweren Einband und der häufig Nutzung krumm wurde, hat sich wer mal wieder einer Metapher bedient? Genau, die Studenten. Jene Wesen, die viel mit Bücher zu tun hatten, prägten den Begriff "Schinken" im Zusammenhang mit "Buch".
    Ein "alter Schinken" stand somit zunächst synonym für ein altes Buch. Nicht der Inhalt war das Motiv, sondern die verfallene Optik, ein abgenutztes Buch.
    "Alter Schinken" ist also eine Metapher, eine rhetorische Figur, heißt, ein abgekürzter Vergleich für ein unansehnliches Buch.


    Ähnlichen Ursprungs ist dann auch Wälzer oder Schwarte.
    Der Begriff "Wälzer" (mhd. welzen), bezeichnete ein unhandliches Buch, das so schwer und unhandlich ist, wie denn die Bücher auch seinerzeit waren, dass man es nur durch "wälzen" fortzubewegen vermochte.


    Die "Schwarte" wiederum bezeichnete sowohl die menschliche Kopfhaut als denn auch die Haut von Tieren und hier dann die von Schweinen (s.a. Speckschwarte).
    Der Begriff "Schwarte" wurde seit dem 17 Jhd. verächtlich für Buch verwendet. Wohl wegen der zum Teil auch noch speckigen Einbände (Leder).



    Dass sich diese Bedeutung "alter Schinken" heutzutage verschoben hat, mag an der rasanten Entwicklung des Buchdruckes liegen. Bücher sind kaum mehr, außer es handelt sich um derlei altertümliche Schinken, in Leder gebunden, so dass uns diese Metapher kaum noch lebendig sein könnte.


    Also unter sprachhistorischem Aspekt habt ihr die Erklärung (s.o.) und unter sprachsoziologischen Aspekt müsste man nun eine Studie anstreben, was denn Menschen im 21 Jhd. als "alte Schinken" ansehen.
    Heißt eure Erklärungen hier sind unter Ausschluss der Wortherkunft allesamt von Gültigkeit.


    Noch Fragen?


    8) Via

  • @ Via
    Danke, dass du etwas Licht ins Dunkel der alten Schinken gebracht hast. Unter dem Aspekt ist keines meiner Bücher ein alter Schinken (in Ermangelung eines ledernen Einbandes). Wie beruhigend... ;)

    ToniO



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    Rabbi Me'ir


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    Albert Einstein

  • @Via:
    Das war Via wie sie leibt und lebt... :D


    Aber vielen lieben Dank für die Abhandlung. Ich fand es wirklich einmal klasse zu sehen, woher solche Wörter/Begriffe kommen.


    Wo findet man denn solche Informationen?

    "Nicht wer Zeit hat, liest Bücher, sondern wer Lust hat, Bücher zu lesen, der liest, ob er viel Zeit hat oder wenig."

    - Ernst Reinhold Hauschka

    Zitat

  • Um denn ggf. noch eben eine Antwort darauf zu liefern, was denn "Moderen Literatur" sei, hier kurz meine Ausführungen für diejenigen, die es genau wissen wollen, quasi beinah wissenschaftlich.


    Allen anderen sei gesgat, dass wir uns bei Moderner Literatur in einem Zeitfenster beginnend mit dem 19 Jhd. bewegen.


    Kleiner Exkurs:
    Moderne (Literatur),
    unscharfe Bezeichnung für diverse Abgrenzungsbestrebungen junger Literaten gegenüber der älteren Generation (so in Aufklärung, Romantik und Jungem Deutschland), zumeist jedoch für die umfassenden ästhetischen Neuerungsbestrebungen der Literatur, aber auch der Musik, der Architektur und der bildenden Kunst, zwischen 1870 und 1920.
    Der Begriff "die Moderne" wurde 1886 von Ernst Wolff für die Literatur des Naturalismus geprägt. Der österreichische Kritiker Hermann Bahr (Zur Kritik der Moderne, 1890) weitete ihn später auf postnaturalistische Strömungen wie Impressionismus, Symbolismus, Décadence oder Jugendstil aus.


    Inzwischen werden alle Bewegungen der klassischen Avantgarde einschließlich des Expressionismus mit dem Schlagwort belegt.
    Neben regionalen Aspekten (siehe Berliner Moderne, Wiener Moderne) betont die neuere Forschung den länderübergreifenden Charakter der Moderne.
    So werden etwa Gustave Flaubert, T. S. Eliot, William Butler Yeats, Marcel Proust, James Joyce, Henrik Ibsen, Paul Valéry, Stéphane Mallarmé, Charles Baudelaire, Ezra Pound, Robert Musil, Alfred Döblin, August Strindberg, Hermann Broch und Virginia Woolf der Moderne zugerechnet.


    Voraussetzung für das Entstehen einer deutschsprachigen, teils auch einer europäischen Moderne, war die Erschütterung des traditionellen Weltbildes etwa durch Albert Einsteins Relativitätstheorie (1905), Max Plancks Quantentheorie (1900) und Sigmund Freuds Untersuchung zum Unbewussten (Die Traumdeutung, 1900).
    Deren neue Sicht der Wirklichkeit, die das Zufällige, Heterogene und Disparate allen Geschehens betonte, forderte den Künstlern eine neue ästhetische Konzeption ihrer Werke ab.
    Freuds Psychoanalyse beeinflusste zudem das literarische Verfahren des Stream of consciousness zur direkt-assoziativen Darstellung psychischer Befindlichkeiten.


    Zu den herausragenden Werken der literarischen Moderne gehören Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz (1929), Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften (1930-1952), Hermann Brochs Die Schlafwandler (1931-1932), Marcel Prousts A la recherche du temps perdu (1913-1927), T. S. Eliots The Waste Land (1922, Das wüste Land), Ezra Pounds Cantos (1917-1970), Virginia Woolfs Mrs. Dalloway (1925) und James Joyces Ulysses (1922).
    All diesen Werken ist ein Stil eigen, der auf je spezifische Art und Weise die Zersplitterung von Erfahrungswelt reflektiert und nach neuen Formen des Ausdrucks sucht.
    Die Stringenz von Handlung ist zugunsten eines Geflechts von Bezügen aufgegeben: Das Kunstwerk wird, wie Umberto Eco herausstellte, "offen", d. h. frei für den polyperspektivischen Zugang des Interpreten.


    Statt inhaltlicher Kriterien rückt hierbei oftmals die Sprachlichkeit (das Material) des literarischen Produkts selbst ins Zentrum des Interesses.
    Auch der von Mallarmé und Valéry geäußerte Wunsch nach einer Musikalität dichterischer Äußerung bezieht sich auf eine Betonung des Lautbildes, des Signifikanten, gegenüber dem Vorstellungsinhalt, dem Signifikat.


    Als Gegenströmungen zur Moderne entstanden zur Mitte des 20. Jahrhunderts Bewegungen, die das Innovationsstreben dieser Richtung selbst als automatisiert ansahen.
    Die Postmoderne bezieht diesen Aspekt einer programmatischen Abgrenzung dadurch, dass sie den Begriff der Moderne negativ anzitiert, bewusst mit ein.



    Ich hoffe, ich habe euch nicht "erschlagen".....


    8) Via

  • Hallo Via,


    Ne erschlegen hast du mich nicht ! :D
    Ich finde das sehr interessant zu lesen. Wieder was gelernt. Man lernt doch tatsächlich nie aus ! :D

    liebe Grüsse melanie


    Wenn man Engeln die Flügel bricht, fliegen sie auf Besen weiter !
    :keks


    :lesend )

  • @Via
    Nochmals Dank. Diesmal für den zweiten Teil deiner Ausführung. Es ist wirklich hilfreich, wenn jemand die verschiedenen Begriffe sachkundig erläutert.


    Ich denke, dass also das, was umgangssprachlich als "alter Schinken" bezeichnet wird, vielfach eher "pre-modern" :rolleyes: ist.

    ToniO



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    Albert Einstein

  • Das ist ja interessant...


    Für mich hat moderne Literatur immer was mit Nachkriegsliteratur zu tun gehabt.


    Der 2. Weltkrieg war da für mich immer so ein Schnitt gewesen, auch in der Malerei.


    Hab mir aber nie Gedanken darüber gemacht, ob das so den Tatsachen entspricht.