Vic Hendry ist ein Schweizer Schriftsteller und, in den letzten Jahren vor allem, Lyriker. Er stammt aus Graubünden, Sohn einer Bauernfamilie, war Lehrer für Geschichte und Sprachen. Seine Sprache ist das Sursilvan, eine Form des sog. Rätoromanisch. Das und der Umstand, daß sein erster Lyrik-Band erst 1990, in seinem siebzigsten Lebensjahr, erschien, verhindert, daß er nördlich der Schweizer Grenzen wahrgenommen wird.
Nun ist ein schmales Bändchen mit 20 neuen Gedichten von ihm erschienen. Die Aufgabe, sie herauszubringen hat der winzige Verlag Edition Signathur in Dozwil übernommen, der seit vielen Jahren bemüht ist, eigenwilligen Schriftstellerinnen und Schriftstellern in vielfältiger Weise eine Plattform zu bieten. Hendrys Poesias sind der dritte Band in der Reihe die kleine signathur.
Was das schmale Bändchen nun abgesehen von den Gedichten so ganz besonders macht, ist, daß sie neben der Originalsprache auch in deutsch, italienisch und französisch wiedergegeben werden. Alle vier Landessprachen der Schweiz sind auf diesen wenigen Seiten versammelt.
Dadurch haben LiebhaberInnen von Lyrik, die die Originalsprache nicht beherrschen, die Möglichkeit, Hendry in anderen Versionen kennenzulernen.
Darüberhinaus bieten die Versionen einen Ausgangspunkt zu spannenden Diskussionen über das Übersetzen von Lyrik. Wann ist es Übersetzung, wann Nachdichtung? Wie haben sich die beiden Übersetzerinnen, Mevina Puorger im Deutschen, Marisa Keller-Ottaviano im Italienischen, wie Jean-Jacques Furer im Französischen entschieden?
Abgerundet wird es durch ein sehr eindrückliches Vorwort des Herausgebers,Bruno Oetterli Hohlenbaum, eine Kurzbiografie und ein sehr lesenwertes Nachwort von Mevina Puorger.
Zentral aber sind Hendrys Gedichte. Sprachlich karg, gelingt es ihm, Bilder und Stimmungen zu zeichnen, die eine ganze Welt ausmachen, und hin und wieder auch bis zum Himmel reichen. Das Thema der zwanzig Gedichte ist nämlich das Ende des Lebens, seine Vergänglichkeit, die Frage danach, was wichtig ist und was bleiben wird. Das ist von seltener Eindringlichkeit, unpathetisch, klar.
Sterben, gerade, dem Apfelbaum gleich, mit stählerner Wurzel beginnt das Gedicht Nummer 10 und in Nummer 14 wird der Bogen weitergeschlagen vom Apfelbaum zu seinem Holz und zum Kreuz aus Holz. Alte Mythen in knappen Worten, modern.
Es gibt Erinnerung an Lebendiges und warmes Leben So halte fest diese Zeit auf der Höhe des Sommers heißt es einmal, und immer wieder wird das Licht beschworen, das Licht der Kerzenflamme, der Sonne, das Strahlen der weißen Anemone, klassisches Bild des Trosts. Kaum einer kann ihm widerstehen und dennoch gelingt es Hendry, diesem Bild noch eine weitere Nuance abzugewinnen.
Dazu ein Baum und ein Feld, Finkenschlag, im Holunder das Meislein des Sommers, Zöpfe aus Flachs, die Ackerkrume, Schnee im Gesicht. Der Lauf eines Jahres, vieler Jahre, eines Lebens.
Aus der Beschränkung kommt das zum Tragen, was wesentlich geworden ist für den Dichter. Es sind sehr persönliche Gedichte, aber es ist keine Selbstbespiegelung, an keiner Stelle.
Hendry wäre kein Dichter, wäre er sich nicht bewußt, wie wesentlich sein Schreiben ist. Ein Gutteil der Texte handelt eben davon.
Bin Müller, mahle Buchstab und Buchstab, ... will fangen die Zeit, so beschreibt er sich selber einmal. Aber er mahnt auch, Ein wenig Worte verfugen ... gibt nicht immer ein wenig Dichter, deutlich und ein wenig verschmitzt
Solche Sätze bleiben, auch beim Lesen, daran wird man sich erinnern.
Erinnerung aber schwindet zuletzt und auch die Hand kann sich zwar nach etwas strecken, doch keiner weiß, ob sie etwas fassen kann, geschweige denn bewahren. Nur Asche wird bleiben.
Und das Wort.
Das Büchlein, so schmal, wie es daherkommt, ist eine großartige Leistung. Lyrikfans sollten es sich auf keinen Fall entgehen lassen und LeserInnen, die sich für Sprache(n) interessieren auch nicht. Es ist neu, es ist frisch, es ist federleicht, trotz des schwerwiegenden Themas. Rundum gelungen, aus einem Guß. Ein echter Wurf.
Eigentlich fehlt nur ein Hörbuch davon. Denn wenn man sich etwas wünscht, schon während der Lektüre, dann ist es, Hendrys Stimme zu hören, und mit den Ohren lauschen zu können, nicht nur mit den Augen beim Lesen. Den Texten bekäme das auch, denn vieles baut hier auf purem Klang auf. Das versteht man sogar, wenn man, wie ich, kein Rätoromanisch sprechen kann.
guilas melnas crodan ... - Regnen goldener Nadeln der Lärche ...
edit: leider zeigt sich hier das schlichte, graphisch sehr schöne Titelbild nicht. Auf der amazon-Seite kann man es problemlos sehen
edit 2: Die Verwechslung von Vorwort und Nachwort behoben