Shirley - Charlotte Brontë

  • Der Schauplatz des Romans ist Yorkshire – Brontës Heimat – zur Zeit der Kontinentalsperre Napoleons und der Arbeiterunruhen im Jahre 1812. Vor diesem historischen Hintergrund wird die Geschichte des zielstrebigen jungen Tuchfabrikanten Robert Moore und seines Bruders Louis sowie der Titelheldin Shirley Keeldar und der Pfarrersnichte Caroline Helstone erzählt.


    Die zarte Caroline beweist im Laufe des Romans auf ihre Art nicht weniger Lebenskraft und Unbeugsamkeit, etwa in ihrem Ringen um Robert Moores echte Liebe zu ihr, als die finanziell unabhängige, eigenwillige Shirley, die ihre geldgierigen Verehrer abweist, sich über das Standesdenken hinwegsetzt und ungeachtet der gesellschaftlichen Stellung ihrer Neigung folgt und sich zur Ehe mit dem unscheinbaren, aber gebildeteren Louis entschließt. (Amazon)


    Selten war ich so froh, ein Buch endlich fertig gelesen zu haben - es war eine Qual. Kein Wunder, dass auch die damalige Leserschaft von Charlotte Brontes enttäuscht war. Das fängt beim Titel *Shirley* an: Sie taucht erst auf etwas Seite 200 auf und ist nicht die Hauptperson, da es in dem Sinne keine Hauptperson gibt. Da aber der Roman nach ihr benannt ist, wartet man zwangsläufig auf ihr Auftreten. Geschildert wird der Roman aus der Perspektive der protagonisten bzw. der Dorfbewohner. Diese spielen insofern eine Rolle, da der Roman zur Zeit der Kontinatalsperre spielt, welche weite Teile der Bevölkerung verarmen lässt, die aufkommende Industrialisierung verschärft die Lage zusätzlich für sie. Diese ständigen Perspektivenwechsel verwirren sehr, ich musste oft zurückblättern, um zu lesen, um wen es gerade geht. Ist man in der Handlung drin, wird man durch direkte Ansprache wieder herausgerissen. Dadurch, das der letzte Teil des Buches in der Ich-Form geschrieben wurde, wurde absolut keine möglichen Perspektive ausgelassen.
    Die Handlung selber schreitet nur sehr zögerlich voran, mir erschien sie ein Mittel zu sein, die Personen weiter irgendetwas machen zu lassen. Dazu kommen mehr Bibel-Anspielungen und französische Sätze, als in allen anderen Büchern zusammen. Insgesamt das schlechteste Buch der Bronte-Schwestern.


    Was ich nicht verstanden habe (aus literaturhistorischer Sicht): Die damalige Leserschaft mochte den Roman ebenfalls nicht. Der Name *Shirley* war damals eindeutig männlich, wechselte aber wegen dieses Romans zu eindeutig weiblich. Ein kleiner Widerspruch…


    Zur Ausgabe:
    Meine DTV-Ausgabe (ISBN 3423133007) hat ein klares Druckbild. Sehr schön ist der Apparat mit Anmerkungen, den braucht man bei den ganzen Bibelanspielungen dringend. Die Korrektheit der Übersetzung der französischen Sätze kann ich nicht beurteilen.


    ASIN/ISBN: 386647587X

  • "Shirley" war meines Wissens Charlotte Brontes letzter Roman, verfasst nach dem Tod ihrer Schwestern Anne und Emily, deren Charaktere jenen von Caroline und Shirley sehr geähnelt haben müssen. Man merkt beim Lesen, wie schwierig und schmerzhaft das Schreiben für sie gewesen sein muss, und angesichts der Umstände ist es, finde ich, eine tolle Leistung.


    In literarischer Hinsicht hat mir das Buch nicht sonderlich gut gefallen. Caroline fand ich langweilig und Shirley unverständlich; der einzige Charakter, mit dem ich mich wirklich identifizieren konnte und dessen Schicksal mich interessierte, war Gerard Robert Moore. Und obwohl das Buch anfangs versprach, "as unromantic as Monday morning" zu sein, musste der Leser wenig später Carolines Ausführungen darüber erdulden, wie die Lektüre von Shakespeares Werken Robert Moore dabei helfen würde, seine Seele zu reinigen. Die Details sind oft verwirrend - beispielsweise sieht Louis einerseits nicht annäherend so gut aus wie Robert, sieht ihm andererseits aber zum Verwechseln ähnlich. Man merkt dem Roman auch an, dass die Gedanken der Autorin sehr mit dem Tod beschäftigt waren; vom Schicksal der kleinen Jessie bis hin zu der Episode mit dem möglicherweise tollwütigen Hund taucht das Thema immer wieder auf.


    Wie gesagt, es ist ein offenbar schmerzvolles und, wie ich finde, seher tapferes Buch; was die literarische Qualität angeht, würde ich "Villette", ebenfalls von Charlotte Bronte, sehr viel eher empfehlen.

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  • „Ich glaube - und finde es täglich bestätigt -, daß wir auf dieser Welt nichts von dauerhaftem Wert erlangen können, nicht einmal einen Grundsatz oder eine Überzeugung, ohne durch ein läuterndes Feuer oder eine stärkende Gefahr gegangen zu sein.“ (Seite 776)



    Meine Meinung


    Ein wunderbares Buch, das mich zu meiner Überraschung ganz in seinen Bann gezogen hat. Denn eigentlich war ich bei Lesebeginn gedanklich noch im „Wilden Westen“. Aber der Autorin ist es gelungen, mich relativ schnell von dort (um 1861) weg und ins England der Jahre 1811/1812 zu holen und mich fast schon heimisch fühlen zu lassen. Dabei stößt „Shirley“ anscheinend auf ein recht geteiltes Echo. Auch nach Beendigung des Lesens gehöre ich auf jeden Fall zu der Fraktion, die von dem Buch begeistert ist. So begeistert, daß das bei mir sogar das Potential zum Jahreshighlight hat.


    Wenn man in einem Roman eine feste Hauptfigur erwartet, wird man hier so seine Schwierigkeiten bekommen. Die titelgebende Figur taucht in meiner Ausgabe erst nach über zweihundertvierzig Seiten das erste Mal auf; bis dahin könnte man Caroline als Hauptfigur bezeichnen. Dieser Wechsel wird sich bis zum Ende nicht verändern - oder anders, es bleibt jedem Leser selbst überlassen, wen er nun als die Hauptfigur ansieht. Andererseits: muß ein Roman überhaupt eine Hauptfigur habe, wenn eigentlich eine Geschichte erzählt wird, in der mehrere Figuren eine wesentliche Rolle spielen?


    Die Übersetzung von Andrea Ott macht einen ganz hervorragenden Eindruck - als ob das Buch im Original auf Deutsch geschrieben wäre. In einem wunderbaren Deutsch, wie man es heute - leider - kaum noch vorfindet. Alleine sprachlich ist es ein Genuß, den Roman zu lesen. Hinzu kommt der immer wieder aufblitzende Humor der Autorin, auch und gerade an Stellen, in denen sie die Leser direkt anspricht.


    Die Geschichte entwickelt sich erfreulich langsam, ohne drängende Hektik; immer wieder gibt es ein Innehalten - also genau die Erzählweise, die ich in solchen Büchern so ungemein mag. Eingeflochten sind immer wieder Informationen zu den „Rahmenbedingungen“ in denen die Geschichte angesiedelt ist. Brontë hat diese recht genau recherchiert, so daß man ein gutes Bild von den damaligen Verhältnissen bekommt. Der Arbeiteraufstand, der im Buch eine Rolle spielt, hat seinerzeit in der Gegend tatsächlich stattgefunden - es war eine Hungerrebellion, da das einfache Volk durch die durch die Kontinentalsperre bedingten wirtschaftlichen Probleme sehr zu leiden hatte. Doch auch die „Hilfsgeistlichenschwemme“, die zu Beginn angedeutet wird, hat es zu der Zeit gegeben. Die Figuren sind fiktiv, jedoch erhält man beim Lesen eine recht genaue Vorstellung vom seinerzeitigen Leben.


    Erstaunlich aktuell wird es, wenn es um die (damals beginnende) Industrialisierung geht. Die Wunschvorstellung, die Robert Moore an einer Stelle äußert, hat die Autorin in ihrer Auswirkung vermutlich vor Augen. Mit den sich daraus ergebenden weiteren Folgen haben wir heute zu tun und müssen irgendwie damit umgehen. Ob die Menschen vor zweihundert Jahren, hätten sie das volle Ausmaß der Folgen übersehen, wohl anders entschieden hätten? Wenn ich mir die heutige Generation so ansehe: vermutlich nicht.


    Kurz vor dem Ende (S. 928) wurde es für mich dann hochemotional:

    „Ein einsames Fleckchen war das, und ein schönes Fleckchen, voller Eichen und Nußbäume. Jetzt hat sich alles verändert.“

    Ich gebe zu, dieser Satz ging mir durch und durch. Ich habe inzwischen ein Alter erreicht, in welchem ich auch solche Betrachtungen anstellen könnte. Man will immer alt werden; aber plötzlich stellt man fest, daß man möglicherweise alt ist. (Und nach den Maßstäben der Zeit, in der „Shirley“ geschrieben wurde, bin ich alt.) Tempi passati.


    Und so bleibt mir am Ende nur der Anfang: ein wunderbares Buch, das mich zu meiner Überraschung ganz in seinen Bann gezogen hat.

    Mein Fazit


    Ich weiß, ich wiederhole mich, doch mir fällt keine bessere Formulierung ein: ein wunderbares Buch, das mich zu meiner Überraschung ganz in seinen Bann gezogen hat. Auch heute unbedingt lesenswert.


    Meine gelesene Ausgabe:

    960 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag

    Originaltitel: Shirley

    Aus dem Englischen von Andrea Ott

    Verlag: Manesse Verlag, Zürich 1998

    ISBN-10: 3-7175-1766-X

    ISBN-13: 978-3-7175-1766-5

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    ASIN/ISBN: 371751766X

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")