Hier könnt ihr Tanya Fragen stellen, die nicht das Buch der aktuellen Leserunde "Tochter der Dunkelheit" betreffen.
Fragen an Tanya Carpenter
Die tiefgreifenden System-Arbeiten sind soweit abgeschlossen. Weitere Arbeiten können - wie bisher - am laufenden System erfolgen und werden bis auf weiteres zu keinen Einschränkungen im Forenbetrieb führen.
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Hallo Tanya,
Schon bei den ersten Seiten kam eine Frage in mir auf.
Ashera ist ja ein ziemlich ungewöhnlicher Name - hast du dich bei dieser Namenswahl von irgendetwas inspirieren lassen?
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Ähnliche Frage, obwohl ich erst nachher reinlesen kann - aber die Uhus haben ja schon länger etwas gespoilert
Wieso hast du aus Armand einen Franzosen gemacht? (Anscheinend sind Franzosen ja anfällig für den Vampirvirus. :grin, gibt da ja einige)
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Hallo Adi,
Ashera ist der Name einer westsemitischen Fruchtbarkeitsgöttin. Ich wollte für den Orden gern den Namen einer Göttin verwenden und habe dazu in einem Lexikon über Göttinnen geschmökert. Name und Bedeutung gefielen mir, so erhielt der Orden seinen Namen.
Hallo BelleMorte,
Armand ist ein Name der mir ohnehin schon immer gut gefallen hat. Und für den Hintergrund von Armands Lebens- und Wandlungsgeschichte (die ich ja auch schon zum Großteil fertig habe) brauchte ich eine historische Bühne. Er sollte ja in etwa 200 Jahre alt sein,als er Melissa begegnet. Und ein bedeutendes historisches Ereignis das Ende des 18. Jahrhunderts stattfand, ist nunmal die französische Revolution. Darum wurde Armand ein Franzose. Und ich finde die französischen Bemerkungen einfach total schön. Er sollte etwas mehr tun, als nur Koseworte verwenden. Ich finde, das prägt ihn.
LG
Tanya -
Schön dass da mehr hintersteckt als ein schicker Akzent
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Werden uns die Dunklen in den nachfolgenden Büchern noch einmal begegnen? - Sie solle ja laut Prophezeihung alle Vampire töten...
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Ja, die dunklen Vampire werden weiterhin vorkommen. Und auch das Geheimnis um ihre Entstehung und die Prophezeihung wird im Lauf der Reihe natürlich gelüftet.
LG
Tanya -
Na dann bin ich mal gespannt.
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Hat der Name Osira eigentlich eine Bedeutung?
Und die Sache mit dem Krafttier (kenn ich nur aus Fightclub), hat das was mit Wiccas zu tun? oder mit Indianerns? sind das bestimmte Tiere oder könnte das auch eine Fliege oder ein Ochsenfrosch sein?
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Hallo Tanya!
Was mich interessieren würde ist, wie du eigentlich zum Schreiben gekommen bist?
War das schon immer ein Hobby von dir?Außerdem interessiert mich, wie lange du gebraucht hast, um „Tochter der Dunkelheit“ zu schreiben?
Wie sind die Ideen entstanden? -
Krafttiere haben in der Magie generell eine große Bedeutung. Im Prinzip kann jedes Tier (auch Fabeltier wie Drache, Phöenix, Einhorn) ein Krafttier sein. Man nennt sie auch Totemtiere oder Seelentiere. Der Name Osira ist ein bißchen von Osiris abgeleitet, aber im Prinzip einfach eine Erfindung meinerseits.
In meiner Vita auf der Homepage steht wie ich zum Schreiben kam. Den Grundstein dazu legte mein Vater in mir. Und ich liebe Bücher seit Kindesbeinen an, hatte schon immer eine große Fantasie. Der Rest kam von allein.
An der Tochter habe ich drei Jahre bist zu ersten Fertigstellung geschrieben, wobei ich parallel aber auch andere Projekte und die Nachfolgebände schon bearbeitet habe. Danach folgten nochmal ca. 7 Jahre nacharbeit in denen ich nach einem Verlag suchte. Als ich den Vertrag mit dem Sieben-Verlag gemacht habe und das Script lektoriert wurde, kamen noch 5 Monate Überarbeitung hinzu.
Bei den Engelstränen hat es nicht so lange gedauert. Wie gesagt, an den Scripten arbeite ich ja insgesamt schon lange. Aber die Fertigstellung nachdem die Tochter draußen war dauerte nur noch knapp drei Monate und dann anderthalb Monate Überarbeitung nach dem Lektorat.
LG
Tanya -
Danke für die Antwort!
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Zitat
Original von Tanya Carpenter
Man nennt sie auch Totemtiere oder Seelentiere. Der Name Osira ist ein bißchen von Osiris abgeleitet, aber im Prinzip einfach eine Erfindung meinerseits.Das hatte ich fast gedacht, weils auch so viele Bezüge zum alten Ägypten in deinem Buch gibt
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Mir ist nicht ganz klar geworden worauf die Feindschaft zwischen Ashera und der Roten Priesterin beruht. Sie glauben doch an die gleiche Göttin, oder nicht?
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Die Roten Priesterinnen sind gegen alle Schattenwesen, die sie nicht kontrollieren können und versuchen, diese zu vernichten. Die Ashera hat sich aus den Wurzeln der Roten Priesterinnen abgespalten und strebt die Koexistenz mit allen Wesen an. Sie ist Vermittler, Bewahrer und Erforscher. Daher die Feindschaft. Aber Crests Orden ist der letzte der Priesterinnen, weil die Göttin ihnen ihren Zuspruch entzogen hat.
Es ist der typische Fanatismus, wenn jemand glaubt, den einzig wahren Weg zu kennen. Begegnet einem in vielen Religionen ja immer wieder. Und gerade das widerspricht dem wahren Weg einer Wicca/Hexe, da Wiccaner andere Glaubensrichtungen tolerieren.
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@ Tanya Carpenter
Danke für deine Erklärung.
Dass Aschera sich aus den Wurzeln der Roten Priesterinnen abgespalten hat,
ist mir wohl irgendwie beim Lesen entgangen. -
So, hab mir überlegt, dass hier eine Leseprobe der Urversion am besten passen würde. Es wird auch noch mehr als diese eine geben, aber ich denke dies gibt schon mal einen guten Einblick darin, was sich verändert hat. Hier gibt es z.B. noch den Töpfer Amir, der Mel ursprünglich in Ägypten in Athaírs Höhle ins Reich der Toten begleitet hat und der auch einen Vorwand lieferte, warum sie nach Ägypten fuhr. In der Urfassung fand sie eine Schriftrolle über ihn in den Ashera-Archiven und nahm das als Wink des Schicksals nach Ägypten zu reisen und seiner Seele dort vor Ort zu helfen. Das mußte alles angepaßt werden, weil die Handlung um Amir aus der Geschichte raus sollte - gemäß Lektorat. Um Seiten zu sparen
Und hier gibt es auch ein wenig Hintergrund zu Mel's Kindheit und Studienzeit und vergangenen Liebschaften...
Auch Armand taucht hier schon viel früher auf, als unbekannter Helfer während den Abschlussklausuren. Auch das musste ich anpassen, weil dieser ganze Absatz dem Lektorat zum Opfer fiel. Was ich persönlich sehr schade fand.Viel Spaß!!! (P.S.: Muss es aber in mehreren Etappen posten, da sonst zu lang...)
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Erinnerungen und andere Gespenster
Es begann wie ich schon sagte während meines Abschlussjahres an der Uni. Damals – es erscheint mir Ewigkeiten her – hieß ich noch Melissa Carter, und meine Welt war noch in Ordnung und verlief in einigermaßen festen und geregelten Bahnen. Zwar würde ich meinen Abschluss wohl nur gerade eben schaffen, doch immerhin bestand keine Gefahr, dass ich durch die Prüfungen rasseln würde. Das einzige, was mich ein wenig aus dem Konzept brachte war, dass sich das magische Tor in mir geöffnet und ich einen unerwarteten – und vor allem unerwünscht starken – Kontakt zur Geisterwelt bekommen hatte.
Eine weitere schlaflose Nacht lag daher hinter mir. Ich hatte in den vergangenen Nächten keine Ruhe mehr finden können, seit das Tor in mir geöffnet war. Und ich hatte leider auch weder die Erfahrung noch auch nur ansatzweise eine Idee, wie ich dem entfliehen und mir wieder Ruhe verschaffen konnte. Diesmal war es ein Töpfer namens Amir gewesen, der nicht begreifen konnte, warum sein geliebter Pharao ihn nicht mit in sein Grab genommen hatte. Er empfand es als himmelschreiende Ungerechtigkeit, dass der Pharao seine Schreiber zu sich ins nächste Leben befohlen hatte, während er sich mit einem bescheidenen Grab weit ab vom Tal der Könige zufrieden geben musste. Und das wo er doch immer so kunstvolle Vasen und Gefäße in so außergewöhnlicher Qualität und Schönheit für seinen Pharao hergestellt hatte. Ich empfand es eher als himmelschreiende Ungerechtigkeit, dass ich mir diesen Unfug anhören musste. Und das auch noch 4000 Jahre später. Als ob ich noch irgendetwas daran ändern könnte. Sollte er doch froh sein, dass sein Pharao ihn nicht gleich mit um die Ecke gebracht hatte, als er starb. Ich jedenfalls hatte meine eigenen Probleme. Mein Examen nämlich, durch das ich wahrscheinlich nicht nur wegen meiner Wissenslücken sondern ganz sicher auch wegen meines beträchtlichen Schlafmangels mit Pauken und Trompeten durchfallen würde, wenn nicht bald ein Wunder geschähe. Und dann auch noch so was. Ob ich nicht vielleicht wenigstens ein kleines bisschen an den Geschichtsbüchern drehen könne, damit sein Name nicht völlig in Vergessenheit geriet. Aber klar, sicher doch! Sonst noch was? Wie stellte er sich das eigentlich vor? Erst in den frühen Morgenstunden konnte ich Amir, höflich aber bestimmt, dazu bewegen, mein Zimmer im Studentenwohnheim zu verlassen und mir ein paar Stunden lebenswichtigen Schlaf zu gönnen. Ich hatte das Gefühl gerade erst eingeschlafen zu sein, als der Wecker mich auch schon wieder in die harte Realität zurückholte.
Zwei Stunden später saß ich mit schweren Augenlidern und dumpfem Schädel über meiner Römerklausur und war nicht einmal in der Lage, die Fragen richtig zu interpretieren, geschweige denn, irgendwelche Antworten darauf zu finden. Und das, wo das römische Reich ohnehin schon meine Schwachstelle war. Ich hatte einfach keinen Draht zu Julius Cäser, Nero und den Gladiatoren. Womit hatte ich das nur verdient? Und genau in diesem Moment, als ich eigentlich alle Geister der Welt (und meine Profs genauso) am liebsten ins Niemandsland gewünscht hätte, hatte ich meinen ersten Kontakt mit dem Mann, der mein Leben grundlegend verändern sollte.
„Geben Sie es auf, ma chere.“ Ich zuckte zusammen und war schlagartig hellwach (na ja, hellwach ist vielleicht doch ein bisschen übertrieben). Wer hatte das gesagt? Mein Professor saß tief in seinem Historienbuch vergraben an seinem Pult. Und all meine Mitstudenten mühten sich mit ihrer Klausur. In den Sonnenstrahlen, die durch die große Fensterreihe hereinfielen tanzten winzige Staubkörnchen. Leise konnte man das Rauschen der Klimaanlage hören. Aus dem Wasserhahn des Spülbeckens in der Ecke fiel ein Tropfen. Sonst war alles ruhig. Hier und da ein Knistern von Papier, ein Quietschen von Radiergummi, ein verhaltenes Husten. Unsicher blickte ich in die Runde. Keiner schenkte mir auch nur die geringste Aufmerksamkeit.
„Geben Sie sich keine Mühe, Sie können mich nicht sehen. Aber das ist auch gar nicht so wichtig. Sie werden diese Klausur in hundert Jahren nicht bestehen. Geben Sie die Blätter ab und legen Sie sich ins Bett. Ich werde Ihnen die Plagegeister derweil vom Hals halten und mich um Ihre Klausur kümmern.“
Wer wusste von meinen nächtlichen Besuchern? Ich hatte mit niemandem darüber gesprochen, denn jeder halbwegs vernünftige Mensch (Parapsychologiestudium hin oder her) hätte mich todsicher für verrückt erklärt, wenn ich mit einer solchen Story dahergekommen wäre.
„Tun Sie, was ich sage und denken Sie nicht weiter drüber nach. Sie werden früh genug alles erfahren.“
„Hallo?“ ich stellte die Frage in Gedanken. Denn scheinbar hatte ich es hier mit Telepathie zu tun. Aber ich bekam keine Antwort mehr.
„Geisteskrankheit – hervorgerufen durch Schlafmangel. Jetzt siehst du nicht nur Gespenster, du hörst sie auch noch“, sagte ich zu mir selbst. Aber warum eigentlich nicht? Die Klausur konnte ich so oder so vergessen. Warum sich nicht einen Tag Auszeit gönnen und den Schlaf von der Nacht nachholen. Am Tage würden mich wenigstens die Geister in Ruhe lassen. Mein Professor bedachte mich mit einem vernichtenden Blick, als ich knapp 20 Minuten nach Klausurbeginn bereits meine Mappe abgab und mich verabschiedete.
„Sie müssen ja eine Unmenge an Informationen über die Römer niedergeschrieben haben, Miss Carter.“
Ich erwiderte seinen spöttisch-ironischen Blick mit einem ebensolchen Lächeln und verließ den Hörsaal. Der konnte mich mal gernhaben. Ich wollte nur noch mein Bett.
Das letzte, woran ich dachte war, ‚Viel Spaß mit meiner Römer-Klausur Mr. Unbekannt.’
Dann war ich auch schon eingeschlafen – und wachte 23 Stunden später erst wieder auf.
„Scheiße! Verdammte Scheiße. Jetzt komme ich auch noch zu spät zu Latein. Göttin, wie kann man nur so lange schlafen?“
Fluchend und stolpernd (meine Lebenskräfte waren noch immer nicht wieder voll da) schleppte ich mich unter die Dusche, die ich mutig, aber dafür umso lautstarker fluchend auf eiskalt stellte. Anschließend schlüpfte ich – immer noch leicht benommen – in Jeans und T-Shirt, wand meine rote Mähne zu einem lockeren Knoten, den ich mit einem Bleistift feststeckte (ich hatte grad nichts anderes zur Hand) und rannte, so schnell ich konnte über den Platz zum Uni-Gebäude. Mitten in die Stunde reinplatzen, oder Latein ganz bleiben lassen und erst zur Archäologie-Stunde erscheinen? Letzteres erschien mir vernünftiger, da Latein nur noch eine knappe viertel Stunde dauerte. Das Uni-Gebäude selbst lag kaum fünf Minuten vom Studentenwohnheim entfernt. Nur durch eine kleine Parkanlage mit uralten Bäumen und billigen Blumenbeeten voneinander getrennt.
Im Winter wirkte dieser Campus-Park immer beinah unheimlich auf mich. Mit den knorrigen alten Eichen, die ihre kahlen Äste trostlos in den Himmel reckten. Wie starr – wie tot. Und auf den Wegen brauner Schneematsch. All das unter einem trübe verhangenen Glasgower Winterhimmel. Still und kalt war es dann hier. Im Frühling und Sommer war das ganz anders. Es war angenehm, wenn man mittags seine Decke auf dem grünen Rasen unter den wieder dicht belaubten Bäumen aufschlug. Beim Lernen die wärmende Sonne genoss. Und wenn das Summen der Insekten und das Zwitschern der Vögel einen durch den Tag begleitete. Der Duft der Blumen verlieh dem ganzen etwas ungemein heimeliges. Aber am meisten liebte ich den Herbst. Wenn es ruhiger wurde, aber immer noch lebendig und warm blieb. Wenn die letzten Blumen blühten, die Blätter sich bunt färbten und zwischen all den Sträuchern und Bäumen die kleinen Eichhörnchen aufgeregt hin und her flitzten, um Vorräte für den bevorstehenden Winter zu sammeln. Es dauerte immer nur wenige Tage, bis man die kleinen Nager mit Futter wieder so zahm bekommen hatte, dass sie einem aus der Hand fraßen. Und das ein oder andere besonders kecke und vorwitzige Kerlchen tanzte uns Studenten dann buchstäblich auf dem Kopf herum.
Nun, diesen Herbst würde ich nicht mehr hier auf der Uni verbringen. Bis dahin würde ich mein Studium abgeschlossen haben und für immer von hier fort gehen. Ich bedauerte es nicht wirklich. Und doch war da eine Spur von Wehmut bei dem Gedanken daran.
Ich erreichte das Ende der Grünfläche und wie immer, wenn ich aus dem Park herauskam und über den großen Schulhof zum Hauptgebäude hinübersah, überkam mich das Gefühl, dass es einzig mit der Absicht erbaut worden war, uns Studenten einen Heidenrespekt einzuflößen. Gigantisch ragte es vor einem auf. Ein Koloss aus Stein und Beton. Völlig fehl am Platz, aber ehrfurchtgebietend. Und drinnen kam man sich beinah vor, wie in einem Krankenhaus. Es herrschte eine sterile, unpersönliche Atmosphäre. Sogar in den Lesungsräumen und in den beiden großen Schulbibliotheken. Die Wände waren allesamt grün gestrichen, die Decken weiß. Und die Böden waren Grau in Grau. Unterstrichen wurde das alles noch durch die peniblen Regeln, auf deren Einhaltung das Aufsichtspersonal und die Professoren genauestens achteten. Die Strafen für Verstöße jeder Art waren zwar nicht mittelalterlich, aber dennoch hart und demütigend. Doch so hielt man die Ordnung aufrecht, die so wichtig war. Gerade bei den Studiengebieten, die hier angeboten wurden. Der einzige, etwas hellere Ort in dem riesigen Gebäude war die Kantine, in der wir Studenten zu Mittag aßen. Das Essen war zwar nicht gerade für Gourmets – es war eher fad, meist ziemlich verkocht und kaum gewürzt – doch es ging schnell und war günstig, hier zu essen. Also taten es die meisten von uns.
Am Haupteingang der „Festung“, wie wir Studenten das Schulgebäude nannten, wurden meine Nerven erneut auf eine Geduldsprobe gestellt. Amir schwebte nervös auf und ab. Am helllichten Tag! Hatte der noch alle Tassen im Schrank? Wieder fiel mir auf, wie deutlich er sich doch darstellte, trotz seiner Durchsichtigkeit. Klar konnte man das lange schwarze Haar in ägyptischem Stil sehen. Und die mandelförmigen Augen mit der dunklen Kohlestiftumrahmung blickten mich nahezu lebendig an. Trotz all seiner geistigen Verzweiflung war seine Haltung die eines stolzen ägyptischen Kaufmannes. Und insgeheim bewunderte ich ihn. Aber trotzdem, er war mir lästig – gerade jetzt.
„Ich habe jetzt keine Zeit für dich, Amir. Ich bin spät dran. Und außerdem ist es mitten am Tag. Du solltest gar nicht hier sein.“
„Aber letzte Nacht kein Durchkommen zu dir, mein Problem....“
„Ganz richtig, Amir – DEIN Problem. Es ist deins und es bleibt deins, und es ist ein 4000 Jahre altes Problem. Aber da es deins ist, löse es auch bitte selbst und lass mich mein Examen machen. Und sag das auch deinen anderen Geisterfreunden. Ich kann eure Probleme nicht lösen, nur weil ich euch sehen und hören kann. Ich bin paranormal begabt, aber mehr auch nicht.“ (leider, fügte ich in Gedanken hinzu)
Ich war halb wütend, halb verzweifelt. Wie sollte ich all diesen Geschöpfen nur klarmachen, dass ich keine Hilfe sein würde, egal wie sehr sie es sich erhofften. Ich war nur ein Mensch, der sie sehen und hören konnte, aber ich konnte mit meinen Fähigkeiten nicht mal mir selbst helfen. Wie sollte ich sie da für jemand anderen einsetzen können?
Amir sah mich lange an, dann nickte er.
„Vielleicht du haben recht, Melissa. Vielleicht jetzt andere da sein, uns zu helfen. Aber du sein sehr stark. Vielleicht eines Tages ich dir können helfen.“
Dann war er verschwunden. Noch bevor ich ihn fragen konnte, wie er das meinte. Hätte ich doch nur schon eher gewusst, dass das so einfach ging. Dabei hatte er nicht im mindesten enttäuscht oder gar böse ausgesehen. Was mich ehrlich gesagt, ein bisschen wunderte. Aber wie ich ihm bereits gesagt hatte, ich hatte keine Zeit. Archäologie begann in den nächsten paar Minuten und vermutlich würden wir unsere Römer-Klausur von gestern dann direkt zurückbekommen. Wir hatten in Historie und Archäologie denselben Prof.
Ich behielt Recht. Er verteilte die gestrige Klausur während er uns die Abschlussklausur in Archäologie schreiben ließ. Jeder musste ein Thema ziehen. Ich zog Ägypten. Und reuevoll bedankte ich mich bei meinen nächtlichen Besuchern. Hatte ich doch von ihnen viele Informationen mehr oder weniger absichtlich aus erster Hand. Und da Ägypten ohnehin mein Steckenpferd war, fiel mir diese Klausur denkbar leicht.
„Sie haben bereits Ihre Jahresklausur über Ägypten geschrieben, Miss Carter, nicht wahr. Ihr Spezialgebiet, wenn ich mich nicht irre. Sie haben schon bemerkenswert viel Glück.“
Unser Prof blickte mir über die Schulter, während ich meine Klausur stichpunktartig vorbereitete.
„Es ist mir ein Rätsel, wie sie es geschafft haben, meine Liebe. Aber dennoch meinen Glückwunsch.“
Er legte die gestrige Klausur quer über meine aktuelle Arbeit und ging weiter. Mir blieb der Mund offen stehen. Dort stand ein dickes rotes A. Volle Punktzahl. Hastig blätterte ich die Mappe durch. Eine perfekte Arbeit. Und noch dazu in meiner schönsten Sonntagschrift. Ich fragte mich, wie er – mein unbekannter neuer Freund - das wohl geschafft hatte. Er musste ein Genie sein, was das alte Rom anging – und Handschriften. -
Ich hörte leider nichts mehr von meinem unbekannten Helfer. Mein Examen bestand ich recht passabel und ich entschied mich, danach erst mal einen längeren Urlaub zu machen. Dabei dachte ich nicht an die Südsee oder die Staaten. Mir reichte schon das kleine beschauliche Häuschen im Grünen in der Nähe von Thedford, in dem Grandma lebte und zauberte. Sie war eine Hexe, eine Hohepriesterin, und hatte sich im Laufe ihres Lebens Wissen angeeignet, von dem ich nur träumen konnte. Ich war bei ihr aufgewachsen, nachdem meine Mutter gestorben war und ich liebte sie damals mehr als mein eigenes Leben. Hier kam ich zur Ruhe. Ich vergaß die Mühen meines Studiums und auch die ägyptischen Geister rückten erst mal in weite Ferne.
„Wenn du dich ein bisschen erholt hast, können wir hier mit deinem Unterricht fortfahren. Da es sich nun geöffnet hat, ist die Zeit reif, dich einzuweihen. Aber lass dir Zeit, mein Kind. Es drängt uns nicht.“
Wir saßen auf der Veranda und tranken Tee. Typisch britisch. Davon ließ Grandma sich nicht abbringen. Ich atmete den aromatischen Duft des Tees tief ein und entspannte mich. Meine Sachen standen alle noch eingepackt oben in meinem Zimmer, aber ich würde später noch genug Zeit haben, sie auszupacken. Jetzt wollte ich einfach nur die Ruhe genießen – und den Tee. Ich war so glücklich, hier zu sein, wo ich Frieden hatte.
Großmutters Haus lag mitten im Grünen. An einem kleinen See, umgeben von Wäldern. Das Haus selbst war aus Holz und Stein massiv gebaut und in tadellosem Zustand. Die beiden Veranden – eine große vor dem Haus und eine etwas kleinere nach hinten – wurden täglich von ihr gefegt und regelmäßig neu mit weißer Farbe gestrichen. Auf beiden standen ein kleines Tischchen und zwei bequeme Schaukelstühle, die ihr Urgroßvater selbst geschreinert hatte. An die Vorderveranda angrenzend lag ihr kleiner Kräutergarten. Der Obst- und Gemüsegarten befand sich hinter dem Haus. Die Dachziegel waren aus rotgebranntem Lehm, die Wände des Gebäudes weiß verputzt. Fensterläden und Türrahmen waren Ton in Ton zum Dach gestrichen. Kleine Windspiele und Mobiles hingen von der Decke und wenn der Wind um sie herum strich, klingelten sie leise und melodisch. Nach vorne hin hatte das Haus zwei Giebel mit Fenstern im oberen Stockwerk. Dort hatte ich meine Räume. Ein Wohn- und Schlafzimmer und ein kleines Bad. Nach hinten waren lediglich Dachfenster in die Schräge gearbeitet, wo Großmutter ihr Schlafzimmer hatte. Ihre übrigen Zimmer befanden sich unten.
„Ich wünschte, meine Mutter wäre hier“, sagte ich sehnsüchtig, während ich an meiner Tasse nippte. „Ich habe sie zwar nicht wirklich gekannt, aber sie fehlt mir manchmal einfach.“
„Das ist ganz normal, Melissa. Und jeder Mensch kennt seine Mutter. Eine Seele vergisst nie eine andere, die ihr einmal nahe war.“
Grandma wippte leicht mit ihrem Schaukelstuhl und schaute in die Ferne. Ihre Stimme klang sanft, aber dennoch sehr kühl. Meine Mutter war ein Thema, dem sie stets aus dem Weg zu gehen pflegte. Manchmal wunderte mich das sehr. Schließlich war es doch ihre Tochter gewesen.
„Du sprichst nie von ihr. Warum?“
Sie lehnte sich zurück und stellte das Wippen abrupt ein. Dabei wurden ihre Züge geradezu undurchdringlich.
„Es würde sie dir nicht zurückbringen. Und du solltest dich mit dem beschäftigen, was ist, nicht mit dem, was war.“
Ich blickte in meine Teetasse. Die dampfende Flüssigkeit schimmerte rotbraun. Für einen Moment sah ich das Gesicht einer Frau darin aufblitzen. Sie lächelte. Dann war sie wieder verschwunden.
Mein Vater war bei einem tragischen Unglück ums Leben gekommen. Seine Familie hatte jeglichen Kontakt abgebrochen. Mum war kurz darauf sehr krank geworden und schließlich auch gestorben. Mehr erfuhr ich nie. Über das wie und warum des Unglücks, über Dads Familie, über Mums Krankheit. Großmutter sagte immer, es würde mich zu tief verletzen. Ich hatte keinen Grund, ihr das nicht zu glauben und so vertraute ich ihr und akzeptierte ihr Schweigen. Ich wuchs bei ihr auf und sie zog mich so liebevoll groß, wie es auch eine Mutter nicht besser hätte tun können. Ich hatte daher einfach das Gefühl, dass es mir nicht zustand, weiter in sie zu dringen, wenn sie nicht darüber reden wollte.
„Weißt du, während der letzten Wochen sind mir meine spirituellen Fähigkeiten ganz schön auf die Nerven gefallen.“
Es war der krampfhafte Versuch das Thema zu wechseln. Grandma wollte nie über meine Mutter sprechen und ich traute mich einfach nicht, es zu verlangen.
„Hätte ich geahnt, dass es so plötzlich losgeht, hätte ich dir in den Semesterferien die ersten Lektionen erteilt. Dann hättest du sie besser im Griff gehabt.“
Wir mussten beide lachen. Stolz war ich nicht gerade auf mein C in der Gesamtwertung, aber es war schon okay. Es würde sich schon irgendwer finden, der mich auch mit einem C in der Abschlussprüfung noch einstellte. Und immerhin hatte ich seit meiner letzten Begegnung mit Amir auch endgültig Frieden vor meinen ‚Plagegeistern’.
Ich lehnte mich zurück und ließ mein Leben ein bisschen an mir vorbeiziehen. Ich war gerade mal zwei Jahre alt gewesen, als Grandma mich zu sich genommen hatte. Mum war an einem seltenen Fieber gestorben und da die Familie meines Vaters sich schon vor dessen Tod abgewendet hatte, gab es außer Grandma keine weiteren Verwandten. Ich hatte keine Erinnerung an meine Mutter und das tat mir manchmal unendlich weh. Grandma hatte keine Bilder von ihr und so wusste ich nicht einmal wie sie aussah. Es gab von niemandem aus der Familie Bilder, denn mit Bildern gab man anderen die Möglichkeit magische Macht über einen auszuüben. Also untersagte Grandma derlei Dinge völlig. Nicht mal auf den Klassenfotos meiner Schule oder meiner Uni war ich mit drauf. Mein Pass war wohl das einzige Zugeständnis, das sie in dieser Hinsicht gemacht hatte. Und auch das nur, weil es sich nun mal gar nicht vermeiden ließ.
Meine Kindheit hatte ich fast ausschließlich hier draußen bei Grandma verbracht. Ich war einsam gewesen, zig Kilometer von jeder Nachbarschaft entfernt. Und somit auch von allen Gleichaltrigen, die meine Freunde hätten sein können. Also hatte ich in meiner Kindheit ganz einfach keine gehabt. Auch später auf der Schule nicht. Aber dazu komme ich noch. Großmutter hatte sich alle Mühe gegeben, mir das Leben hier draußen einfacher zu machen. Sie hatte mir früh Lesen und Schreiben beigebracht, so dass ich mich tagelang in ihrer Bibliothek beschäftigen konnte. Natürlich war der Stoff in diesen Büchern viel zu schwer für ein kleines Kind, und ich verstand fast nichts von dem was ich da las und behielt noch weniger davon in Erinnerung. Aber ich klammerte mich an diese Bücher, da sie alles waren, was ich hatte. Diese Bücher und einen geheimnisvollen Phantasie-Freund, den ich mir erschuf und der immer kam, wenn meine Einsamkeit mich allzu sehr quälte. Mit ihm hatte ich dann über all meine kleinen Geheimnisse und Träume reden können. Er war ein wunderschöner dunkler Prinz, der immer für mich da war, wenn ich mich in der Nacht fürchtete, oder wenn ich später Probleme in der Schule gehabt hatte. Ich hatte mir immer vorgestellt, dass er nur für mich da wäre, für sonst niemanden auf der Welt. Und er kam immer erst, wenn es ganz dunkel war, damit Großmutter ihn nicht bemerkte. Denn ihn wollte ich ganz für mich alleine haben. Ich wollte ihn mit niemandem teilen. Er nannte mich, seine kleine Prinzessin und sein Augenstern und hielt mich oft im Arm bis ich eingeschlafen war. Er war ein perfekter Märchenprinz gewesen, so wie die eben sind. Und unbesiegbar. Er hatte sogar einen großen schwarzen Hengst, den er manchmal mitbrachte, wenn er mich besuchte und dann durfte ich darauf reiten und fühlte mich wie die Königin von England. Verwunschene Orte zeigte er mir, Geheimplätze und magische Verstecke, und er prophezeite mir oft, dass ich einmal eine mächtige Hexe werden würde. Das war genau das, was ich mir damals als kleines Mädchen am sehnlichsten wünschte. Die mächtigste gute Hexe der Welt zu sein. Er sang mir Lieder vor, in einer Sprache, die ich nicht verstand. Aber ich hörte ihm gerne zu. Er kannte die beiden Burgfräulein aus meinen Träumen, deren Namen ich nie aussprechen durfte, die ich aber nie vergessen dürfe, wie er sagte. Großmutter wusste nichts über die beiden edlen Frauen, die in einem verwunschenen Schloss gelebt hatten und mich oft zum Tee eingeladen hatten. Warum sie das irgendwann nicht mehr taten, sondern nur noch ab und zu in meine Träume kamen, konnte ich nicht verstehen. ‚Weil sie weit weg reisen mussten und niemand weiß, wann sie wiederkommen’, hatte mein Märchenprinz mir erklärt. Als ich Grandma einmal von den beiden Edelfrauen erzählt hatte, hatte sie nur gemeint, das seien alberne Träumereien und mich ermahnt solche Sachen zu vergessen. Und dann hatte sie mir einen Kräutertee gebraut, damit ich besser schlafen konnte. Mit den Jahren hatte ich die beiden Edelfrauen tatsächlich fast vergessen, und meinen Märchenprinzen ebenfalls. Wie das halt so ist, mit den Kinderträumen. Sie verlieren sich, wenn man erwachsen wird. Irgendwann kam mein Prinz nicht mehr. Weil ich meine Phantastereien ablegte, als ich älter wurde. Aber gerade jetzt musste ich wieder an all das denken. Ich lächelte verstohlen und Grandma blickte fragend zu mir hinüber.
„Ach nichts, Großmutter. Ich habe nur grade an ein paar Sachen aus meiner Kindheit gedacht.“
Missbilligend verzog sie das Gesicht. Ich sei jetzt erwachsen und sollte nicht mehr meinen Kindertagen nachhängen. Vor mir läge schließlich eine ganze Welt.
Eine ganze Welt. Mit einem C im Schlussexamen würde es vermutlich nicht mal die halbe Welt sein. Wenn mein edler Prinz doch nur wiederkommen und mich auf sein Märchenschloss entführen würde. Im Moment hätte ich nichts dagegen gehabt, dieser Welt zu entfliehen und mich im Nirgendwo zu verlieren. Zusammen mit einem schönen, stattlichen Prinzen, der mir die Welt zu Füßen legte und die Sterne vom Himmel holte. Natürlich hatte es ihn nie wirklich gegeben, ermahnte ich mich. Damals nicht und heute nicht. Aber mein geheimnisvoller Freund war mir eine Stütze gewesen. Und als ich später an der Uni in Glasgow studierte, hatte ich mir oft gewünscht, er würde wiederkommen. Aber aus dem Alter war ich leider raus. Ich dachte noch mal an den Unbekannten, der meine Römerklausur für mich geschrieben hatte. Wer immer er auch war, irgendwie fand ich die Vorstellung reizvoll, dass es mein Märchenprinz von damals war, der zu mir zurückgekehrt war. Ich erwähnte ihn gegenüber Grandma nicht. Sie hätte das nicht verstanden. Sie hatte auch nicht verstanden, warum ich als Kind so sehr unter der Einsamkeit gelitten hatte. Darunter, dass sie mich später, als ich zur Schule ging und endlich auch mal die Welt da draußen kennen lernte, alle mieden. Ich hatte während meiner Schulzeit keine engeren Freundschaften. Die meisten meiner Mitschüler mieden die „Hexentochter“, wie sie mich nannten. Und die wenigen, die sich trotzdem in meine Nähe wagten, bekamen recht schnell den Umgang mit mir von ihren Eltern untersagt. Ich galt als sonderbar. Und meine ausgezeichneten schulischen Leistungen (die leider nach dem Wechsel auf die Uni nicht mehr ganz so glänzend waren, um es mal vorsichtig auszudrücken) halfen mir auch nicht gerade, die Barriere zwischen mir und den anderen Schülern zu überwinden.
Zumindest das war dann auf der Uni einfacher geworden. Hier war ich anonym. Keiner wusste hier in Glasgow etwas von meiner Großmutter, der Hexe und Hohepriesterin. Keiner nahm Anstoß an meinem Verhalten und meinen Denkweisen. Ich hatte sogar einige kurzlebige Beziehungen mit Männern. Aber nichts wirklich ernstes. Entweder langweilte mich ihre Engstirnigkeit, oder sie bekamen Angst vor meiner paranormalen Stärke. Denn Gedankenlesen konnte ich immerhin sehr gut. Fast jeder fühlte sich etwas unwohl in meiner Gegenwart – meine Profs eingeschlossen – und alle versuchten peinlich genau auf ihre Gedanken zu achten. Aber wirklich gemieden wurde ich hier von keinem. Ich studierte schließlich unter anderem Parapsychologie und viele meiner Studienkollegen hatten ansatzweise ähnliche Fähigkeiten (mit denen man was hätte anfangen können, wenn sie sich nicht solche Mühe gegeben hätte, sie zu unterdrücken) oder zumindest das Interesse daran. Allerdings sah man das ganze hier eher nüchtern und wissenschaftlich. Man erforschte und erklärte diese Dinge. Man lebte sie nicht. -
Meinen ersten festen Freund hatte ich mit neunzehn. Er hieß Steve Gerner, studierte zwei Semester über mir Sportwissenschaften und hatte ein Handballstipendium bekommen. Steve war nicht gerade das, was man als außergewöhnliche Schönheit bezeichnen würde. Er war nur knapp einen halben Kopf größer als ich, hatte mausbraune Haare und sehr helle, graugrüne Augen. Natürlich war er schlank und durchtrainiert, aber nicht wirklich muskulös. Und er war genau das, was man als braven Jungen bezeichnen würde. Kein Draufgänger, eher einer, der immer mit dem Strom schwamm, sich ganz brav an alle Regeln hielt und fleißig für seine Prüfungen büffelte. Trotzdem hatte ich ihn gern. Es war keine Liebe – das nun wirklich nicht, aber er versuchte, mich so zu akzeptieren wie ich nun mal war, nahm viel Rücksicht und war ungemein zärtlich und einfühlsam. Mit ihm schlief ich zum erstenmal. Das Erlebnis war trotz aller seiner Bemühungen nicht gerade berauschend. Auf dem Rücksitz seines uralten Bentley, der eigentlich nur noch vom Rost zusammengehalten wurde. Aber der Wagen war sein ganzer Stolz. Wir parkten etwas außerhalb vom Campusgelände. Und dann passierte es. Es tat etwas weh, als er in mich eindrang und aufgrund seiner Unerfahrenheit war es auch ziemlich schnell wieder vorbei. Er war eben nicht der Frauenheld, der genau wusste, was ein Mädchen wollte. Aber das war nicht wichtig. Ich hatte endlich meine Jungfräulichkeit verloren und war recht glücklich darüber, auch wenn es nicht das unvergessliche Erlebnis war, von dem mir viele meiner Mitstudentinnen so vorschwärmten. Das schlimmste war für mich aber die Zeit danach, als ich drei Wochen lang mit ängstlicher Erwartung auf meine Mondblutung wartete. Meine damalige Zimmergenossin (in den ersten Jahren an der Uni hatte ich noch nicht den Luxus eines Einzelzimmers) versuchte mich damit zu beruhigen, dass sie für den Fall des Falles einen Arzt kenne, der das Problem ganz schnell wieder beiseitigen könne. Sie habe das auch schon einmal gemacht. Dass so etwas für mich nicht in Frage gekommen wäre, sagte ich ihr erst gar nicht. Sie hätte es sowieso nicht verstanden. Glücklicherweise bekam ich meine Regel. Zwar eine halbe Woche zu spät, aber ich war auf alle Fälle nicht schwanger. Noch am selben Tag besorgte ich mir die Pille, um diese Nervenprobe nicht noch ein zweites Mal durchstehen zu müssen.
Steve und ich blieben etwa sieben Monate zusammen. Dann wurde eine Trennung plötzlich unumgänglich. Ich beendete die Beziehung, weil ich spürte, dass Steve sich immer unwohler in meiner Nähe fühlte. Er war mir fremd gegangen und befürchtete, ich könne es in seinen Gedanken lesen und mich für seine Untreue rächen. Seine Erleichterung darüber, als ich ihm erzählte, ich wisse sehr wohl davon, würde es ihm aber nicht übel nehmen, war grenzenlos. Und er war dankbar, dass ich die Beziehung in Freundschaft beenden wollte. Er hatte sich nämlich in das andere Mädchen verliebt. Ich gab ihn gerne frei, denn sie liebte ihn auch. Und das war genau das, was ich ihm nicht geben konnte: Liebe.
Mein zweiter Freund war ein Junge namens Roy Fletscher und das genaue Gegenteil von Steve. Nicht nur optisch – er war groß, muskulös, mit nachtschwarzem Haar und stahlblauen Augen und einem Lächeln, das einem die Knie weich werden ließ. Roy war auch ein wirklich harter Typ – von der übelsten Sorte. Er studierte nicht an unserer Uni, sondern leistete hier Sozialstunden ab, für einen versuchten Raubüberfall mit schwerer Körperverletzung. Allein sein Alter – er war erst siebzehn – bewahrte ihn vorm Knast. Ich lernte ihn kennen, als die Sache mit Steve kaum eine Woche zurücklag. Und für mich war es Liebe auf den ersten Blick. Für Roy war es eine nette Abwechslung und eine weitere Eroberung. Darüber war ich mir klar, aber ich wollte es genießen, so lange es ging - also bis er seine Sozialstunden abgeleistet hatte. Der Umstand, dass er drei Jahre jünger war als ich, störte mich nicht. Wohl aber unsere gesamte Umgebung. Wie auch unsere Beziehung an sich. Steve bat mich mehrmals eindringlich, die Finger von dem Typ zu lassen.
„Melissa, er ist nicht der richtige Umgang für dich“, sagte er. Roy sei schließlich ein Verbrecher. Ich müsse auch mal an meinen Ruf denken. Doch das kümmerte mich alles nicht.
Für mich war Roy einfach herrlich unkonventionell (vorsichtig ausgedrückt). Ihn kümmerten keine Regeln, keine Vorschriften, keine Gesetze. Er tat, was ihm Spaß machte, war wild und rebellisch. Ich liebte seine leidenschaftliche Art – besonders im Bett. Ein Draufgänger, wie er im Buche stand. Er blieb vier Monate an der Uni und so lange liebten wir uns auch, wann immer die Möglichkeit bestand. Danach verabschiedete er sich von mir mit dem Versprechen, ich würde noch viel von ihm hören. Dieses ‚viel’ war eine Meldung in den Nachrichten. Er hatte eine Bank überfallen und vier Geiseln genommen. Zwei davon hatte er erschossen, um seinen Forderungen nach einem Fluchtfahrzeug und freiem Abzug Nachdruck zu verleihen. Bei dem Versuch mit der Beute und einer Geisel zu fliehen, hatte man ihn gestellt und erschossen, als er wie ein Wahnsinniger auf die Polizisten gefeuert hatte. Ich hatte schon bei unserem Abschied geahnt, dass so etwas geschehen würde. Was mich erschreckte war, dass ich nicht einmal traurig darüber sein konnte. Ich vermisste Roy nicht.
Danach hatte ich nur noch sehr kurzlebige Beziehungen, obwohl ich viel mit einer kleinen Clique – zu der unter anderem auch Steve gehörte – rumzog. Aber ganz egal, unter wie vielen Menschen ich mich auch befand, ich gehörte nie wirklich dazu. Und das fühlten die anderen ebenso deutlich wie ich. Rückblickend musste ich mir an diesem Nachmittag bei Grandma ganz einfach eingestehen, dass ich eigentlich mein ganzes Leben eine ziemliche Einzelgängerin gewesen war. Na ja, was soll’s? Ich war stolz auf das, was ich war. Wer damit nicht umgehen konnte, hatte eben Pech gehabt.
Grandma ließ mich meinen Gedanken nachhängen. Wenn sie auch nicht nachvollziehen konnte, dass ich oft darunter gelitten hatte, so wusste sie doch zumindest um meine innere Einsamkeit und dass ich während meiner Schulzeit mühsam hatte lernen müssen, damit zu leben. Ich denke, sowenig Verständnis sie auch dafür hatte, dass ich anfangs darunter litt, umso stolzer war sie schließlich darauf, dass ich es geschafft hatte, so unbefangen damit umzugehen.
Bis Sonnenuntergang blieben wir draußen auf der Veranda sitzen und genossen den Frieden um uns herum. Dann gingen wir hinein, um das Abendessen vorzubereiten. Grandmas Küche war bestens ausgerüstet mit allen möglichen Kräutern, Gewürzen und Ölen. Fleisch gab es bei ihr nur sehr selten. ‚Ehre das Leben. Fleisch brauchst du nur in geringen Mengen. Fordere also nicht mehr aus dem Reich der Tiere, als dein Körper wirklich benötigt’ , hatte sie mir erklärt und ich versuchte, es zu respektieren. Es war schon fast unglaublich, was sie mit ein bisschen Gemüse und Getreide alles herzaubern konnte. Gekocht wurde noch immer auf einem alten Holzofen. Zwar wurde des Holzhacken immer mühsamer für sie, aber sie wollte ihre Tradition auch nicht aufgeben. Der Ofen war schon seit Generationen im Besitz der Familie und war irgendwann von Ungarn mit nach Deutschland und von dort weiter nach England gebracht worden. Alle Frauen hatten das Essen auf diesem Ofen zubereitet und so würde sie es ebenfalls halten, bis zu ihrem Tod.
„Du wirst ihn hoffentlich wenigstens in Ehren halten, wenn du ihn einmal erbst. Auch wenn ich wohl kaum davon ausgehen kann, dass du ihn ebenfalls zum Kochen benutzen wirst, bei all den modernen Haushaltsherden heutzutage“, sagte sie, während sie Möhren in den Eintopf schnitt.
Nun, einen Mikrowellenherd hielt ich für wahrscheinlicher und sprach es auch aus, ohne weiter nachzudenken. Ich erntete einen beleidigten Blick dafür und hatte den Anstand, etwas zerknirscht zu schauen. Mit meinen Kochkünsten war es allerdings ohnehin nicht allzu weit her. So ’ne Mikrowelle war da richtig praktisch.
Für eine Küche fand ich den Raum sehr hell. Alles war überwiegend in weiß oder heller Eiche gehalten und wirkte fast schon klinisch sauber. Bei mir würde so eine Küche sicher in Nullkommanichts grau und fleckig aussehen. Da würde ich schon ein paar Heinzelmännchen brauchen, um sie so sauber zu halten, wie Grandma. Bei dem Gedanken an Heinzelmännchen musste ich wieder an meinen geheimnisvoller Helfer denken und überlegte, ob ich Grandma nicht doch von ihm erzählen sollte. Aber irgendetwas in mir sträubte sich dagegen, und so ließ ich es bleiben. Vermutlich würde er ohnehin nie wieder auftauchen.
Das Abendessen nahmen wir im Wohnzimmer am Esstisch ein. Das Wohnzimmer war ein krasser Gegensatz zur Küche. Dunkel und rustikal. Mit viel Holz und einer Sitzgarnitur aus mokkafarbenem Samt. Die meisten hätten hier wahrscheinlich als allererstes den Fernseher vermisst, denn bei Großmutter gab es weder Radio, noch Fernsehen, noch eine Tageszeitung. Sie verließ sich auf ihre übersinnlichen Antennen und alles andere erfuhr sie bei ihren regelmäßigen Besuchen in der Stadt. All diesen modernen Mumpitz hielt sie für unsinnig und verblendend. Der einzige technische Luxus und eine sichere Verbindung nach draußen, stellte das uralte Telefon dar, bei dem ich mich schon manches Mal gefragt hatte, wie es überhaupt noch funktionieren konnte. Das Ding gehörte in ein Museum, nicht in einen Haushalt. Aber offen gestanden, fehlten mir all diese Luxusgegenstände nie, wenn ich bei Grandma war. Hier gab es soviel zu tun und zu entdecken. Soviel zu lesen und zu lernen. Es wurde nie langweilig. Und ich denke, die modernen Geräte hätten ohnehin nur die Ruhe und Romantik dieses Ortes zerstört. Es hätte einfach nicht hierher gepasst. Während des Essens redeten wir über belanglose Dinge und beschlossen, später ein paar kleine Experimente mit meinen medialen Fähigkeiten zu machen. In Großmutters Hexenküche ließ sie mich mittels Telepathie Kontakt zu einigen ihr bekannten Geistwesen aufnehmen, sowie einige Gegenstände mit der Kraft meines Willens zum Schweben bringen. Es strengte mich weit mehr an, als ich gedacht hätte und so hörten wir kurz nach Mitternacht schließlich auf.
„Du bist sehr müde. Das alles ist wohl noch etwas viel für dich. Geh schlafen. Morgen früh fangen wir mit der Theorie an. An die Praxis gehen wir erst wieder, wenn du etwas stärker geworden bist. Du bist zu schutzlos, wenn du dich so verausgabst.“
Mit einem zärtlichen Kuss auf die Stirn entließ mich Grandma und ich zog mich in mein altes Kinderzimmer auf dem Dachboden zurück.