Achje, kaum sind sie verheiratet kriselt es bei Lewin und Kitty auch schon. So dringlich wollte Lewin heiraten, wie sicher war er sich, in Kitty seine Seelenverwandte gefunden zu haben... und jetzt zweifelt er doch ein wenig an ihr. Oder besser: an sich selbst. Denn sie sind ja so eng miteinander verwachsen, dass sie zu einer Person geworden sind; und wenn Lewin Kitty kritisiert, kritisiert er sich selbst. Ein schöner Gedankengang, wie ich finde. Ich denke, dass ihre kleine Krise auch wieder vorbei gehen wird. Ja, ich bin eigentlich davon überzeugt. Aber beim Lesen dieses Abschnitts wurde mir wiedermal bewusst, wie seltsam unsere heutige Gesellschaft in dieser Hinsicht eigentlich ist. Damals haben sie geheiratet, oder wurden geheiratet, ohne sich wirklich zu kennen. Vor der Heirat kannte man sich höchstens oberflächlich, hat davor (sofern man eben zum ersten Mal verheiratet ist) keinerlei Erfahrung, wie es ist, mit dem Liebsten (und Liebster ja auch nur im besten Fall) zusammenzuleben, den Alltag zu teilen. Und dennoch haben sie sich irgendwie zusammengerauft, auch wenn die Ehe alles andere als glatt ging, Scheidung war nicht gerade populär und es wurde nur darauf zurückgeriffen, wenn es gar nicht anders ging. Meist gingen die Ehen also wie man es eben erwartet: ein leben lang.
Und heute... hat man in unserer Gesellschaft zumindest so gut wie immer die Möglichkeit, und die wird ja auch meist wahrgenommen, zuerst mal eine ganze Weile ein Paar zu sein, zusammenzuziehen, sich eben im Alltag kennenzulernen... und man heiratet im Allgemeinen erst dann, wenn man sicher ist oder es zu sein glaubt, dass der Partner der richtige für einen ist. Man heiratet also jemandne, von dem man glaubt, er sei der Traumpartner schlechthin (im besten Fall wiederum) und dennoch haben nur so wenig Ehen auf Dauer Bestand... zumindest im Verhältnis zu damals. Damals musste man sich eben irgendwie zusammenraufen, heute versucht man's in den meisten Fällen gar nicht erst. Die Prioritäten haben sich nunmal sehr stark verschoben und eine Heirat hat heute längst nicht mehr den Stellenwert, die sie einmal gehabt hat und den meisten Menschen ist es ziemlich einerlei, ob ihr Gegenüber nun Ehebruch begangen hat und jetzt mit neuem Freund zusammenlebt (es sei denn, man ist selbst betroffen^^), aber verliert in der Gesellschaft seine Stellung - sofern sich das überhaupt noch mit früheren zeiten vergleichen lässt). In der Hinsicht haben wir's eigentlich schon gut^^
Achja, zurück zum Thema, mir hat's der Maler Michailow angetan. Was sind Tolstois Charaktere aber auch menschlich! Kaum irgendwo in der Literatur findet man derart vielschichtige und... ja, eben menschliche Figuren. Und das ist, denk ich, der springende Punkt. Viele Autoren gestalten mit ihren Charakteren Modelle, die in ihren Büchern zwar gut funktionieren, aber eben nur einen Bruchteil an Menschlichkeit darstellen und sich in der realen Welt so gar nicht durchsetzen könnten ... weil es technisch gar nicht so leicht möglich ist, in eine Figur - gerade in eine Randfigur wie Michailow - soviel Charakter (nicht in wertendem Sinn zu verstehen) hineinzustecken. Randfiguren dienen meist dazu, die Handlung voranzutreiben. Bei Tolstoi zwar i.w.S. auch, aber sie sind dabei charakterlich präsent, stellen vielschichtige Figuren dar. Vielschichtiger, als Protagonisten in vielen, vielen anderen Büchern.
Und das finde ich an Tolstoi einfach ausschlaggebend, es geht nicht direkt um die Handlung, es geht darum, wie die Charaktere in der Handlung agieren und reagieren, der Plot funktioniert dann auch von allein.