Die zweite Hälfte des fünften Teils schildert den Tod von Lewins Bruder Nikolaj (Kap. 17 – 20), die Begegnung von Annas Ehemann mit der Gräfin Lydia Iwanowna (Kap. 21 – 25), die Ausbildung des jungen Serjoscha im Hause des Vaters (Kap. 26 – 27) und die Ereignisse nach Annas und Wronskijs Rückkehr nach St. Petersburg (Kap. 28 – 33).
M.E. ist schon bemerkenswert, dass Tolstoj einen solch zerrissenen und alles andere als rational handelnden Charakter wie den Anna Kareninas in den Mittelpunkt seines Romans stellt. Von den bislang abgegebenen Statements teile ich am ehesten die Auffassung, wonach Anna entweder nicht richtig weiß, was sie überhaupt will, oder aber gerade das eigentlich Unvereinbare unter einen Hut bekommen möchte: sie will sowohl Teil der Gesellschaft sein, als auch von Alexej getrennt leben; sie will den Sohn behalten und ihre Beziehung mit Wronskj pflegen... Möglicherweise ist es auch die „Lust am Untergang“, die Anna antreibt – die insgeheime Erkenntnis, dass die Welt für sie einfach zu klein ist. Den „Amoklauf“ ins Petersburger Theater könnte man sowohl mit Realitätsblindheit als auch mit einer tief sitzenden Verzweiflung erklären. Wronskij jedenfalls wird das Heft des Handelns vollkommen aus der Hand genommen. Er ist in den letzten Kapiteln nicht mehr Herr der Lage und kommt mir vor wie ein Fahrlehrer, dessen begeisterte Schülerin soeben mit Vollgas in die entgegengesetzte Richtung der Autobahn einfädelt...
Dass Anna der eigene Sohn vorenthalten wird, ist natürlich schlimm. Andererseits stellt sie mit ihrer Nacht-und-Nebel-Geburtstagsbesuchsaktion erneut unter Beweis, dass sie sich für die Gefühle ihres Mannes nicht wirklich interessiert. Eine kurze Abstimmung mit Alexej kommt Anna nicht in den Sinn. Und auch hinsichtlich des Zeichens, dass sie bei Serjoscha setzt, habe ich meine Zweifel: ich glaube, dass es Anna im Kern darum geht, von ihrem Sohn „freigesprochen“ und damit bestätigt zu werden. Mit Liebe hat das wenig zu tun.
Insgesamt fällt auf, dass Tolstoj (jedenfalls nach meiner Wahrnehmung) kein Urteil über seine Charaktere spricht – Anna, Wronskij und auch Alexej: sie alle sind ja nicht ganz unschuldig an der „verfahrenen“ Situation. Dennoch hält sich Tolstoj mit Bewertungen sehr zurück.