'Anna Karenina' - Teil 6, Kap. 17 - 32

  • Über Wronskis plötzlichen Reichtum habe ich mich auch gewundert. Allerdings glaube ich nicht, daß seine Mutter oder sein Bruder ihm da ausgeholfen haben. Die Mutter wollte ihn nicht weiter finanziell unterstützen und der Bruder konnte es gar nicht, da er das Erbe selbst benötigte. Es wurde zwar kurz erklärt, daß Wronski das Gut sehr erfolgreich bewirtschaftet, aber daß es ihm solch ein luxuriöses Leben ermöglichen kann ?


    Zitat

    Original von Mooney
    An eine Sterelisation hab ich überhaupt nicht gedacht, ich hab mir das eher so erklärt, dass der Arzt ihr ein Mittel zur Verhütung gegeben hat. Wäre sie durch das Kindbettfieber unfruchtbar geworden, wäre das ja nicht moralisch verwerflich und damit kein Grund für Dolly sich so aufzuregen, oder? Aus ihrem Gespräch mit Anna hat sich eher gezeigt, dass Anna sich bewusst gegen weitere Kinder entschieden hat - wie immer das zu der Zeit auch möglich war :gruebel


    Ich hatte auch den Eindruck, daß Anna bewußt ( wie auch immer ) verhütet und das Dolly dies für eine Sünde hielt, da sie so entsetzt bei diesem Gedanken war. Das Anna nun künftig auf Sex mit Wronski verzichten würde, kann ich mir nicht vorstellen. Sie weiß, daß er sich weitere Kinder wünscht und würde ihn damit nur von ihr forttreiben.


    Annas Weigerung bezüglich der Scheidung konnte ich hier nicht ganz nachvollziehen. Sie begründet dies zwar damit, daß sie im Fall der Scheidung ihren Sohn nicht mehr sehen dürfte, aber das darf sie doch auch nicht, wenn sie weiterhin in "wilder Ehe" lebt ?

  • Dieser Abschnitt kommt mir wieder wie ein Blick in einen Vexierspiegel vor. Man sieht die gleichen Personen wie in vielen Szenen vorher und doch sehen sie ein klein wenig anders aus.


    Ob sich das aus dem langen Zeitraum erklärt, in dem Tolstoi an dem Roman arbeitete?


    Die größte Veränderung fällt bei Wronski auf. Vorher ist er als der sorglose Lebemann beschrieben worden, der stets in Geldfragen ein wenig klamm ist und nun lebt er in prallem Luxus. Außerdem scheint er vom fröhlichen Müßiggänger zum hart arbeitenden Gutsbesitzer mutiert zu sein. Bisher immer als gutaussehend (mit vollständiger Zahnreihe *g*) beschrieben, hat er nun auf einmal "sich lichtendes Haar".


    Dolly erscheint als arme Kirchenmaus und die schäbige Kutsche lässt Lewin plötzlich als armen Schlucker erscheinen.


    Irgendwie hat es hier in der Geschichte geruckelt. Es kommt mir so vor wie bei einem Puzzle, bei dem zwei Teile nicht ganz exakt zueinander passen, obwohl die Farbe stimmen würde. Zumindest hatte ich beim Lesen diesen Eindruck.


    Dass Anna nervlich am Ende ist, zeigt sich auch ganz deutlich an ihrer Drogensucht. Ohne Morphium kann sie gar nicht mehr einschlafen.


    Die Schilderungen der Wahlen fand ich noch langweiliger als die Jadgszenen. Da gab es wenigstens noch Naturbeschreibungen. Über diese Stellen habe ich etwas zügiger weggelesen. Noch dazu, weil mir Lewin immer mehr auf den Keks geht. Der Typ ist so unbedarft und naiv wie eine Nonne. Herrje!

  • Ja, die Personen machen einen ganz schön grossen Wandel im Buch durch. Ich sehe die Personen in einem ganz anderen Licht.
    Der einzige der beständig bleibt ist Lewin. Der wirkt auf mich auch sehr naiv und unbedarft.


    Wronskis Wohlstand erkläre ich dadurch, dass er mit seinem Bruder über das Erbe sprechen wollte (was dabei rauskam, wurde ja nicht beschrieben). Ausserdem lebt er ja jetzt auf dem Land, welches definitiv billiger ist, als das teure Stadtleben.


    Das Kapitel an sich fand ich bis jetzt das schwächste überhaupt und ich habe einiges überflogen.

  • Ein Blick hinter die Kulissen bietet dieser Abschnitt - sehr aufschlussreich!
    Zweimal ein Gutshof ganz in der Nähe und doch zwei komplett andere Welten.
    Einmal das geradezu herzliche und friedliche Leben auf Ljewins Gut und dann das blenderische, verschwenderische Leben bei Wronski.
    Mir fiel gleich der erste Satz des Buches

    Zitat

    „Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich.“


    ein, wie richtig er die Beziehungsgeflechte zusammenfasst.
    Anna ist und bleibt unglücklich. Sie selbst reduziert ihr Lebensglück auf zwei Männer, auf Wronski und Serioscha. Dabei hat sie doch so viel anderes, was sie erfüllen könnte. Sie sieht umwerfend aus, sie ist sehr intelligent und ihr Mann sucht sogar ihren Rat und lässt sie gewähren. Das wäre doch ein sinnvoller Lebensinhalt. Sie hat eine kleine Tochter und jede Menge Personal, was es zu führen gilt. Aber sie trauert eigentlich nur dem nach, was sie derzeit nicht haben kann: Ihr früheres gesellschaftlich anerkanntes Leben und ihrem Sohn. Als Wronski zur Wahl wegfährt, gerät sie geradezu in Panik- das ist schon krankhaft, was auch ihr Morphiumkonsum verdeutlicht.
    Dolly fällt gleich bei der ersten Wiederbegegnung auf, dass Anna die Augen zusammenkneift. Das ist ein Bild dafür, wie sehr sie ihre Augen vor der Wirklichkeit verschließt und auf der anderen Seite all dem Blendertum in ihrem Scheinglück erliegt.


    Zitat

    Original von beowulf
    Ähem die Damen- ich liebe ja Andeutungen, aber habt ihr das auch so interpretiert, dass Anna sich hat sterilisieren lassen?


    Ich glaube das auch nicht. Ich habe mal nachgelesen, was es damals für gängige Verhütungsmethoden für Frauen gab. Die gängigste Methode waren wohl saure Fruchthälften, die als Zervikalkappe dienten. Es gab ab den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts auch schon chemische Zäpfchen, vielleicht hat sie so etwas benutzt. Das Diaphragma wurde erst nach Erscheinen des Romans erfunden.
    Die Sterilisation als Empfängnisverhütung ist erst seit dem 19. Jahrhundert bekannt. 1881 beschrieb Lungren die erste nach einer Sectio, es ist aber sehr wahrscheinlich, dass die ersten schon im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts im Wochenbett durchgeführt wurden, wenn ein Kaiserschnitt gemacht wurde.
    Möglich ist es also.


    Dolly wird als klein, zusammengeschrumpft, verstaubt und ärmlich geschildert, aber wie sympathisch ist sie mir dadurch. Sie fühlt sich fehl am Platz und lässt sich nicht blenden. Das gespräch zwischen ihr und Wronski ist ein Höhepunkt in diesem Kapitel.


    Drei Modelle einer Beziehung werden hier gegenüber gestellt:
    Kitty-Ljewin: Das glückliche, ehrliche Paar, wo einer den anderen achtet, die miteinander reden
    Dolly-Stiwa: Beide haben sich arrangiert und suchen ihr Glück auf ihre Weise; Dolly in ihren Kindern und der sonstigen Familie; Stiwa in der Politik, beim Spiel und den Frauen
    Anna-Wronski: Die beiden sind sich nicht selbst genug; eine Beziehung auf Betrug aufgebaut scheint zum Scheitern verurteilt; er stürzt sich in die Arbeit, sie in die Sucht


    Zitat

    Original von Macska
    ...
    Über den plötzlichen Reichtum von Wronski hab ich mich auch gewundert. Ich kann mir allerdings nicht vorstellen das das Geld von seiner Mutter kommt, schließlich leben sie ja noch in Schande miteinander. Und durch seinen Weggang vom Militär fällt die Einnahmequelle ja auch weg.


    Ich habe das so verstanden, dass es das Gut seines Großvaters ist, dass er innerhalb der 6 Monate, die die beiden jetzt dort sind, wieder auf Vordermann gebracht hat. Respekt. Irgendwo wird auch erwähnt, dass er ein knallharter Geschäftsmann ist.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin