'Anna Karenina' - Teil 7, Kap. 17 - 31

  • Zitat

    Original von Saiya


    Genauso habe ich diesen Abschnitt empfunden. Ich fand ihn sehr bedrückend zu lesen, wollte aber dennoch kein Wort verpassen. Ich finde es erstaunlich, wie sehr Tolstoi sich in die Gedankenwelt dieser von Depressionen geplagten und opiumsüchtigen Frau hineinversetzen kann.


    das drückt sehr gut aus, was ich beim Lesen empfunden habe. Ich wusste, dass Anna sterben wird, trotzdem hat es mich ungemein mitgenommen.
    Wie Tolstoi diese verfahrene Situation und ihre depressiven Gedankenspiralen beschrieben hat hat mich sehr beeindruckt.
    Ich habe in dem Moment Mitleid für die ganze Familie empfunden: Anna tat mir, in ihren Gedanken gefangen, so leid, gleichzeitig aber auch Wronskij und Anni, die zurückbleiben müssen.


    Am Ende des Abschnitts habe ich mich daran erinnert, wie die zwei sich zu Beginn auf dem Bahnsteig getroffen haben, als Anna nach Hause fährt, beide glücklich und aufgeregt, und kurzzeitig zu der Stelle zurück geblättert. Was in der Zwischenzeit alles passiert ist.. schrecklich.


    Meine Bewunderung für Tolstoi, der Menschen und ihre Entwicklungen so detailliert und ausführlich beschreibt, dass man soviel Anteil daran nimmt.

  • Arme Anna. Am Ende hatte sie nur noch eine Art Tunnelblick. An nichts konnte sie noch etwas Gutes finden. Jeder Mensch, der ihr begegnete, ob ihr bekannt oder nicht, hatte nur Schlechtes im Sinn - v.a. ihr gegenüber.
    Am Erstaunlichsten finde ich, wie gut ich mich in sie hineinversetzen konnte. Mir war die ganze Zeit bewusst, dass sich diese "Verschwörungen" gegen sie nur in ihrem Kopf abspielten. Natürlich dachten viele ihrer Bekannten aufgrund ihrer gesellschaftlichen Stellung teilweise schlecht über sie, aber die meisten bewunderten sie auch auf eine bestimmte Art und Weise, die sie sich selbst nicht eingestehen wollten. Aber ihre paranoide Sichtweise gegenüber Wronski ist unbegründet und lässt sich wohl nur auf ihre inneren Ängste zurückführen. Anna ist ein sehr egozentrischer, wenn man will auch egoistischer Mensch. Sie ist sich selbst immer die Nächste. Das einzige, was ihr annähernd so wichtig ist wie sie selbst, ist Wronksi und das Vertrauen an ihn hat sie nach und nach verloren, sodass sie stets fürchtet, ihn, das letzte, was ihr noch wichtig ist, zu verlieren. Ihre Kinder interessieren sie im Großen und Ganzen nicht, nur hie und da wecken sie bei ihr Muttergefühle und nie scheint sie in der Lage zu sein, beide Kinder gleichermaßen zu lieben, denn die beiden, Serjoscha und Anni führen, ohne es zu wissen, einen ständigen Konkurrenzkampf um den Stellenwert bei Anna. Anna ist nicht mehr gesellschaftsfähig, hat also auch diese kleinen Freuden des Lebens verloren. Was bleibt ihr also, als sich vor allem mit sich selbst zu beschäftigen. Und das Problem egozentrischer Menschen ist eben häufig der, dass sie so lange über sich nachdenken, dass sie sich nur noch als Opfer sehen und in Selbstmitleid versinken.
    Armer Wronski, dabei meinte er es ja nur gut mit Anna. Ertrug ihre Launen so gut es ging, aber recht machen, das konnte er es ihr am Ende gar nicht mehr. Alles was er tat, tat er in ihren Augen mit schlechten Hintergedanken. Und dabei liebte er sie doch so sehr...
    Annas "Ende" kam für mich dann schon ein wenig überraschend, wenngleich mir von Anfang an bewusst war, dass sie sich vor den Zug stürzen würde. Aber es ging so schnell...
    Einerseits wollte sie wohl mit ihrem Freitod die Lösung aller Probleme in ihrem Umfeld herbeiführen, andererseits wollte sie sich wohl auch eine Art Denkmal setzen, die Menschen um sie herum, vor allem Wronski, dazu bringen, um sie zu trauern und ein schlechtes Gewissen zu haben... ein bisschen hat sie sich schon als Märtyrerin gesehen.
    Aber so seltsam es mir auch vorkommt, ich kann mich in sie hineinversetzen... in diese schiere Verzweiflung und Verunsicherung, die sich bei ihr nach und nach immer mehr ausbreitete...
    Arme Anna... armer Wronksi.
    Die Kinder tun mir deswegen nicht weiter leid. Anna war nie eine gute Mutter, dafür war sie viel zu wankelmütig, was ihre Gefühle anbelangt. Und über diesen Vorfall werden die Kinder vermutlich eh nie etwas erfahren oder wenn erst im Erwachsenenalter, wo es nur wenig Unterschied macht, ob die Mutter, die sie nie richtig kannten lebt oder nicht. Karenin mag nicht der beste Vater sein, aber er bietet zumindest Stabilität - sofern er nicht noch mehr in diese ominösen Spiritualitäten abgleitet - und im Grunde wurden die Kinder in diesen Gesellschaftsklassen ohnehin von Kindermädchen und Hauslehrern erzogen als von den eigenen Eltern.

  • Zitat

    Original von melancholyAnna ist ein sehr egozentrischer, wenn man will auch egoistischer Mensch. Sie ist sich selbst immer die Nächste


    ich glaube, dass ist auch durch ihre schwere Depression bedingt. Depressive Menschen wirken leicht so, können teilweise gar nicht anders.
    Vorher wirkte sie auf mich eigentlich nicht so egoistisch, nur unzufrieden. :gruebel

  • Zitat

    Original von Mia08


    ich glaube, dass ist auch durch ihre schwere Depression bedingt. Depressive Menschen wirken leicht so, können teilweise gar nicht anders.
    Vorher wirkte sie auf mich eigentlich nicht so egoistisch, nur unzufrieden. :gruebel



    Depressive Menschen sind meist auch egozentrisch. Entweder werden sie durch ihre Depression egozentrisch oder sie werden durch ihre Egozentrie depressiv. Und Egozentrie ist längst nicht gleichbedeutend mit Egoismus. Als egozentrisch habe ich sie von Anfang an empfunden, egoistisch nur zuweilen...


    Ob Anna eine Depression hatte, kann ich nicht beurteilen. Laienpsychologisch würde wohl jeder davon ausgehen, tatsächlich finde ich aber, dass man das nicht so einfach sagen kann, vor allem weil ihr innerer Zustand zwar genau beschrieben ist, aber dafür nur über eine sehr kurze Zeitspanne (damit meine ich die letzten paar Tage, in denen sie wohl "depressiv" wirkte).
    Die Symptome, die Anna an den Tag legt, könnten mehrere Ursachen haben. Einerseits sieht es sehr danach aus, als leide sie unter einer Paranoia, gleichzeitig scheint sie auch große Angstzustände zu haben. Sie ist schrecklich verzweifelt. Sie hat wohl das, was man im Volksmund als "Nervenzusammenbruch" bezeichnen würde.
    Generell finde ich, dass oft ein wenig zu leichtfertig von Depressionen gesprochen wird. Nicht jeder, der depressiv wirkt und/oder sich umbringt ist depressiv.
    Annas Freitod scheint mir mehr als eine Art Kurzschlussreaktion. Natürlich, sie hat davor schon darüber nachgedacht, eine Überdosis ihrer Opiate zu nehmen, aber das, denke ich, war nur so dahingedacht. Und jemand, der sehr viel Selbstmitleid empfindet, kommt schnell zu dem Gedanken, es den anderen "heimzuzahlen" oder auf sich aufmerksam zu machen, indem er sich umbringt... und tut es dann aber nicht, weil es nur so ein Gedanke ist... "Was wäre wenn..."... "Würden sie nicht schrecklich um mich trauern", etc.
    Annas tatsächliche Entscheidung für den Selbstmord kam sehr spontan, vor allem für sie selbst.

  • Zitat

    Original von melancholy
    Annas tatsächliche Entscheidung für den Selbstmord kam sehr spontan, vor allem für sie selbst.


    Stimmt und im letzten Moment wollte sie ihre Entscheidung wieder rückgängig machen. Also war es ihr nicht 100%ig Ernst mit ihrem Selbstmord. Sie hatte nur das Pech, dass sie nicht mehr zurück springen konnte.

  • Ja stimmt, darüber kann man sich natürlich streiten :wave diese Züge, die du an Anna beschreibst, sind auch vorher schon aufgefallen, z.B. als Dolly bei ihr auf dem Land zu Besuch ist, dazu auch Selbstzweifel und Selbstmitleid.
    Angst und Wahnvorstellungen können auch Symptome einer Depression sein, deshalb schließt man wahrscheinlich schnell auf so eine Vermutung. Aber genau sagen kann man das sicher nicht :wave

  • Zitat

    Original von Rosha


    Stimmt und im letzten Moment wollte sie ihre Entscheidung wieder rückgängig machen. Also war es ihr nicht 100%ig Ernst mit ihrem Selbstmord. Sie hatte nur das Pech, dass sie nicht mehr zurück springen konnte.


    Ich meine auch, sie begreift im allerletzten Moment, dass sie ihren letzten Schritt nach vorne nicht mehr rückgängig machen kann, und genau in diesem Augenblick hätte sie es gewollt.

  • Ich bin noch ganz ergriffen, von diesem aufwühlenden und intensiven Abschnitt.
    Wieder bin ich ja so froh, dieses Buch zu lesen, denn Tolstoi ist ein Meister der Erzählkunst.


    Jetzt bin ich doch überrascht, dass Anna sich vor einen Zug wirft, um Selbstmord zu begehen. Es deutete sich ja schon länger an, dass sie mit ihrem Leben einfach nicht mehr klar kommt und ich denke, ohne Therapie ist das auch nicht möglich.
    Während ich die Kapitel über ihren letzten Tag gelesen habe, musste ich an die Todesfälle von Michael Jackson und Amy Whinehouse denken. Ich kann mich vorstellen, dass man irre wird, wenn das ganze Denken nur noch um sich selbst, die eigenen Ängste, Selbstzweifel und vielleicht noch die Beschaffung des nächsten Kicks geht- grauenvoll und ganz furchtbar.


    Zitat

    Original von John Dowland
    ...
    Stattdessen spielt sich das eigentliche Drama, das Annas ausweglose Lage dann doch so nachvollziehbar macht, einzig in ihrer eigenen Vorstellungswelt ab. Annas Verzweiflung, ihre Einsamkeit, die Zwänge, denen sie sich ausgesetzt sieht, sie wurzeln allesamt in ihrem Kopf und sind zugleich so mächtig, dass Anna hier schließlich keinen Widerstand mehr leistet. Neben den verstörenden Details ist es wahrscheinlich die Zwangsläufigkeit der Ereignisse, die – mich jedenfalls – sehr beunruhigt hat.


    Und gerade das hat mich beim Lesen auch echt mitgenommen. Das finde ich für die Hinterbliebenen geradezu unerträglich. Der Tod eines geliebten Menschen ist schon schlimm für die Angehörigen, und bei einem Selbstmord stelle ich mir vor, dass man als Partner sich unendlich viele Vorwürfe macht. Da hilft nur, wenn der Sterbende sich erklärt hat, z.B. in einem Abschiedsbrief. Das kommt Anna gar nicht in den Sinn- sogar das Gegenteil ist der Fall. Die möchte Wronski sogar weh tun und für dieses Verhalten finde ich gar keine entschuldigenden Worte.


    Zitat

    Original von Saiya
    ...
    Am Ende gilt mein Mitleid aber ihren beiden Kindern und Wronskij. So wie ich ihn einschätze, erreicht Anna genau das, was sie sich in ihrem Wahn für ihn vorgestellt hat. Und ich denke, daß er das nicht verdient hat. Niemand, der auf solche Weise einen Menschen verliert, hat es verdient damit leben zu müssen. :-(
    ...


    :write Das empfinde ich ganz genauso. Bleibt zu hoffen, dass ihr Selbstmord von außen vielleicht als ein Unfall angesehen wird. Das wünsche ich Wronski und den Kindern.


    So, jetzt werde ich das letzte Kapitel genießen. :lesend

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

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  • Hallo,


    ich hab jetzt zwar nicht bei dieser LR mitgelesen, sondern das Buch schon im vergangenen Sommer ausgelesen, aber ich kann mich natürlich noch gut daran erinnern.


    Was mich an dem Abschnitt mit und nach Annas Tod etwas gestört hat, war, dass eigentlich nicht darauf näher eingegangen wird, wie Wronskij damit umgeht. Man erfährt nur kurz nebenbei über seine Mutter, dass es ihm schlecht geht. Das fand ich etwas kurz geraten - wie auch manch andere Faden erst zwar ausgiebig angefangen, dann aber nur noch kurz und knapp abgeschlossen wurde. Okay, das Buch ist schon lang genug, aber der Autor hat doch offensichtlich einige Geschichten zu erzählen. Ich fand schade, dass manche so unvermittelt enden.


    LG,
    Babs