„Internistischer Notfall auf der A 4 im Kreuz Kerpen! Wer von euch steht günstig? Feuerwehr rollt schon!“ Mechanisch drückt Nadine auf dem Beifahrersitz auf die Sprechtaste, wir stehen nicht so weit weg von der Örtlichkeit. „OK, Mädels, da steht ein LKW, dem Fahrer ist offenbar schlecht geworden, der liegt neben dem Fahrzeug im Gras….“ Ich höre nicht mehr richtig zu und schalte das Blaulicht ein und das Horn ebenfalls. Der Streifenwagen schießt die Ausfahrt runter, ich gebe grinsend auf dem Scheitelpunkt der Kurve wieder Gas. „…Kennzeichen des LKW AC-FB 1…“ Ich blinzele zweimal, mein Bauch fühlt sich an, als wären Würmer drin und mir wird brennend heiß. Mit einem Handgriff hab ich das Funkgerät in den Händen. „Wiederhol das Kennzeichen noch mal!“ „AC-FB 1, warum?“ AC für Aachen, FB F. Binder und die 1, weil mit dem Lkw nur er fährt.
Ich schlucke und trete das Gaspedal fester durch, fühle Nadines fragenden Blick auf mir ruhen. Am Funk herrscht Stille. Mit einer Hand steuere ich den Streifenwagen mit 200 Sachen über die Überholspur, mit der anderen angele ich in meiner Hemdtasche herum. Ich fische mein Handy heraus, werfe es Nadine in den Schoß. „Unter P ist eine Nummer mit PAPA Handy abgespeichert, wähl sie!“ Sie sieht mich weiter schief an, tut aber was ich sage. „Teilnehmer zur Zeit nicht zu erreichen.“ Sagt sie Sekunden später. „SCHEISSE!“ Meine Hände krampfen sich ums Lenkrad, der Streifenwagen schießt noch schneller durch den Verkehr. „Verrätst du mir mal, was los ist?“ Nadine trommelt auf dem Armaturenbrett herum. Ich schlucke und will gerade antworten, als der Funk dazwischen kräht. „Janine, ich hab nen Halter gemacht von dem Lkw….Pause….. Brich dir nicht den Hals, ich schick euch nen zweiten Streifenwagen. Lieber wäre mir, ihr brecht ab, aber das ist wohl kein Vorschlag, den du gut findest…..“
„WAS ZUM GEIER IST LOS?“ Nadines Stimme ist schrill und wir rasen immer noch über die Autobahn.
„Das ist der Lkw von meinem Vater. Mein Vater hatte im letzten Jahr ein paar Schlaganfälle.“
Ich rassele die Worte nur so runter und sehe mechanisch auf die Straße. Das Horn jodelt auf unserem Dach, Nadine schweigt.
Vor uns plötzlich Stau, wir kommen nicht weiter, in der Baustelle ist kein Durchkommen. Kurz entschlossen jage ich den Streifenwagen in die Ausfahrt und nehme die Nebenstrecke über die Landstraße.
Vor der roten Ampel bremse ich kurz ab und trete das Gaspedal sofort wieder durch. Nadine wählt mit meinem Handy immer wieder die Nummer meines Vaters. „Scheiße, der hat das Handy nie aus. NIE!“ Ich schimpfe vor mich hin und wünsche die mich bremsenden Fahrzeuge nach Nowosibirsk oder gleich direkt zur Hölle.
Ein Kreisverkehr, ich muß mich hinter einem langsam tuckernden Kleinwagen anschließend. „Scheiße Tussi, bist du blind oder was?“ fluche ich und würde am liebsten ins Lenkrad beißen.
Am nächsten Kreisverkehr probiere ich Trick 17 und biege direkt links ab, anstatt den Kreisel auszufahren. Nadine krallt sich in der Türe fest und ich versuche mich selbst zu bremsen. Geht aber nicht. Im Geiste sehe ich meinen Vater bewusstlos am Boden liegen. Kaum hab ich mich soweit, dass ich nicht mehr suizidalschnell fahre, treibt sein Gesicht vor meinem inneren Auge vorbei und mein Gasfuß zuckt tiefer.
„Ankommen, er hat nichts davon, wenn wir nicht ankommen….“ Ich murmele vor mich hin, Nadine wählt wieder die Nummer mit meinem Handy.
Der 3. Kreisverkehr besteht nur aus einer kleinen Betonerhebung in der Mitte, ich schalte einen Gang runter und trete aufs Gas, wir segeln mittig durch den Kreisverkehr und das Heck bricht leicht aus. Locker fang ich den Wagen wieder ab, lupfe leicht an der Handbremse und der Wagen schleudert in die Auffahrt am AK Kerpen. Von weitem sehe ich den Lkw. Weißer LKW großes rotes Logo, kein Irrtum, eindeutig der Lkw meines Vaters.
Ich schlucke erneut hart und meine Zunge flitzt nervös über meine Lippen.
Nadine lässt das Handy in Ruhe und sieht mich ruhig an.
„Scheiße, das ist der Grund, warum ich nicht da arbeite, wo ich wohne. NIE wollte ich so einen Einsatz haben. NIE! SCHEISSE!“
Ich schlage gegen das Lenkrad und trete gleichzeitig auf die Bremse. Der Streifenwagen steht sofort hinter dem Lkw. AC-FB 1. Davor steht ein Rettungswagen. Die Sanis kauern im Böschungsbereich auf dem Boden und verarzten jemanden, der dort liegt.
Als ich aussteigen will, sacken mir kurz die Beine weg. Meine Fingernägel bohren sich in meine Handflächen, der Schmerz hilft mich wieder zu fassen. Hinter mir sehe ich den zweiten Streifenwagen eintreffen.
Ich stürme nach vorne, komme aber nicht nah genug heran, um zu sehen, wen die Jungs da verarzten.
Ich reiße mich zusammen und mache mir klar, dass die Sanitäter wichtiger sind, als mein Wunsch, zu wissen, wer dort liegt. Ich schubse niemanden zur Seite, sondern stehe unbeteiligt daneben.
Nadine funkt nach einem Notarztwagen, das bekomme ich noch mit, der Rest ist wie in Watte gepackt. Ich bin nicht fähig irgendwas zu tun, starre nur in den Lkw, in dem sich ziemlich viel Krempel von meinem Vater befindet. Hinter der Sonnenblende ein Bild von mir und meiner Schwester. In der Mittelkonsole liegen die leeren Hüllen seiner Zigarren. Mir passiert, was mir noch nie passiert ist, ich kann meine Arbeit nicht tun.
Während die Sanis arbeiten und meine Kollegen herumwuseln, stehe ich einfach nur da und sehe in den Lkw. Mir ist schwindelig, ich würde mich gern setzen, will aber nicht, dass die Kollegen mitbekommen, wie sehr ich neben mir stehe. Im Geiste rattern die Bilder der letzten Jahre herunter, mein Vater im Krankenhausbett, mein Vater blaß und schmal im Gesicht mit einem leicht gelähmten Mundwinkel. Mein Vater, wie er nach Hause darf, sich schonen soll, was er natürlich nicht tut und trotzdem seinen Laden weiter schmeißt. Ich unterdrücke die Tränen, indem ich mir wieder feste in die Hände kneife.
Scheisse, ich habe mir extra einen Job gesucht, der weit weg von zu Hause ist, damit ich nie, meine Klassenkameraden festnehmen muß, keine Leichen sehe, die ich kenne und nicht zu Unglücksfällen gerufen werde, bei denen ich selbst unglücklich bin.
Warum also, jetzt das?
Ich knete meine Finger und trete von einem Fuß auf den anderen, ich hab das Gefühl ich falle tot um, wenn ich nicht sofort herausfinde, ob das tatsächlich mein Vater ist.
Dann plötzlich steht einer der Sanis auf, ich erhasche einen Blick auf die Person am Boden und mein Herz macht einen Hüpfer. Da liegt nicht mein Vater. Vor Erleichterung geben meine Knie nach und ich sinke auf das Trittbrett des Lkw. Nadine kommt zu mir. „Nicht mein Vater!“ murmele ich und sehe starr auf den Menschen, der mit der Trage in den Rettungswagen geschafft wird.
„Die Sanis sagen, ist halb so schlimm nur ein Kreislaufzusammenbruch, wegen der Hitze.“ Ich nicke und versuche mich nicht zu schämen, dass ich solche Freude verspürt habe, dass da nicht mein Vater liegt.
Im Streifenwagen höre ich mein Telefon klingeln und renne hin.
„Du hast angerufen?“
„PAPA!“
„Ja, was ist denn los?“
„Wer ist mit deinem Lkw unterwegs?“
„Der Raimund ist für mich gefahren, mir war nicht so gut, heute morgen.“
Ich schildere ihm kurz, was passiert ist und kläre ab, was wir mit seinem Lkw anstellen, auf der Autobahn kann er nicht stehen bleiben und er verspricht Raimunds Familie zu benachrichtigen.
Als er schon fast aufgelegt hat, hauche ich in den Hörer: „Ich hab dich lieb, Papa!“
Ich kann seine Überraschung fast hören, so was sage ich sonst nicht.
„Ich dich auch!“ brummt er zurück.
„Ich hoffe du bist vorsichtig gefahren?“fragt er dann.
Ich kreuze die Finger, „Ja, klar Papa!“
Nadine neben mir kichert leise…