Das Ministerium für besondere Fälle - Nathan Englander

  • Das Ministerium für besondere Fälle


    Roman Luchterhand
    HC auf 445 Seiten
    ISBN: 9783630872599


    Über den Autor:
    Nathan Englander wurde 1970 in New York geboren und lebte einige Zeit in Argentinien und in Israel. Er arbeitete als Fotograf und Filmemacher, seine Kurzgeschichten wurde in The Atlantic Monthly, The New Yorker und verschiedenen Anthologien … veröffentlicht. Als 1999 sein Erzählband Zur Linderung unerträglichen Verlangens erschien, wurde er vom New Yorker zu einem der „20 Autoren für das 21. Jahrhundert“ gekürt, mit dem PEN/Faulkner Malamud Award, dem Sue Kaufman Prize for First Fiction, dem Bard Fiction Prize ausgezeichnet und erhiehtl mehrere Stipendien. Heute lebt Enlander in New York City. Das Ministerium für besondere Fälle ist sein erster Roman. Sein Erzählband erscheint im Juni 2008 in der Sammlung Luchterhand.


    Klappentext:
    Kaddisch Poznan, Jude und Sohn einer hure, hat es im Leben zu nichts Rechtem gebracht. Sein Sohn Pato verachtet ihn, und seine Frau Lillian verdient in einer Versicherungsagentur das Geld für die Familie. Zur selben Zeit verschwinden im ganzen Land Menschen spurlos, Opfer der argentinischen Militärdiktatur, die einen „schmutzigen Krieg“ gegen die eigene Bevölkerung führt. Eines Tages wird Kaddischs Sohn verhaftet, und binnen kürzester Zeit verliert sich Patos Spur in der anonymen Apparatur des Unrechtsstaats. Immer wieder werden Kaddisch und seine Frau im „Ministerium für besondere Fälle“ vorstellig, doch niemand fühlt sich zuständig, niemand will ihnen helfen…
    Ein grandioser Roman voller absurdem Witz über Väter, Söhne und Mütter, über Krieg, Glaube und Hoffnung und über die Tücken der jüdischen Identität.


    Meine Rezension:
    Ufff, schon lange habe ich keinen so vielschichtigen Roman mehr gelesen, und schon lange fand ich es nicht mehr so schwierig, eine passende Rezension zu schreiben.


    Das Buch beginnt recht skurril: Kaddisch (= jüdisches Gebet zum Totengedenken) reinigt die Namen der wohlhabenden jüdischen Familien Buenos Aires’ indem er auf dem Teil des Friedhofs, der den Huren und Zuhältern vorbehalten war, die Namen von den Grabsteinen kratzt. Damit macht er sich zum Außenseiter, in der Gemeinde ist er zwar wichtig, aber nicht anerkannt. Die Bezahlung durch seine Auftraggeber scheint eher zufällig und nicht immer in Geld – so lässt er sich und seiner Frau Lillian von einem Schönheitschirurgen, sozusagen als Naturalien-Entgelt, die große jüdische Nase umoperieren, statt das versprochene Geld zu erhalten. Für den Lebensunterhalt sorgt dagegen Lillian, die ihren Mann zwar liebt, sich das Leben mit ihm aber auch anders vorgestellt hat. Selbst Kaddischs Sohn Pablo möchte mit der alten Welt seines Vaters nichts mehr zu tun haben. Statt in dieses merkwürdige Familienunternehmen einzusteigen, schließt er sich der Studentenrevolte an.


    Das soll ihm zum Verhängnis werden: eines Tages stehen die grauen Männer vor der Tür und holen Pablo ab. Anfangs bemühen sich Kaddisch und Lillian noch gemeinsam, ihren Sohn wieder zu bekommen – sie klappern ein Polizeirevier nach dem anderen ab, nur um festzustellen, dass sie in die furchtbaren Mühlen des „schmutzigen Krieges“ geraten sind. Letztendlich bleibt ihnen nur das Ministerium für besondere Fälle: "Das [Ministerium] war schon vor dem Putsch schlimm genug. Seitdem ist es das Ministerium der letzten Instanz. Das ist eine bürokratische Müllkippe, ein Irrenhaus für diejenigen, die keinerlei Rechtsansprüche haben." Um überhaupt eine Chance zu haben, zu erfahren, wo ihr Sohn überhaupt ist, müssen sie einen „Haftprüfungsantrag“ vorlegen, das wiederum geht aber nur, wenn sie beweisen können, dass ihr Sohn überhaupt verhaftet wurde… hier hat mich das Buch sehr stark an Kafka erinnert. Es ist aber wesentlich leichter, zwar skurril aber nicht unwirklich – man spürt die drückende Realität dahinter.


    Während Lillian die Hoffnung nicht aufgibt, immer wieder im Ministerium für besondere Fälle vorstellig wird und doch nichts erreicht, verkörpert sie die „Madres de Plaza de Mayo“. Sie gibt nicht auf, kämpft bis zum Schluss um ihren Sohn. Gleichzeitig wird Kaddisch bewusst, dass für seinen Sohn keine Hoffnung mehr besteht. Er wird eins der vielen Opfer des Diktaturregimes sein und zu den Verschwundenen, den Desaparecidos, gehören.


    So traurig und tragisch die Geschichte eigentlich ist, gelingt es doch dem Autor immer wieder, den Leser zum Schmunzeln zu bringen. Da ist dieses skurrile jüdische Selbstbild, das Englander gekonnt auf die Schippe nimmt, ohne dabei plump zu wirken. Da ist auch die Geschichte zwischen Vater und Sohn, der Generationenkonflikt, den sicher jeder in der einen oder anderen Form schon mal erlebt hat. Und da ist auch die Beziehung zwischen Kaddisch und Lillian, die so ein herrliches altes Ehepaar darstellen. Als Leser hat man so immer mal wieder Momente, wo man von der Last etwas erleichtert wird und aufatmen kann.


    Ich bin unheimlich froh, dieses Buch gelesen zu haben – auch wenn es sich manchmal etwas zog, so hat es mich auch nicht losgelassen. Ich befürchte, meine Rezension wird diesem Buch nicht gerecht – bitte unbedingt selbst lesen!
    Ich werde mir unbedingt den Erzählband von Englander zu legen.


    Informationen über Argentinien und den "Schmutzigen Krieg" findet man natürlich mit den üblichen Stichwörtern bei Wikipedia. Wer sich über die Entführungen näher informieren möchte, findet unter diesem Link (englisch) den sehr interessanten Bericht der gegründeten Untersuchungskommission.

  • Ah! Nathan Englander! Seine Kurzgeschichten hab ich vor Jahren schon auf Englisch gelesen. Manche kriegt man nie wieder aus dem Kopf. Die Perückenmacherin ...


    Bin auch nur durch Zufall auf den Autor gestoßen, weil wir in Israel gemeinsame Bekannte haben.

    Und was die Autofahrer denken,
    das würd’ die Marder furchtbar kränken.
    Ingo Baumgartner

  • Meine Rezension:


    Den Einstieg in das Buch zu finden ist nicht ganz leicht, zu fremd erscheinen die hier beschriebenen Figuren und ihre Handlungen. Ein Mann, der seinen Lebensunterhalt mit dem heimlichen Entfernen von Namen von Grabsteinen verdient ist ebenso weit von unserem Alltag entfernt wie die Tatsache, dass Dutzende unschuldige Menschen von der herrschenden Militärjunta abgeholt werden und spurlos verschwinden. Genau das ist die Situation in Argentinien 1976, in der die Geschichte um die jüdische Familie Kaddisch, Lillian und Pablo spielt.
    Wenn man den sperrigen Beginn überwunden und sich auf die teils nüchterne, teils poetische Sprache, die Figuren und das Setting eingelassen hat, erwartet den Leser nichts weniger als eine tragische Familiengeschichte voller Schmerz, Liebe, Angst, Hoffnung und Verzweiflung, die auch die "normalen" Sorgen und Probleme (z.B. Vater-Sohn-Konflikt) einer jeden Familie aufgreift und so trotz der furchtbaren Umstände ein komplexes und umfassendes Bild entsteht. Nahezu über den ganzen Verlauf der Geschichte hinweg drängt sich der Eindruck der Skurrilität auf, die jedoch bei genauerem Hinsehen nicht zuletzt aus dem Schrecken und Wahnsinn entsteht, der hier beschrieben wird. Nur mit diesem Empfinden ist diese Geschichte, die beispielhaft für das reale Verschwinden Zehntausender unter der Militärherrschaft in den 70er Jahren in Argentinien steht, zu ertragen. Neben der Familie kommen auch andere Personen zu Wort, die sich auf unterschiedliche Weise mit dem bestehenden System "arrangiert" haben und daraus so gut es geht ihren Nutzen ziehen oder zumindest ihr Überleben sichern. Inwiefern dies zu be- und/oder verurteilen ist, bleibt dem Leser überlassen.
    Ein Roman, der sensibilisiert, sprachlos macht, zum Nachdenken und Recherchieren anregt. Ein Roman, der Hilflosigkeit und Mitgefühl angesichts des Schicksals dieser fiktiven Figuren erzeugt, die in ihrem Umfeld, ihrem Handeln und Empfinden trotz oder gerade wegen der tragikomischen Skurrilität letztlich so authentisch wirken, dass sie noch lange nachhallen und im Gedächtnis bleiben werden.


    Wegen des mühsamen Beginns "nur" 8 Punkte von mir!
    (Man wird ganz schön anspruchsvoll mit der Zeit merke ich gerade... :gruebel)

  • Mit "Das Ministerium für besondere Fälle" lebt Nathan Englander ein unfaßbar düsteres, beklemmendes und an die Nieren gehendes Buch vor, das mit dem Stilmittel der Skurrilität den Schrecken der Militärherrschaft verdeutlicht. Von dem im Klappentext angekündigten "überbordenden Witz" habe ich nichts mitbekommen; das Buch ist reichlich tragikomisch, aber immer mit starker Tendenz zur Tragödie, sodaß ich kein einziges Mal lachen konnte. Das sehe ich aber nicht als Makel an, zu einem solchen Thema würde platter Humor auch ganz einfach nicht passen und der gut vorgetragenen Geschichte viel von ihrer beklemmenden Intensität nehmen.
    Die Figurenzeichnung betrachte ich als sehr gelungen, der methodische Wahnsinn der Herrschenden wird anschaulich dargelegt und auch das Ende überzeugt mich durchaus.
    So gut ich das Buch trotz nötiger Eingewöhnungsphase zu Beginn auch fand, mehrere solche Werke hintereinander könnte ich aufgrund der erschreckenden Thematik nicht lesen.