Walter Scott: Ivanhoe

  • Ivanhoe war 1819 das, was man heute einen Bestseller nennen
    würde. Die Startauflage lag bei 6000, wurde schnell auf 8000
    erhöht. Für damalige Verhältnisse war das ein Erfolg. Heute kann man
    über solche Zahlen nur noch lächeln: Littells SS-Roman ist vor
    kurzem alleine in Deutschland mit 120 000 Stück
    gestartet. Beiundruckender ist die Nachhaltigkeit, mit der dieser
    Roman zusammen mit den anderen Werken Walter Scotts über fast zwei
    Jahrhunderte gewirkt hat. Zwar sind die Zeiten, in denen Scott ein
    moderner und beliebter Autor war, längst vorbei. Aber seine Stoffe
    sind längst in die Filmgeschichte eingegangen und haben in allen
    möglichen medialen Ausprägungen Generationen beeinflusst.


    Als Neuerscheinung aber hätte eine solches Buch heute keine Chance
    mehr. Viel zu langatmig sind die Beschreibungen, zu dialoglastig die
    Szenen, zu gering die Erzählgeschwindigkeit. Scotts Stil ist schon
    zu seinen Lebzeiten von manchen als trocken empfunden worden. Für
    den heutigen Leser ist seine von Shakespeare beeinflusste, geradezu
    theatralische und überladene Erzählweise nur noch altmodische
    Ausdrucksform einer vergangenen Epoche, der wir uns schon lange
    nicht mehr zugehörig fühlen.


    Ivanhoe ist also ein Klassiker, der Staub angesetzt hat. Wer sich
    dennoch die Lektüre zumutet, muss einen doppelten Zeitsprung machen:
    Erst ins angehende neunzehnten Jahrhundert (den Entstehungszeitraum
    des Buches), und dann noch einmal mehr als sechshundert Jahre bis
    ins Jahr 1194, wo die Handlung spielt. Dort findet der Leser dann
    genau das vor, was heute der klassischen Klischeevorstellung des
    Mittelalters entspricht: Schöne Prinzessinnen, Ritterturniere,
    Burgen und Burgerstürmungen. Ein Ritter-Roman reinsten Wassers, und
    keineswegs der erste seiner Sorte. Ritter-Romane waren auch damals
    nichts Neues, sondern hatten eine lange Tradition. Schon der Don
    Cervantes' Quichotte (veröffentlicht 1605 bis 1615) ist eine Parodie
    auf diese Gattung.

    Für mich war die Lektüre ein Versuch, mich dem heute wieder so
    überaus erfolgreichen Genre des "historischen Romans" zu
    nähern. Walter Scott gilt als einer der Stammväter dieser
    literarischen Gattung. Was fasziniert viele Leser am Glanz
    vergangener Epochen?


    Meine Vermutung ist, dass es hier um die Faszination geht, die darin
    liegt, Vergangenes wiederaufleben zu lassen, sinnlich fassbar zu
    machen. Gute historische Romane zeichnen sich deshalb durch
    geschichtliche Genauigkeit und Detailliebe aus. Der Erzählstil ist
    plastischen und zielt auf Realismus ab. Der Leser soll das Gefühl
    bekommen, das er auf eine Zeitreise mitgenommen wird. Er soll und
    will sich in das vermeintliche Lebensgefühl einer noch nicht von
    Technik und Industrialisierung entfremdeten geschichtlichen Periode
    zurückversetzen. Die dargebotenen Schicksale sind unmittelbarer, die
    Gefühle einfacher und direkter. Der problematische Hintergrund einer
    nur teilweise verstandenen, sich ständig verändernden Gegenwart wird
    durch die klarere, harmlosere Objektivität eines historischen
    Kulisse ersetzt.


    Scott verfügte über die historischen Kenntnisse, um auf diesem
    Gebiet wegweisend zu sein. Sein Ivanhoe ist, obwohl mühsam zu lesen,
    ein schillerndes, lebendiges Werk von sprachlicher Kraft. Die
    Geschichte der englischen Sprache war Scotts Steckenpferd,
    und er ist deshalb in der Lage, seine Figuren englische Vokabeln
    benutzen, die dem zwölften Jahrhundert entsprechen und schon für
    die Leser seiner Zeit teilweise unbekannt waren. Für einen deutschen
    Leser ist deshalb die Lektüre im Original eine Herausforderung.


    Der Roman ist kein Schwarz-Weiß-Gemälde. Gut und Böse sind nicht so
    klar getrennt, wie es zunächst scheint. Zwei schöne Frauen werden
    umworben, eine Jüdin und eine sächsische Adlige. Diese Handlung ist
    in eine Epoche gelegt, in dem der Konflikt zwischen Sachsen und
    Normannen in England zugunsten der Normannen entschieden war und
    sich eine Vermischung beider Völker andeutete. Auch auf der
    sprachlichen Ebene entwickelt sich aus dem sächsischen und
    normannischen das moderne Englische, worauf Scott explizit eingeht.


    Ein hochrangiger Angehöriger des Templerordens hat es auf die schöne
    Tochter eines jüdischen Kaufmanns abgesehen. Gleichzeitig ist ein
    normannischer Ritter in eine sächsische Schönheit vernarrt. Die
    Damen werden entführt und in einer Burg gefangen gehalten. Es kommt
    zum Kampf, das Gute siegt. Die Schar der Retter wird verstärkt durch
    durch einen gewissen Robin von Locksley und sein "vogelfreien"
    Freunde. Den kennen wir heute besser als Robin Hood und wissen
    spätestens jetzt, das wir in der Jugendliteratur angekommen sind.


    Bemerkenswert ist, dass gerade die Anziehungskraft zwischen
    Angehörigen unterschiedlicher Volksstämme die Handlung
    vorantreibt. Der Titelheld Ivanhoe spielt dagegen eine
    untergeordnete Rolle. Er bleibt eine blasse Figur, der schöne Held
    ohne Ecken und Kanten. Als ob Scott geahnt oder gewusst hätte, dass
    diese Figur den Roman nicht tragen würde, schickt er sie schon zu
    Beginn aufs Krankenbett: Ivanhoe wird auf einem Ritterturnier
    verletzt und erlebt von da an das Meiste nur noch vom
    Krankenbett. Er ist also nicht die wirkliche Hauptfigur, wie es der
    Titel verspricht. Handlungsträger ist vielmehr ein Dreigespann,
    bestehend aus dem schon erwähnten Templer und zwei Rittern. An
    diesen Figuren demonstriert Scott, wie die vielgepriesene "Macht
    der Liebe" versucht, die Grenzen zwischen den Bevölkerungsgruppen
    zu überwinden versucht. Das kann nicht gelingen. Aber wenn man diese
    Geschichte mit den Augen der Moderne liest, dann werden die Halunken
    zu Menschen, die an den Einschränkungen einer Standesgesellschaft
    scheitern. Ihre Handeln ist menschlich, ihr Scheitern tragisch und
    eine schöne Parabel auf die Problematik der
    Völkerverständigung.


    Schade nur, dass das Judentum unbedingt durch die Person eines
    geldgierigen Kaufmanns dargestellt werden muss. Im heutigen
    Deutschland würde der Ivanhoe-Autor als Antisemit gelten.


    Scotts Roman hat trotz seiner Langatmigkeit und Dialoglastikeit
    überlebt. Das liegt an den Stärken des Werks, die auch heute noch
    wirken, obwohl Scotts Sprachduktus längst zum alten Eisen gehört:
    Lebendige Schilderung des romantischen Mittelalters, eine
    bewundernswerte historische Sachkenntnis, Stoffe und Figuren, die
    für unzählige Spielfilme gut waren.

  • Interessante Rezension lyrx!


    Nur zwei Einwände. Ich finde es schade, daß so viele Abenteuerklassiker jetzt zu Jugendbüchern "degradiert" werden, vielleicht weil sie, wegen ihrer Abenteuerzentriertheit zu "albern" für "Erwachsene" sein sollen? Verstehen tu ich das wirklich nicht. Kein Fehler dabei, die Klassiker für die Jugend aufzubereiten und ihnen näherzubringen, aber gleich ganz in die Ecke schieben?


    Und das mit der historischen Sachkenntnis stimmt so auch nicht. Oder, andersrum, Sachkenntnis zum damaligen Zeitpunkt, als Scott sein Buch geschrieben hat. Das kann ich festmachen an seinen Templern, denn über die schreibt er relativ viel Unsinn. Allein schon daß Richard I, der ihnen eigentlich sehr wohlgesonnen war, hier natürlich sehr gegen sie ist und sie am Ende sogar aus ihrem Templestowe rauswirft. Und dann natürlich die Sache mit dem Hexenprozeß ein paar Jahrhunderte zu früh und der Tatsache, daß die Templer diesen Prozeß durchführen, was natürlich auch Unsinn ist.
    Scott mochte die Templer nicht sonderlich, in seinem "Der Talisman" scheinen sie eine noch viel üblere Rolle haben, habe ich aber nie gelesen.
    Doch das erklärt sich eben aus der Entstehungsgeschichte des Romans, da der Templerorden wohl erst in den letzteren paar Jahrzehnten anders gesehen wird, bis es eine Zeitlang fast schon Mode schien, in jedem historischen Roman den Quotentempler, mit oder ohne Geheimnis, drin zu haben. Früher hatte er noch einen ganz anderen, übleren Ruf. Zumindest habe ich diesen Eindruck gewonnen.


    In Anbetracht alldessen ist es eigentlich erstaunlich, daß der Templer Bois Guibert gar nicht mal wirklich böse ist, eher schwach. Für mich - wohl wenig überraschend - die interessanteste Figur dieses Buches.


    Bei Klassikern ist diese ganze Korrektheitsgeschichte für mich aber eigentlich gar nicht wichtig, damals hat man Bücher anders geschrieben, mit anderen Prioritäten und der Reiz dieser Romane liegt für mich eher in anderen Bereichen. Ich habe das alles nur der Vollständigkeit halber erwähnt.

  • Zitat

    Original von Grisel
    Interessante Rezension lyrx!


    Nur zwei Einwände. Ich finde es schade, daß so viele Abenteuerklassiker jetzt zu Jugendbüchern "degradiert" werden, vielleicht weil sie, wegen ihrer Abenteuerzentriertheit zu "albern" für "Erwachsene" sein sollen? Verstehen tu ich das wirklich nicht. Kein Fehler dabei, die Klassiker für die Jugend aufzubereiten und ihnen näherzubringen, aber gleich ganz in die Ecke schieben?


    Ja, danke für die Rezi, Ivanhoe interessiert mich schon länger! :-) Da ich auch kein Fan der bearbeiteten Fassungen bin, habe ich vor längerer Zeit mal nach einer vollständigen Ausgabe gesucht.


    Es wird eine von dtv geben, die ursprünglich für dieses Frühjahr angekündigt wurde, jetzt aber laut Verlagshomepage doch erst im April 2009 erscheinen wird:


    Vollständige Ausgabe, herausgegeben und auf der Grundlage zeitgenössischer Übersetzungen neu bearbeitet von Günter Jürgensmeier


    Auf die warte ich :-]


  • Schon spannend, dass von so einem Buch immer noch Neuauflagen erscheinen. So mancher moderne Bestseller verschwindet ja schon nach ein paar Jahren wieder, von Jahrzehnten ganz zu schweigen. -- Und Ivanhoe ist bestimmt kein Buch ohne Schwächen. Aber wie gesagt: Das Buch macht trotzdem Geschichte und Geschichten lebendig ...

  • Hallo


    ich habe Scotts Ivanhoe gelesen als ich ein Kind war,
    es war nach Winnetou mein erstes Erwachsenenbuch
    und ich dachte damals in England wären noch die Ritter :-)
    den Film hatte ich gesehen mit Robert Taylor und Elisabeth Taylor
    Der erste Versuch scheiterte, aber dann ein Jahr später habe ich es gepackt.
    Leider weiss ich nur noch sehr wenig vom Buch.


    ... es ist ja immer auch die Frage welche Übersetzung man liest
    ich hatte den preiswert Verlag Kaiser Hinten Leder-Gold vorne Pappe.


    Das über die Templer hat mich sehr interessiert, vielen Dank für Deine Mühe.


    Grüsse
    Eva

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  • Ich hab's versucht, ich hab's wirklich versucht, aber nach 100 Seiten habe ich aufgegeben. Ich fürchte, ich habe mir was anderes unter Ivanhoe vorgestellt, irgendwie war ich der irrigen Annahmen, Ivanhoe würde in Schottland spielen.
    Dabei geht es um irgendwelche Kreuzritter in England - wie laaaaangweilig....