Jeffrey Eugenides - Middlesex

  • Ich hab Middlesex grad durchgelesen und ich will nicht sagen, dass es mir gar nicht gefallen hat, kann ja nicht sein, wenn ich 530 winzig bedruckte Seiten in einer nicht ganz einfachen Sprache innerhalb weniger Tage durchgelesen hab, aber ich bin ganz froh, dass ich jetzt was anderes lesen kann.


    Die Detail-Liebe des Autors hat mich teilweise ziemlich genervt, obwohl ich ja niemals was gegen endlose Landschaftsbeschreibungen bei Tolkien sagen würde ;-) , aber manchmal war das einfach zu viel des Guten für mich. Auch den Erzählstil fand ich gewöhnungsbedürftig. Man wusste im Grunde immer, wo es hingeht, weil er irgendwie das Pferd von hinten aufgezäumt hat, aber er hat immer noch einen und noch einen Schlenker eingebaut ohne endlich mal zum Ziel zu kommen. :rolleyes


    Außerdem hatte ich das Gefühl, dass er so ziemlich alle möglichen Zufälle in seine Geschichte gepackt hat und das Ganze liest sich manchmal irgendwie wie eine Aneinanderreihung von Anekdoten. Es kam mir oft so vor, als ob der Autor sich krampfhaft bemüht, irgendwelche Parallelen zwischen der Geschichte der Familie und tatsächlichen geschichtlichen Ereignissen zu ziehen (zum Beispiel weist er darauf hin, dass Callie genau zu dem Zeitpunkt anfängt über ihre ausbleibende Menstruation zu lügen, als Nixon sich auch immer mehr in Lügen verstrickt :rolleyes ).

    Es gibt in dem Buch recht viele skurrile und wahrscheinlich auch liebenswerte Figuren, die bis ins kleinste Detail beschrieben sind, trotzdem ist es mir oft schwer gefallen, wirklich mitzufühlen, außer vielleicht wenn Cal darüber berichtet hat, dass er immer wieder versucht, eine Beziehung zu beginnen und dann im letzten Moment doch wieder abbiegt aus Angst zurückgewiesen zu werden.



    lg Iris

  • Dieses Buch will ich morgen - in Englisch - zu lesen beginnen.


    Ich hoffe, ich schaff das.


    Ich habe schon einige Seiten durchgeblättert und einige Hammerwörter entdeckt. ;-)

    Die Geschichte lehrt die Menschen, daß die Geschichte die Menschen nichts lehrt.


    Mahatma Gandhi, indischer Freiheitskämpfer

  • Ich bewerte Romane gerne danach, was sie mir für einen "Mehr-Nutzen" bringen, außer reinem Lesevergnügen.


    "Middlesex" touchierte etliche Themenbereiche was wohl auch an der langen Zeitspanne der Handlung liegt.


    Da war z. B. die Zerstörung der biblischen Stadt Smyrna durch die Türken 1922, ein Ausflug in die amerikanische Einwanderungspolitik der zwanziger Jahre, der architektonische Aufbau Detroits, die Rassenunruhen in Amerika mit MalcolmX, der amerikanische Traum, die Watergate-Affaire, der Krieg zwischen Zypern und der Türkei...


    Als i-Tüpfelchen kam dann noch etwas Humanbiologie hinzu, mit Auswirkungen von Gen-Defekten.


    Die Zeitsprünge haben mich nicht gestört, sie machten die Handlung zwar weitgehend voraussehbar, aber die Spannung wurde dadurch nicht gemindert.


    Interessant war auch, daß der Erzähler in die verschiedenen Rollen der Protagonisten geschlüpft ist, quasi aus ihrem Inneren berichtet hat.


    Das Buch ist sehr spannend geschrieben und die "Abschweifungen" habe ich nicht als exzessiv empfunden.


    Lieben Gruß,


    die Fride. :wave

  • Ich habe Middlesex auch sehr genossen, aus ziemlich den gleichen Gründen wie Friderike. Ich mag "belletristischen Sachunterricht".
    Es sind zwar jetzt schon wieder 1 1/2 Jahre vergangen seit der Lektüre, aber manche Dinge haben tiefen Eindruck hinterlassen, wie eben z.B. die Stadt Smyrna oder die Sache mit den Gendefekt.
    Und trivial nenne ich ganz andere Bücher.

    Wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen und es klingt hohl, ist das nicht allemal das Buch.
    Georg Christoph Lichtenberg

  • Zitat

    Original von Taschenbuch


    "belletristischen Sachunterricht"


    Schöne Wortkombination, sie trifft es ganz genau. :-)


    Mir war Smyrna bis jetzt nur aus der Offenbarung des Johannes bekannt und ich wußte bis dato auch nicht, daß es sich bei Izmir um das von den Türken umbenannte Smyrna handelt.


    Auch daß die Bevölkerung von Smyrna zum großen Teil Griechen waren, bis 1922 viele von den Türken massakriert wurden und die Stadt weitestgehend zerstört wurde.


    In dem Zusammenhang bin ich auch auf den Genozid der Türken an den Armeniern im Jahre 1915 gestoßen, der in meiner schulischen Ausbildung keine Erwähnung fand. Immerhin sind dort auch 600.000 bis 1,5 Millionen Armenier ums Leben gekommen. Hitler soll 1939 die Judenvernichtung auch mit den Worten kommentiert haben: "Von den Armeniern spricht heute auch keiner mehr."


    Aber ich schweife ab...


    Wie auch immer, daß "Middlesex" ist auf jeden Fall eine Lektüre wert.


    Lieben Gruß,


    die Fride.:wave

  • Zitat

    Original von Friderike
    Auch daß die Bevölkerung von Smyrna zum großen Teil Griechen waren, bis 1922 viele von den Türken massakriert wurden und die Stadt weitestgehend zerstört wurde.


    In dem Zusammenhang bin ich auch auf den Genozid der Türken an den Armeniern im Jahre 1915 gestoßen, der in meiner schulischen Ausbildung keine Erwähnung fand. Immerhin sind dort auch 600.000 bis 1,5 Millionen Armenier ums Leben gekommen. Hitler soll 1939 die Judenvernichtung auch mit den Worten kommentiert haben: "Von den Armeniern spricht heute auch keiner mehr."


    Entschuldigung, daß ich reinplatze, aber ich habe immer sehr große Probleme, wenn verallgemeinert wird, z.B. wenn man vom Genozid der Türken (entspr. "aller Türken") an den Armeniern (dito) oder der Deutschen an den Juden spricht. Solche Verallgemeinerungen sind logisch unstatthaft, denn es sind ja auch nicht alle Männer Schweine, auch wenn frau sagt "Männer sind Schweine" :grin


    Und was das Problem der noch immer nicht aufgearbeiteten Folgen der Politik Mustafa Kemal Atatürks angeht, empfehle ich, die Bücher von Orhan Pamuk und Yasar Kemal zu lesen. :wave

  • Hallo Iris,


    danke für den Lektüretip, werde ich umsetzen. :-)


    Sicher hast Du formal recht.


    Aber inhaltlich ist doch schon klar, daß mit der Formulierung "des Völkermordes der Deutschen an den Juden" nicht gemeint ist, daß alle Deutschen gemeinschaftlich alle vorhandenen Juden ermordet haben.


    Ich weiß gar nicht, wie das z. B. in geschichtlichen Lehrbüchern formuliert wird, spekuliere aber mal, daß dort die von Dir eingeforderte sprachliche Abstufung auch nicht konsequent umgesetzt wird. Was es aber auch nicht besser macht.


    Es wäre vielleicht angebrachter zu schreiben, daß eine Gruppe von Türken große Teile der armenischen Bevölkerung ermordeten...


    Wie auch immer, danke für diese Sensibilisierung.


    Lieben Gruß,


    die Fride. :wave

  • Sorry, das ist mein Pawlowscher Reflex ... :grin


    Zitat

    Original von Friderike
    Aber inhaltlich ist doch schon klar, daß mit der Formulierung "des Völkermordes der Deutschen an den Juden" nicht gemeint ist, daß alle Deutschen gemeinschaftlich alle vorhandenen Juden ermordet haben.


    Das sagste mal einem US-Amerikaner, der dich mit der Sentenz beglückt, "all Germans are Nazi, that 's for true". :wow
    Selbstverständlich denken nicht alle US-Amerikaner so, aber weil sie in der Schule meist nur pauschal von "the Germans" und "the Nazi" lernen, wird das oft einfach projiziert ...


    Zitat

    Ich weiß gar nicht, wie das z. B. in geschichtlichen Lehrbüchern formuliert wird, spekuliere aber mal, daß dort die von Dir eingeforderte sprachliche Abstufung auch nicht konsequent umgesetzt wird. Was es aber auch nicht besser macht.


    In Sachbüchern so gut wie nie, und im englischsprachigen Raum wird das sogar in Fachbüchern häufig unterlassen. Man lobt das gelegentlich als "Zeichen besserer Lesbarkeit", aber ich kriege davon äußerst schmerzhafte Krämpfe.


    Edit:
    Möglicherweise ist es der große Vorzug der fiktionalen Literatur, hier Differenzierungen zu schaffen. :-)

  • Ich breche jetzt nicht in Begeisterungsstürme aus, ich habe schon bessere Bücher gelesen. Die Thematik hat mich wohl fasziniert, viele Dinge waren mir neu und deshalb auch sehr interessant. Auch der Stil hat mir eigentlich zugesagt, die Erzählerperspektive mit zuweilen direkter Ansprache der Leserschaft. Auch die Einblendungen der Gegenwart machten das Buch interessant und man wurde neugierig auf das Ende. Der Leser wird somit über 700 Seiten an der Stange gehalten.


    Nach einem sehr zähen Anfang "Erstes Buch" kam die Story so richtig in Fahrt, voll von skurrilen Personen und absurden Situationen. Im Mittelteil gab es durchaus Längen, einige Szenen (z.B. Father Michael und Milton inkl. Verfolgungsjagd) halte ich für entbehrlich. Es wurden viele Aspekte in den Roman verpackt, vom amerikanischen Traum, Rassendiskriminierung, Vorurteilen, Minderheiten, Genetik und Erziehung/Milieu, Generationenkonflikt bis hin zu Kapitalismus, Marxismus, usw. Für mich persönlich sind es zu viele Themen, die gestreift werden und deshalb nur oberflächlich behandelt werden.


    Ich hätte mir gewünscht, dass das Buch gerade in Bezug auf Cals "Hermaphroditos" tiefer geht. Seine/Ihre Gefühle, die Beweggründe, Ängste und Gedanken - auch während der "Umwandlung", die ja nicht von heute auf morgen vor sich geht - bleiben im Großen und Ganzen verborgen. Überhaupt stehen diese - doch für die Story so wichtige Szenen, wie ich finde - umfangmäßig in keinem Verhältnis zu weniger wichtigen "Begleiterscheinungen".


    Ich kann es nur eingeschränkt weiterempfehlen!

  • Ach ja. *mich erinner* Das Buch habe ich auch gelesen.


    Als Unterhaltungsroman finde ich "Middlesex" durchaus gelungen. Als Auseinandersetzung mit diversen Kapiteln europäischer/amerikanischer Geschichte eher weniger. Das Thema "Zweigeschlechtlichkeit" fand ich hingegen völlig verschenkt. Da blieb mir schlicht zu viel an der Oberfläche und trieb dort quasi als Eisscholle herum. Das fröhliche Durchfahren des Buchs als großes Leseabenteuer wurde prompt ein bisschen getrübt. Schollen sind ja keine Eisberge, aber eine gewisse Vorsicht scheint eben doch angeraten. Und prompt wird das Tempo gedrosselt.


    Aaaaaaber: Ein wunderbares Zitat hat das Büchlein. Es wird getuschelt über eine Frau, die eine Frau liebt. "Weißt du, sie ist eine von denen, nach denen diese Insel benannt ist …" :grin Schon dafür hat sich das Lesen meiner Meinung nach gelohnt. Als Unterhaltungsroman jedenfalls.


    Schöne Grüße von blaustrumpf

    Wer einmal aus dem Schrank ist, passt nicht mehr in eine Schublade.
    Aber mein Krimi passt überall: Inge Lütt, Eine Bratsche geht flöten. ISBN: 978-3-89656-212-8. Erschienen im Querverlag

  • ..ich habe das Buch im Oktober 2004 gelesen, und schon damals habe ich zu jeden Buch eine kurze Kritik geschrieben:


    Hochgelobter Roman von J. Eugenides- bin mit hohen Erwartungen an den Roman und wurde etwas enttäuscht. Es geht um die Geschichte einer grichischen Einwandererfamilie, die in den 20er nach Amerika flüchtet. Die Heirat von Bruder und Schwester setzt eine Genmutation ein - die 2 Generationen später einen Hemaphrodit - ein Mensch mit männlichen und weiblichen Geschlechtsorganen - verherbringt. Calliope wächst als Mädchen auf und in der Pubertät wird erkannt das sich in Wirklichkeit ein Junge gentechnisch verbirgt - eigentlich schön zu lesen, gute Geschichte, aber meine hohen Erwartungen wurde das Buch nicht gerecht. :wave

  • Zitat

    Original von blaustrumpf
    Das Thema "Zweigeschlechtlichkeit" fand ich hingegen völlig verschenkt. Da blieb mir schlicht zu viel an der Oberfläche und trieb dort quasi als Eisscholle herum. Das fröhliche Durchfahren des Buchs als großes Leseabenteuer wurde prompt ein bisschen getrübt. Schollen sind ja keine Eisberge, aber eine gewisse Vorsicht scheint eben doch angeraten. Und prompt wird das Tempo gedrosselt.


    @blaumstrumpf: das hast du sehr passend gesagt! Genauso ist es! :wave

  • Ich habe es vor einiger Zeit gelesen, mein erstes "richtiges" Buch auf Englisch und ich fand es auf der ersten Seite reichlich schwer, hineinzukommen, auf der zweiten habe ich dann schon gar nicht mehr bemerkt, dass es Englisch ist und das weitere kann man sich sicher denken. Fazit: spannend, unterhaltsam, intelligent (*unterstützend nick*) und vielfältig. Ich mag den Aufbau, die verschiedenen Zeitebenen, die fein ausgebauten Nebencharaktere und überhaupt das ganze Buch. Sogleich bin ich losgerannt, und habe mir auch alles andere von Eugenides besorgt. Ohne Reue. Zurück zu diesem Buch: die Sprache ist wunderschön, poetisch. Der Hauptcharakter ist tiefgründig und spannend, sein Leben wie seine Gedanken. Überhaupt, das "behandelte" Thema ist ungewöhnlich, unalltäglich. Das Buch liesst sich weg wie nichts, egal in welcher Sprache. Ich kann es empfehlen, auch ohne "reich" in irgendeiner Form im Namen. Und Trivia: die Cover sind auch nett anzuschauen.


    Liesbett


    PS.: Ich denke: Bücher sind da, um gelesen zu werden? Nicht gekaut.

  • Ich weiß nicht genau, was ich erwaretet habe, als ich anfing, dieses Buch zu lesen. Aber ganz bestimmt nicht solch eine toll erzählte Familiengeschichte. Die Charaktere sind sehr tiefgründig. Was mich allerdings ein wenig gestört hat, war, dass die älteren Charaktere bei jedem Generationswechsel ein wenig verblasst sind.
    Aber ansonsten fand ich die Sprache sehr ansprechend. Obwohl es anfangs etwas schwierig war sich darin einzulesen. Mich hat das Buch die ersten Seiten noch nicht so sehr im Bann wie dann in der Mitte und am Ende.


    Wer mehr zum Thema Hermaphrodismus lesen möchte, dem empfehl ich "Galerie der Lügen" von Ralf Isau. Ich hab einige Gedanken davon in "Middlesex" wieder gefunden....