'Lieblingsbücher' erhalten von mir diese Auszeichnung, weil sie -jedes auf seine eigene Art- faszinieren und ich sie im Laufe der Jahre immer wieder aufs Neue genießen kann. Sehr selten jedoch fesselte mich bisher ein Roman so sehr, dass ich ihn innerhalb kurzer Zeit ein zweites Mal gelesen habe. Charlotte Lynes »Die zwölfte Nacht« ist solch ein Roman.
Es mag daran liegen, dass die Geschichte einen historischen Abschnitt behandelt, dessen Ereignisse und Personen mir vertraut sind und der dennoch nie an Reiz verliert, zumal sich hier einige völlig neue Blickwinkel ergeben. Ganz sicher liegt es aber an der Geschichte selbst, die durch die liebevolle Gestaltung der Figuren den Eindruck hinterlässt, dass sie so hätte sein können und somit unvergesslich wird.
Der Roman spielt in England im 16. Jahrhundert; es ist die Zeit des berühmt-berüchtigten und allmächtigen Herrschers Henry VIII.
Anhand der teils fiktiven Lebensgeschichten der Protagonisten Catherine Parr (sechste und letzte Ehefrau Henrys) und der Seymour-Geschwister entführt Charlotte Lyne den Leser in die stürmische Zeit der Reformation.
»In der Tat ist es schwer, einen Mann zu ertragen, der die Macht besitzt, zu tun, was er will. Aber ist es nicht ebenso schwer, dieser Mann zu sein?«
(Thomas Cranmer über Henry VIII., Seite 283)
Die wesentlichen Fakten über die nachstehenden Persönlichkeiten kann man bei Bedarf im Lexikon oder Internet nachschlagen, in Charlotte Lynes Roman knüpfen diese interessanten Menschen aus einem Stück gemeinsam verbrachter, glücklicher Kindertage Bande fürs Leben:
Catherine Parr, schon als kleines Mädchen blitzgescheit und voller Wissensdrang, hat zwei Wünsche: Eines Tages will sie ein Buch schreiben und sie will Tom Seymour heiraten. Zwar kommt zunächst alles anders, aber auch während ihrer drei, in den Kindheitsträumen nicht eingeplanten Ehen, zwei davon trostlos und die dritte lebensgefährlich, wird das Leben der tapferen Cathie durch diese Wünsche bestimmt.
Jane Seymour will nicht lesen und nicht lernen; sie nimmt die Dinge, wie sie sind und widmet sich lieber ihren Handarbeiten. In all ihrer Schlichtheit hat sie jedoch bemerkenswerte Eigenschaften. Zudem will es das Schicksal, dass die sanfte Janie des Königs dringlichsten Wunsch erfüllt.
Edward Seymour ist ein Stockfisch und ein Bücherwurm. Er hat Angst vor den Menschen und vor seinem eigenen Schatten. Wohl fühlt er sich, wenn er Erasmus liest oder mit gelehrten Männern, wie Thomas Cranmer, beim Gespräch sitzt. Und es tut ihm gut, wenn er mit seinem Bruder Tom lachen kann.
Ausgerechnet der besonnene Edward ist besessen von einer Frau, die nichts als Unglück bringt.
Thomas Seymour verkörpert die pure Lebenslust. Ausgestattet mit kirschrotem Haar, verfügt er über all die Energie, die seinen Geschwistern scheinbar fehlt. Er ist ein Ausbund an Kraft, zu laut und ein Großmaul; den König kann er nicht leiden, 'Junker Tudor' nennt er ihn. Tom ist ein Teufelskerl, dem jederzeit der Gang aufs Schafott droht; die Frauen lieben ihn und er lässt nichts aus, dennoch bindet er sich nur einmal in seinem Leben. Thomas Seymour ist zerbrechlich.
Diese vier und weitere, nicht minder faszinierend lebensecht dargestellte, historische Persönlichkeiten begleitet der Leser durch die aufregende Zeit des allgegenwärtigen Henry des Achten und nimmt teil an zahlreichen Emotionen und den sich überschlagenden Ereignissen. Obschon die Mühen der Reformer einer Sisyphusarbeit gleichen und die zahlreichen Hinrichtungen belegen, dass der Zorn des Herrschers den Tod bedeutet, handelt es sich keineswegs um eine düstere Geschichte, ganz im Gegenteil.
Einerseits würde ich »Die zwölfte Nacht« am liebsten nur Lesern empfehlen, die sich bereits mit der Zeit befasst haben, da hier einiges über Henry VIII. lediglich kurz angeschnitten wird und das Bild, bei Unvertrautheit mit den Fakten, möglicherweise unvollständig bleibt. Andererseits stehen hier nicht der König, sondern Catherine Parr sowie die Reformation im Vordergrund und ich zweifle nicht daran, dass Neulinge auf dem Gebiet durch diese beachtliche Geschichte mit dem Tudor-Virus infiziert werden.
So oder so ist »Die zwölfte Nacht« nicht zuletzt durch die zauberhaft klare Sprache und den Verzicht auf Pathetik ein Genuss für Freunde anspruchsvoller historischer Romane.
Nachdem ich nun in den letzten Wochen, zunächst gleich nach Erscheinen »Die zwölfte Nacht«, danach »Bildnis einer jungen Frau« (Vanora Bennett über Hans Holbein sowie Thomas More und seine Schar), anschließend zum wiederholten Male »Heinrich VIII.« (Margaret George) und »Die Königin« (Susan Kay über Elizabeth I.) gelesen habe, nur um danach erneut zu »Die zwölfte Nacht« zu greifen, verlasse ich einstweilen das England der Tudors.
Vielen Dank, Charlotte Lyne, für diesen wunderschönen und nachklingenden Roman!
Viele Grüße
Kalypso