Über den Autor:
Gerhart (Gerhard) Johann Robert Hauptmann (* 15. November 1862 in Obersalzbrunn in Niederschlesien; † 6. Juni 1946 in Agnetendorf, heute Ortsteil von Hirschberg/Jelenia Góra) war ein deutscher Schriftsteller. Hauptmann gilt als der bedeutendste deutsche Vertreter des Naturalismus, hat aber auch andere Stilrichtungen in sein Schaffen integriert. 1912 erhielt er den Literaturnobelpreis.
Quelle: Wikipedia
Inhaltsangabe / Klappentext:
Hauptmanns Erzählung begründet ein menschliches Geschick in Milieu und Psychologie; er gestaltet es zugleich im Wirkungsfeld transsubjektiver elementarer Gewalten, die auf das Irrationale hinweisen, innerhalb dessen sich menschliches Leben vollzieht - im triebhaften und traumhaften Innerlichen wie in der außerpersönlichen Wirklichkeit, an die es gebunden ist. Diese novellistische Studie hat, anspruchslos, im schmalen Format, den Rang von Weltliteratur. Fritz Martini
Eigene Meinung:
Bahnwärter Thiel ist ein gewissenhafter, wortkarger, arbeitsamer Mensch. Er ernährt seine kleine Familie, seine neue Frau Helene, deren Neugeborenes und seinen Sohn aus erster Ehe, Tobias, in dem er Schranken bedient; die meiste Zeit verbringt er dennoch allein, abgeschieden in einem Forst in seinem Wärterhäuschen. Dort baut er sich, mit Gebet- und Gesangsbuch eine Traumwelt auf, in der er seiner ersten Frau Minna begegnet, ein kleines, eher zurückhaltendes Fräulein, gestorben im Kindbett, ihren Sohn zurücklassend mit dem Versprechen ihn gut zu versorgen und immer auf ihn Acht zu geben. Seine neue Ehefrau ist herrisch, egoistisch und verdiene in den Augen der anderen Männer eine „ständige Prügel“. Tobias lässt sie schuften, misshandelt ihn, demütigt ihn – und Herr Thiel reagiert nicht darauf, selbst als er mit der Gewalt konfrontiert wird. Er geht in dem entscheidenden Moment; er wird es schwer bereuen.
Im Anbetracht der Fülle an Medienberichten über Familiendramen bekommt die 1887 erstmals erschiene novellistische Studie von Gerhard Hauptmann eine ganz andere Möglichkeit hinzu, wie man dieses Werk interpretieren kann.
Thiel wird als ruhiger, kräftiger, aber nicht sonderlich intelligenter Protagonist beschrieben; er lebt in einer Traumwelt, er vernimmt Halluzinationen seiner verstorbenen Frau, mit der er eine „geistige Liebe“ verbindet. Seine neue Frau, weniger kränklich, kräftig, herrisch ist die Inkarnation einer auf Triebe ausgerichteten Sexualität. Er ist nicht Herr seines Schicksals, immer abhängig von anderen Gegebenheiten, immer passiv in seiner Rolle versteht er sich niemals mehr als der Ernährer seiner Familie, auch nicht als Retter von Tobias. Er ist gefangen in seinem Schema aus Arbeit, aus Vererbung, seiner sozialen Rolle, seinem Können, seiner begrenzten psychischen Leistung. Und so ist seine Rolle als `Beender´ des Ganzen von vornherein programmiert.
In dieser als Novelle angelegten Handlung lassen sich die Merkmale des Naturalismus gut herausarbeiten. Der Protagonist ist ein Antiheld, in einer sozial niedrigen Stellung arbeitend. Das Elend tritt dabei immer wieder in den Vordergrund, Lene erinnert ihn immer wieder daran, dass sie „teure Kartoffeln“ kaufen müssen, mit der Intention, dass das Geld nicht ausreicht, um ein Stück Land zu kaufen. Auch wird Lene als besonders „gute Wirtschafterin“ beschrieben, eine ihrer wenigen guten Eigenschaften. Sie repräsentiert das Proletariat –arbeitsam, aber auch zänkisch und primitiv. Hauptmann wertet wenig, er stellt den Menschen als ein Produkt seiner eigenen Biografie dar, als Produkt seines Standes, seiner Erziehung und seiner gesellschaftlichen Möglichkeiten. Nicht nur die psychologischen, auch die lokalen Gegebenheiten, die zeitlichen Gegebenheiten und auch die modalen Gegebenheiten werden bis ins kleinste Detail, wenn auch nur auf wesentliche Szenen beschränkt geschildert. Als bestes Beispiel kann hier der Einstieg gewertet werden, der die Geschichte lokal zwischen Neu-Schornstein und Neu-Zittau in einem Forst eingrenzt.
Anti-naturalistisch nennt es Wikipedia, ich nenne es eine Studie, die noch nicht formvollendet naturalistisch ist. Sie beinhaltet viele Metaphoriken, viele Symbole (Zug ist ein Symbol z.B., sowohl für die Arbeitsstelle Thiels als auch als Austragungsort des Schrecklichen); auch verwendet er keine dialektalen Einflüsse, die Sprache wirkt zum Spätwerk „Der Biberpelz“ eher glatt, noch sehr konstruiert und künstlich.
Als Novelle ist diese Geschichte klassisch aufgebaut – Sie endet mit einer „unerhörten Begebenheit“ und weißt einen ähnlich stark ansteigenden Spannungsbogen wie ein Drama auf. Man spürt das Ansteigen der Geschichte; man merkt, diese „Idylle“ (Es war keine Idylle, aber im Gegensatz zum Ende der Geschichte wirkt das Vorherige wie Geplänkel) kann nicht halten, wird irgendwann aufbrechen und es tut sie auch und zwar so grausam, dass meiner einer erheblich schlucken musste nach der Beendigung der Lektüre.
Der Autor hat eine sehr schön lesbare, flüssige Sprache. Er unterstreicht das Geschehen mit vielen Gedanken, vielen Stilelementen auf verschiedenen Ebenen. Die Geschichte des Bahnwärter Thiel könnte einen Auftakt bilden zu einem Diskurs darüber, was Familiendramen für einen Hintergrund haben, wodurch sie ausgelöst werden, auch eine Täterperspektive abbilden, auch wenn eine Diskussion möglich wäre, wer hier Opfer und wer Täter ist. Alles ist mehr Schein und Sein, alles hat zwei Seiten und eine oberflächliche Betrachtung dieses Werkes als „bloßes Buch“ würde aufgrund der Thematik nicht standhalten.
Natürlich kann man es auch als Unterhaltungsliteratur betrachten, oder aber als psychologische Studie, auf jeden Fall lohnt sich ein Blick in diese gerade einmal 40 Seiten lange novellistische Studie; mich hat sie nicht mehr losgelassen.