Originaltitel: The Ladder of years
Eine zufällige Begegenung im Supermarkt lässt Delia Grinstead über ihr bisheriges Leben nachdenken. Ihr Leben als Tochter, Mutter, Ehefrau zieht vor ihren Augen vorbei. Sie beschleicht das Gefühl, dass sie sich selbst und ihren Daseinszweck schleichend verliert: ihr Vater ist tot, die pubertierenden Kinder nehmen sie kaum noch wahr und ihr Mann Sam ist - nunja, er ist der immer gleiche Mann an ihrer Seite.
Nach einem amourösen Intermezzo ändert Delia während eines Sommerurlaubs spontan ihren scheinbar vorgegebenen Lebensweg: aus einem Spaziergang am Strand wird eine Flucht.
Als sie in dem Örtchen Bay Borough strandet, will sie anfangs nur für eine Nacht bleiben und mietet sich ein Zimmer. Ohne es bewusst zu steuern, findet sie sich aber bald mit einer Arbeit als Sekretärin wieder, schafft sich eine neue Garderobe und neue Verhaltensweisen. Meidet sie auch bewusst enge Freundschaften, kann sie dennoch nicht verhindern bald eine beliebte Dorfbewohnerin zu werden. Ihr Freundeskreis weitet sich weiter aus, als sie die Stelle wechselt und als Haushälterin den Schuldirektor Joel Miller bei der Betreuung seines Sohnes Noah zu unterstützen.
Dass ihre Familie nur in begrenztem Maße nach ihr sucht und sie nicht bittet heimzukommen, enttäuscht sie und bestätigt sie in ihrer Annahme, nicht gebraucht zu werden. Doch die Heirat ihrer Tochter gibt dem Geschehen eine Wendung...
Wo Anne Tyler drauf steht, ist auch Anne Tyler drin. Die Handlung in "Kleine Abschiede" spielt wieder im Mittelklassemilieu von Baltimore, Hauptperson ist eine Mutter mittleren Alters, deren Familie ihr Mittelpunkt ist. Häufig finden sich Stellen, die man so oder ähnlich selbst halb (un)bewusst empfunden hat und Entscheidungen treffen musste. Anne Tylers Schreibstil zieht einen wieder in die Geschichte und geht an Herz und Geist. In Delias Berufswahl und gegenüber ihren Handlungen und Gedanken liegt eine feine Ironie, die sie liebenswert macht. Man begegnet einem nicht perfekten Menschen, dessen Leben aus der Bahn gerät. Statt zu jammern oder zu erstarren, befeit sich Delia aus ihren Zweifeln - wenn auch auf recht unorthodoxe Weise. Ein Jahr vergeht, indem man ihre Zweifel, Unsicherheit und Wandlung miterlebt. Ich habe allerdings gegenüber Delia die ganze Zeit eine Distanz behalten, was verhinderte so richtig in abzutauchen. Aber der Roman war gut genug, um mir einige schöne Stunden zu bereiten. Ein netter Schmöker mit Ansätzen zu mehr!