„Sollen wir da eben mit hinfahren?“ Ich verdrehe die Augen gen Himmel und zeige damit unmissverständlich, was ich von dieser Idee halte. Stefan wendet trotzdem und wir fahren ebenfalls zum Einsatzort des anderen Streifenwagens. Einsatzstichwort „Häusliche Gewalt“. Ich denke mir insgeheim, „schon wieder“ und versuche meine Genervtheit auszublenden, zumal mir immerhin die Familie, zu der es diesmal geht unbekannt ist. Das ist eigentlich die Ausnahme, trotz meiner erst kurzen Anwesenheit in dieser Polizeiinspektion, hab ich unsere Pappenheimer schon perfekt drauf und eigentlich sind es alle paar Wochen die gleichen Familien, bei denen es ordentlich rappelt.
Als wir neben dem Streifenwagen der Kollegen halten und grad aussteigen wollen, knistert der Funk.
„Jane? Könntet ihr wohl die Anschrift der Schwiegermutter anfahren? Der prügelnde Gatte soll sich dort aufhalten und er hat wohl den Sohn gegen dessen Willen mitgenommen.“
Ich drücke kurz auf die Sprechtaste und bestätige, während wir zur kurz danach genannten Anschrift fahren. Zwei Minuten später halten wir vor einem spießig aussehenden Reihenhaus, das Gartentor ist offen und im Garten spielen geschätzte 15 Kinder, sieht mit all den Luftballons schwer nach Kindergeburtstag aus. Mein Kollege und ich tauschen irritierte Blicke und mir sackt das Herz in die Hose.
„Ein Kindergeburtstag?“ raunt er mir zu und ich zucke bloß mit den Achseln.
Als uns an der Haustüre trotz Sturmklingeln niemand öffnet, gehen wir durchs Garagentor. In der Garage rollt plötzlich eine wild fauchende Furie auf uns zu. „WAS WOLLEN SIE HIER RUNTER VON MEINEM GRUNDSTÜCK“ Automatisch zuckt meine Hand zum Pfefferspray und verharrt dort, während mein Kollege beruhigend unsere Anwesenheit zu erklären versucht. Er endet mit den Worten „Wir suchen Herrn Justus!“ „DER IS NICHT DA! SELBST WENN WÜRD ICH SIE NICHT REINLASSEN! VERPISSEN SIE SICH! DAS HIER IST MEIN HAUS. SIE HABEN KEINEN DURCHSUCHUNGSBEFEHL! RAUS!“
Ich atme tief durch und warte, bis sie mit ihrer Tirade fertig ist. „Gute Frau, sie schauen zu viele Krimis.“ Sage ich ruhig und ihr Blick wechselt von meinem Kollegen zu mir. „WAS WILLST DU PUTE DENN?“ Ich ziehe eine Augenbraue hoch. Sie tritt einen Schritt näher und ihr mächtiger Busen wogt mir entgegen. Obwohl sie mich um zwei Köpfe überragt und locker 3 mal so schwer ist wie ich, bleibe ich stehen, bis ihr Körper meinen berührt, dann strecke ich in einer schnellen Bewegung die Arme aus und stoße sie zurück. Meine Hände versinken in weichem Fleisch und sie taumelt ein paar Schritt rückwärts. Die Kinder im Garten haben mittlerweile ihr Spiel sein gelassen und bilden um die Tür zur Garage einen Halbkreis. Die Dicke ist durch meinen Schubser so überrascht, dass sie mich erstmal nur verdutzt ansieht.
„Abstand halten, oder ich werde grantig! Wir sind nicht hier, weil uns irgendwas an ihren Haus interessiert, wir wollen lediglich Herrn Justus sprechen und uns vergewissern, dass sein Sohn hier ist, er freiwillig hier ist und es ihm gut geht. Dazu brauchen wir keinen Durchsuchungsbefehl, da hier eine Straftat nämlich die Kindesentziehung im Raum steht. Wir können das wie erwachsene vernünftige Menschen regeln oder sie führen sich weiter auf, wie die wilde Furie und wir fahren das harte Programm. Ihre Entscheidung, Frau?“ „Justus, Gisela Justus!“ Schnauft sie. „Herr Justus ist mein Schwager.“ Sie wirkt ein wenig ruhiger, blitzt aber immer noch gefährlich mit den Augen in meine Richtung. Aus dem Augenwinkel sehe, ich wie Stefan sich die Lederhandschuhe anzieht, gute Idee, ich verspüre auch grobe Unlust, die Dame noch mal ohne Handschuhe zu berühren. „Wir wollen wirklich nur mit ihm sprechen, das Ganze geht ganz schnell und ganz ehrlich, die Kinder brauchen das doch so auch nicht mitbekommen.“ Ich deute in den Garten und zucke zusammen, als sie losbrüllt. „JOACHIM-GUNTRAM KOMMA BEI DIE TANTE GISELA!“ Ein kurzes Grinsen huscht über Stefans Gesicht und auch ich muß mir ein Schmunzeln verkneifen. Aus der Masse der Kinder schält sich ein dicker etwa 12-jähriger Junge und kommt auf uns zu. Mit hochroten Ohren und zitternden Händen bleibt er vor mir stehen und guckt zu Boden. „Das ist mein Neffe. Fragen sie ihn und dann hauen sie hier ab.“ Zum ersten Mal schlägt sie einen Ton an, der nicht auch noch sieben Straßenecken weiter zu hören ist.
Ich betrachte den verschüchterten kleinen Kerl und bin unschlüssig, was ich machen soll. „Frau Justus, wir müssen dennoch mit ihrem Schwager sprechen, daran führt kein Weg vorbei.“ Stefan spricht mit seiner sehr ruhigen Stimme und hat den Tonfall für Kleinkinder und Minderbemittelte angeschlagen. Eigentlich warte ich nur darauf, dass die wild gewordene Alte ihm eine reinhaut. Daher bin ich überrascht, dass sie sich umdreht und abdampft und dabei murmelt. „Ich hol ihn!“
Ich widme mich dem Jungen und geh mit ihm vor die Garage, außer Hörweite der anderen Kinder, die immer noch neugierig zu uns rüber sehen. Bevor ich was sagen kann, sprudelt er los. „Ich will nicht zur Mama! Warum sind sie hier? Hat meine Mama sie angerufen? Ich will nicht dahin, ich wollte weg. Ich will hier bei der Oma und Tante Gisela bleiben. Meine Mama macht mir Angst.“ Ich denke kurz nach, bevor ich antworte, das ist eine so ganz andere Sachverhaltsschilderung als erwartet. „Joachim-Guntram, was genau ist denn eben passiert? Du musst mir das nicht erzählen, weil das deine Mama und dein Papa sind, aber es wäre schön, wenn du mir sagst, was passiert ist.“ Er schluckt hart und sein speckiges Gesicht zittert und ein paar Tränchen bilden sich in seinen Augen. „Mama und Papa hatten Streit. Meine Mama ist dann total ausgerastet und hat gesagt, sie macht den Papa fertig und sie weiß schon, was sie tun muß, damit wir Kinder nicht bei dem Papa bleiben dürfen. Der Papa wollte dann wegfahren, weil er sich ja so leicht aufregt und das nicht darf, wegen seinem Herzen. Aber ich wollte nicht allein bei Mama bleiben also bin ich ihm hinterher gelaufen und mit zur Oma gefahren.“ Ich schweige einen Moment, dann frage ich vorsichtig. „Hat dein Papa die Mama gehauen?“ Er blickt mich überrascht an. „Nein. Noch nie.“ Ich schweige wieder und trete von einem Fuß auf den anderen. „Und du willst sicher, lieber hier bleiben, als zurück zur Mama?“ Er nickt heftig und beginnt zu schluchzen. „Ich hab Angst vor Mama!“ Unsicher strecke ich eine Hand aus und streichele seine Schulter. „Ist ja gut, Du musst ja nicht zurück, wenn du nicht willst.“
„DAS WÄRE JA AUCH NOCH SCHÖNER, WENN DER ZU DER SCHEißSCHLAMPE MÜSSTE!“ Das Schluchzen wird lauter und er wirft sich in die Arme seiner Tante, die mit diesen Worten die Garage wieder betreten hat, einen hageren blassen Mann im Schlepptau. „Da mein Schwager, aber wehe sie regen den auf. Dann zeig ich sie an. Ich schwöre, sie werden ihres Lebens nicht mehr froh und die dumme Sau von Schwägerin auch nicht.“ Ich verdrehe die Augen gen Himmel, langsam reichts mir. „Frau Justus, hier wimmelt es von Kindern, muß das sein? Sind sie nicht der Meinung, das Ganze ist auch so schon schlimm genug für ihren Neffen?“ Sie sieht mich trotzig an, schweigt aber.
„Herr Justus, wir müssten eben von ihnen wissen, was passiert ist.“ Stefan redet in gedämpftem Ton mit ihm und bekommt nach einigen Minuten eine ähnliche Schilderung, wie Joachim-Guntram sie mir bereits gegeben hat. Ich greife zum Handy und rufe die Kollegen an und teile ihnen mit, was wir in Erfahrung gebracht haben.
„Jane, die Frau hat ein Mordsveilchen und behauptet, dass er sie oft schlägt und das Kind gegen seinen Willen mitgenommen hat.“ „Stellt sich für uns anders dar und er ist absolut glaubwürdig.“ „Ich ruf dich zurück, Moment.“ Herr Justus wirft mir einen Blick zu und wartet. „Ihre Frau behauptet, sie hätten sie geschlagen.“ Ich sehe ihn abwartend an. Er reißt überrascht die Augen auf, dann lacht er. „Die spinnt. Nie hab ich die Hand gegen sie erhoben. Jahrelang ertrage ich dieses Weibsbild. Wenn sie ausrastet gehe ich einfach. Nur der Kinder zu liebe ertrage ich das.“ Ich nicke und glaube ihm. Ich bilde mir normal kein so rasches Urteil, aber die Vorstellung, dass dieser schmächtige zitternde Kerl irgendwen schlägt, ist total absurd. Sein Sohn klammert sich an ihn und weint immer noch.
Mein Handy klingelt. „Sie bleibt dabei. Er hat sie geschlagen, sie stellt Strafantrag.“ Es herrscht einen Moment Stille, dann leiser. „Du, ich glaub der aber nicht, trotz Veilchen. Die Alte ist total bescheuert und der Junge, der hier noch in der Wohnung ist, will die ganze Zeit nur zu seinem Vater.“
„Was machen wir?“ „Wir haben keine Wahl, sie sagt, sie ist geschlagen worden, sie hat ein Veilchen. Wir müssen ihn der Wohnung verweisen und die Anzeige schreiben.“ „Gefällt mir gar nicht.“ „Ich weiß, mir auch nicht, aber wir haben keine andere Wahl. Wenn ich der jetzt sage, dass ich ihr kein Wort glaube, haben wir morgen die Schlagzeile im Express: „Opfer häuslicher Gewalt, von Polizei nicht ernst genommen!“ Oder so ähnlich. Wir haben keine Beweise, dass es anders war, als sie es schildert.“ „Gefällt mir trotzdem nicht.“ Wiederhole ich mich, dann lege ich auf. Stefan guckt mich an. „Volles Programm?“ Ich nicke langsam. „Gefällt mir auch nicht.“ Sagt Stefan leise.
Herr Justus sieht uns abwartend an, seine Schwägerin steht drohend hinter ihm, bereit uns nieder zutrampeln, wenn wir was Falsches sagen.
„Herr Justus, ihre Frau bleibt bei ihrer Schilderung, dass sie sie ge….“ Mir wird bewusst, dass Joachim-Guntram noch mit hört und ich werfe Frau Justus einen bittenden Blick zu, den sie sogar tatsächlich versteht und mit dem Kleinen an der Hand die Garage verlässt. „Also ihre Frau bleibt dabei, dass sie sie geschlagen haben. Wir können zum jetzigen Zeitpunkt nichts anderes beweisen. Daher müssen wir uns an die Gesetzteslage halten. Demnach spreche ich ihnen gegenüber jetzt ein Rückkehrverbot für ihre Wohnung aus. Das heißt, sie dürfen 10 Tage lang nicht in ihre gemeinsame Wohnung. Den Hausschlüssel nehmen wir an uns. Sollten sie dagegen verstoßen, setzen wir ein Ordnungsgeld über 500 Euro fest. Diese 10 Tage dienen dazu, dass ihre Frau und sie Zeit haben sich zu beruhigen und eventuell weitere Schritte einzuleiten. Sollten sie noch Dinge aus ihrer Wohnung brauchen, können sie die Wohnung in Polizeibegleitung aufsuchen und diese Dinge abholen.“ Ich rattere meinen Spruch mechanisch runter. Die Augen von Herrn Justus weiten sich immer mehr. Er schluckt hart. „Das ist nicht ihr Ernst oder? Ich hab meine ganzen Sachen da. Mein Motorrad, meine Arbeitskleidung und was ist mit den Kindern?“ „Die Kinder sind zunächst nicht Sache der Polizei. Sie haben beide das Sorgerecht an ihren Kindern und wenn ihr Sohn, bei ihnen bleiben will, dann ist das sein gutes Recht. Alles weitere würde dann im Rahmen einer Scheidung von einem Richter oder aber dem Jugendamt entschieden.“ Er atmet auf. „Also nehmen sie Jo jetzt nicht mit.“ „Nein.“ „Und meine Sachen?“ Ich zappele ein wenig hin und her. „Eigentlich halte ich es für keine gute Idee, die jetzt zu holen, wo sie beide noch sehr aufgebracht sind.“ „Aber ich muß morgen früh zur Arbeit. Ich brauch die Sachen und Jo braucht seine Schultasche.“ Stefan nickt mir kaum merklich zu.
„Na gut, fahren wir jetzt schnell hin und holen den Kram, aber ich hab keine Lust, auf eine große Szene da. Packen sie ihre Sachen zusammen und mehr nicht.“ Er nickt und marschiert schon auf sein Auto zu. Wir folgen ihm und fahren hinter ihm her. An seiner Wohnadresse ist die Hölle los.
Der Streifenwagen steht noch vor der Türe. Die Fenster des Erdgeschosses sind geöffnet und aus dem Haus ertönt Gebrüll und immer wieder fliegen gefüllte blaue Müllsäcke aus dem Fenster in den Vorgarten. Im Flur steht meine Kollegin und zeigt mir einen Vogel. „Die hat sie nicht mehr alle“, raunt sie.
Stefan ist mit Herrn Justus im Vorgarten stehen geblieben und ich nehme durchs Fenster wahr, dass sie die Müllsäcke in sein Auto laden. Im Wohnzimmer treffe ich auf meinen zweiten Kollegen der versucht eine Frau zu beschwichtigen, die auf einem der Sessel steht und einem kleinen Jungen Anweisungen zubrüllt. „DA PACK DAS EIN! DAS DA IST AUCH VOM PAPA! WENN DEIN PAPA MEINT UNS VERLASSEN ZU MÜSSEN, DANN KANN ER SEINEN SCHEIß AUCH MITNEHMEN!!“ Ich erfasse die Situation und explodiere. „WAS IST DENN HIER LOS? SAGEN SIE MAL GEHT’S NOCH?“ Der Junge, grade mal acht oder neun Jahre alt, steht mit einem Müllsack im Zimmer und sammelt offensichtlich die Sachen seines Vaters zusammen. Nach meinem Schrei bleibt er schockiert stehen und steckt den Daumen in den Mund. Mein Kollege zieht die Frau vom Sessel runter. Der Kleine beginnt zu schluchzen und hockt sich auf den Boden. Während mein Kollege und seine Partnerin die Dame in den Flur zerren und ihr ein paar Takte zu ihrem Verhalten sagen, knie ich mich neben dem Zwerg auf den Boden. „Ich will nicht, dass der Papa auszieht.“ jammert er leise vor sich hin. Vorsichtig winde ich ihm die Plastiktüte aus den Händen und ziehe ihn in meine Arme. Er weint und ich lasse ihn weinen und streiche ihm immer wieder leicht über den Kopf. Im Flur höre ich seine Mutter. „Wenn mein Sohn auf der Seite meines Mannes ist, dann kann er auch dessen Tasche packen.“ Ich bin entsetzt und trete mit einem Fuß gegen die Tür, damit der Kleine diesen Mist nicht mithören muß.
Langsam werden die Schluchzer in meinen Armen leiser und sein Atem geht ruhiger.
„Ich will nicht bei der Mama bleiben.“ Ich schlucke, was sag ich jetzt? Ich muß neutral bleiben, dann denke ich mir, „Scheißdrauf!“ „Wenn du nicht willst, musst du nicht bei der Mama bleiben.“ „Die Mama hat aber gesagt, wenn ich nicht hier bleibe, kommt der Papa ins Gefängnis.“ Ich schlucke und kann es kaum fassen. „Der Papa kommt nirgendwohin und wenn du lieber mit dem Papa gehen willst, dann kannst du das machen. Das kann dir niemand verbieten.“ Er sieht mich an und ist sich offenbar nicht ganz sicher, ob er mir glauben soll. „Aber der Papa ist weg.“ „Der Papa ist draußen, der möchte seine Sachen abholen, wenn du wirklich mit fahren willst, dann nimmt der dich bestimmt gleich mit.“ Er lächelt und ich wage eine vorsichtige Frage. „Hast du den Streit denn mitbekommen?“ Er nickt langsam. „Weißt du, ob der Papa die Mama geschlagen hat?“ Er reißt seine kleinen blauen Augen auf. „Neee, der Papa ist weggefahren, wie immer, wenn die Mama ihre 5 Minuten hat.“ „Weißt du denn woher die Mama ihr blaues Auge hat?“ Er schüttelt den Kopf und weint wieder. Ich nehme wahr, dass seine rechte Hand leicht verwachsen ist, als er sich die Tränen aus den Augen reibt.