Kjell Westö - Vom Risiko, ein Skrake zu sein

  • Titel: Vom Risiko, ein Skrake zu sein
    Originaltitel: Vadan av att vara Skrake
    Autor: Kjell Westö
    Verlag: BTB
    Erschienen: Juli 2007
    Seitenzahl: 447
    ISBN-10: 3442736579
    ISBN-13: 978-3442736577
    Preis: 9.50 EUR


    Kjell Westö wurde 1961 geboren und lebt in Helsinki. Er gehört zu den bekanntesten Vertretern der neuen finnischen Literatur. Seine Arbeiten wurden mehrfach preisgekrönt und zurzeit sind mehrere Übersetzungen in verschiedene Sprachen in Arbeit.


    Kjell Westö ist ein Vollbluterzähler. Seine Geschichte lebt. Über sein Buch sagt er selbst: „Dieses Buch ist mein Versuch das 20. Jahrhundert Finnlands anhand einer Familie einzufangen, deren Männer Spezialisten darin sind, am falschen Ort zur falschen Zeit das Falsche zu tun.“
    Viel besser kann man es nicht ausdrücken.


    Der Leser wird auf eine eindrucksvolle Reise durch das Finnland des 20. Jahrhunderts geschickt. Immer wieder stehen die Mitglieder der Familie Skrake im Mittelpunkt des Geschehens. Vor allen Dingen aber wird von Werner Skrake berichtet, dem Pechvogel der auf einer feierlichen Coca-Cola-Parade im Jahre 1952 seinen Lastwagen umkippt und zum Gespött einer ganzen Nation wird. Dabei fällt nicht so sehr ins Gewicht dass er ein talentierter Hammerwerfer und Kurzgeschichtenautor ist. Wiktor, der Ich-Erzähler, Werners Sohn, erzählt die Geschichte seiner Familie mit einem leichten Unterton aus Trauer und Resignation, aber auch mit einer Portion stillen Humor. Diese Mischung ist es, die das Buch so sehr lesenswert machen. Finnland hat mehr zu bieten als eine schwierige Sprache und Mücken im Sommer.


    Kjell Westö als ein Repräsentant der finnischen Literatur braucht sich hinter nichts und niemanden zu verstecken. Skandinavien hat literarisch mehr zu bieten als Henning Mankell (und Mankell ist ja nun wirklich schon eine sehr respektable Größe). Es ist zu hoffen, dass wir noch sehr viel von Westö zu lesen bekommen und dass er seinen ganz besonderen Stil beibehält.


    Hier ein kleiner Abschnitt aus diesem Buch, ein Abschnitt, vielleicht jetzt völlig aus dem Zusammenhang gerissen, der es aber trotzdem wert ist, hier aufgeschrieben zu werden und den ich persönlich als sehr eindrucksvoll empfunden habe:


    Die 42jährige Nette spricht zu Wiktor, dem Ich-Erzähler:
    „Die Lust, zu leben bleibt. Aber ihr, die ihr blutjung seid, begreift das nicht. Ihr seht nur, dass wir müde sind und allmählich gebeugt werden und Falten bekommen, und deshalb glaubt ihr, wir wären zufrieden, solange wir nur unseren tristen, aber auch geborgenen Alltag haben. Doch das Blut schießt genauso durch unsere Adern wie durch eure. Die Lust zu leben verschwindet nirgendwohin. Sie ist verdammt noch mal größer, wenn man dreiundvierzig ist, als im Alter von zwanzig, denn jetzt weiß man, dass so vieles ungelebt bleiben wird, verstehst du, Viki, wir Menschen sind verbraucht, ehe wir überhaupt begonnen haben, voll und ganz zu leben, verstehst du?“


    Ein wahrhaft großartiges Buch, ein wichtiger Teil nicht nur der finnischen bzw. skandinavischen Literatur, nein, vielmehr ein wichtiger Teil der europäischen Literatur. Solche Bücher sind es, die einem den Glauben an das Produkt „gute Bücher“ wiedergeben. Es gibt halt auch eine sehr lesenswerte Literatur neben den ganzen „Mainstream-Druckwerken“.

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Vielen Dank, für Deine Rezension lieber Voltaire.


    Ich konnte, ehrlich gesagt mit dem Buch nicht allzuviel anfangen, es hat mich einfach nicht packen können. :gruebel
    Vielleicht bin ich auch mit einer falschen Erwartungshaltung an das Buch herangegangen, es war auf jeden Fall so, dass ich es nach ungefähr 80 Seiten abgebrochen habe.


    enttäuschte Grüße von Elbereth :wave

    “In my opinion, we don't devote nearly enough scientific research to finding a cure for jerks.”

    ― Bill Watterson

  • Voltaire, danke für den wunderbaren Tipp! Ich habe das Buch soeben ausgelesen und bin noch ganz überwältigt von der großartigen Erzählung. Mir hat der Roman vor allem sprachlich gefallen (ein Lob auch an die Übersetzung), diese Mischung aus Sprödigkeit und einer fast lyrischen Stimmung ist hinreizend.
    Westö gelingt es wunderbar die Geschichte einer Familie mit der Geschichte eines Landes zu verweben.
    Kann mich deinem Urteil nur anschließen: Ganz große Erzählkunst!!

  • Was für ein Roman!


    "Er konnte ein ums andere Mal auswerfen, es sah so mühelos aus, so sanft und millimetergenau, er ließ den Blinker haargenau dort landen, wo er hin sollte, unmittelbar hinter einem üppig wuchernden Tangbusch oder in der Kuhle neben einem aus dem Wasser ragenden Stein." (S. 294)


    Wenn Sie die Beobachtungsgabe eines Naturforschers mit der Gedächtnisstärke eines professionellen Märchenerzählers verbinden und einen Stapel Notizpapier für eine lange Liste ungewöhlich treffender Formulierungen vorbereitet haben, kann dieses Buch Ihr Monats-Highlight werden. Handlungsorte sind Helsingfors (Schwedisch für Helsinki) und Raberga, ein Dorf in der Region Österbotten/Ostbottnien, einem Teil Finnlands östlich des Bottnischen Meerbusens. Den Ostbottniern sagt man nach, sie seien langsamer und jähzorniger als die übrigen Finnen. In der Gegend wird Schwedisch und Finnisch gesprochen, Zweisprachigkeit taucht im Roman (der aus dem Finnlandschwedischen übersetzt ist) mehrfach auf.


    Erzählt wird die Geschichte in versetzten Rückblenden von Wiktor Skrake, genant Viki. Er arbeitet sich durch drei Generationen seiner Familiengeschichte, um am Ende festzustellen, wie stark sein Großvater, seine Großonkel, sein Vater und er sich darin ähneln, sich selbst das Leben zu vermasseln. Mit Siebzehn lebt der Erzähler zu Beginn des Romans allein als Haussitter in der Stadtwohnung seiner Tante Mary (Schwester des Vaters) und geht in der Stadt zur Schule. In späteren Szenen hat Viki seine Stelle bei der Zeitung bereits gekündigt und ist in das Dorf seiner Kindheit zurückgekehrt, auf der Suche, ob "in seiner Seele noch die Sprache wohnt". Vater Werner lebte damals ein unzeitgemäßes Leben als Schul-Hausmeister. Er trainiert verbissen Hammerwerfen, um seine persönliche magische Grenze von 60m zu übertreffen, fischt und schreibt Kurzgeschichten über das Fischen. 1952, als zu den Olympischen Spielen in Helsinki die Markteinführung von Coca Cola bevorsteht, gelingt es Werner mit dem ersten von zwei peinlichen Ereignissen in die Geschichte des Ortes Raberga einzugehen. Wer sich in Finnland blamiert hat, kann nicht einfach wegziehen, und Werners Blamage wird Wiktors Leben überschatten. Während der Vater Hammerwerfen trainiert, läuft Wiktor regelmäßig. Eine besondere Vater-Sohn-Beziehung entsteht auf dem Sportplatz, die die Peinlichkeiten aus Wiktors Leben kurzfristig zum Verschwinden bringen kann. Wiktor war beim Laufen ein schwebendes Kind, sein Idol Sillitoes Langstreckenläufer.


    Mit den Elebnissen von Großvater Bruno und seinen Brüdern Leo und Otto (der den Krieg nicht überlebte) dringen wir weiter in die Geschichte der Skrakes und Finnlands ein. Leo erzählt Viki, mit dem ihn eine besondere Seelenverwandtschaft verbindet, die Geschichte von Johannes Mattson, der sich die Insel Skra schwer erarbeitete, nach der die Familie heute heisst. 1978, als Leos Lebenszeit schon fast abgelaufen ist, verbringt er eine sehr innige Zeit mit Viki und erzählt ihm in seinen letzten Lebenstagen noch so viel wie möglich. Leo erlebte den Ersten Weltkrieg als Kind und erinnert sich daran, dass im Krieg eigene Regeln galten. Die Antworten, die Leo von seinem Bruder Bruno damals über den Krieg nicht erhielt, suchte er, indem er Lesen zu seinem Lebensinhalt machte. Um die Kriegserlebnisse einordnen zu können, ist es nützlich, sich unter Karelien, dem finnischen Bürgerkrieg 1917 und dem "Winterkrieg" zwischen Russland und Finnland von 1939 um Karelien etwas vorstellen zu können. Die Familienerinnerungen der Skrakes verdeutlichen, warum so genau unterschieden wurde, welche Vorfahren zu den "Roten" oder den "Weißen" gehörten. In der Erzähtradition der Familie werden schwarze Schafe, Exzentriker und auch ewige Kinder unter den Verwandten aufs Korn genommen. Erzählen, Vorlesen, Erinnern, Sehnsüchte und Träume spielen im Leben der Skrakes eine wichtige Rolle. Irgendwann muss es einen Umschwung im Leben von Wiktor, Vater Werner und Mutter Vera gegeben haben, auf den die Handlung unaufhaltsam zusteuert.


    Wiktor bringt seine Vorfahren zum Sprechen, saugt ihre Geschichten andächtig auf und nimmt die Rolle des Chronisten ein. Die Ereignisse werden an markanten historischen Ereignissen festgezurrt (Abstand zum Atombombenabwurf, Gagarins Raumflug, Ermordung Kings 1968) und enden mit der Jahrtausendwende. In Nebenrollen die Nachbarn von Werners Familie mit ihren Kindern Janina und Björn und kurz vor Schluss des Romans Vikis russischstämmige Großmutter Maggie, die ebenfalls allerlei zu erzählen hat.


    Lange hat mich kein Familienroman mehr so gefessselt wie die Erlebnisse der Skrakes. Die außergewöhnliche Beobachtungsgabe des Autors hat mir ein Gefühl von Urlaub am Meer vermittelt. Die kleinen der Küste vorgelagerten Inseln, auf die Viki blickt, habe ich vor meinen Augen gesehen, Werners Maschinengewehr-Salven auf der mechanischen Schreibmaschine gehört und gespannt dem Ende der Geschichte entgegengefiebert. Als klar war, wer mit wem verwandt ist, ließ die Spannung im zweiten Drittel leicht nach, um dann wieder anzuziehen. Wer keine Abneigung gegen Angler-Erlebnisse hat, sollte die Skrakes unbedingt ins Urlaubsgepäck packen.