Die Eleganz des Igels - Muriel Barbery

  • Muriel Barbery: Die Eleganz des Igels, München 2008, Deutscher Taschenbuchverlag, dtv, aus dem Französischen von Gabriela Zehnder, ISBN 978-3-423-24658-3, 363 Seiten, Softcover, Format 13,5 x 21 x 2,9 cm, EUR 14,90 [D], EUR 15,40 [A], sFr 25,80.


    Renée Michel ist Mitte fünfzig, verwitwet, klein, unattraktiv und stammt aus einfachen Verhältnissen. Seit 27 Jahren arbeitet sie als Concierge in der Rue de Grenelle 7, einem schönen herrschaftlichen Stadthaus mit Innenhof.


    Paloma Josse, zwölf Jahre alt, wohnt mit ihren Eltern und ihrer Schwester ebenfalls in der Rue de Grenelle 7, „in einer Wohnung für Reiche“.


    Die Frau und das Mädchen kennen einander nur vom Grüßen und ahnen nicht, dass sie ein Geheimnis verbindet: Beide sind überdurchschnittlich intelligent und belesen, und beide verwenden eine beträchtliche Menge an Energie darauf, sich dümmer zu stellen als sie sind um nicht aufzufallen und ihre Ruhe zu haben.


    Renée Michel spielt perfekt die einfältige Concierge. Ihr Blick ist leer, die Antworten einsilbig. In der Hausmeisterloge läuft den ganzen Tag dümmliches Proleten-Fernsehen, während sie in jeder freien Minute im Hinterzimmer die großen Werke der Literatur und Philosophie studiert und aufmerksam das Treiben ihrer Nachbarn verfolgt.


    Paloma ist, trotz aller Bemühungen, ihre überragende Intelligenz zu verbergen, Klassenbeste. Sie beobachtet ihre Mitmenschen lieber als sich mit ihnen abzugeben, denn weder ihre Altersgenossen noch die Erwachsenen in ihrer Umgebung sind passende Gesprächspartner für sie. Alle halten sie für exzentrisch. Dass sie (zu) klug ist, scheint niemand zu bemerken.


    Das Leben erscheint Paloma sinnlos, leer und vorhersehbar. Und eines weiß sie ganz genau: In die verlogene Welt der Erwachsenen will sie gar nicht erst eintauchen. Deshalb ist sie wild entschlossen, sich an ihrem 13. Geburtstag das Leben zu nehmen. Bis es soweit ist, möchte sie sich noch ein paar grundlegende Gedanken über die Welt machen, die sie in einem Tagebuch niederschreibt.


    Abwechselnd teilen uns nun Paloma und Madame Michel ihre Beobachtungen und Überlegungen, ihre Ansichten und Einsichten mit. Optisch klar abgegrenzt durch die Verwendung unterschiedlicher Schriftarten ist stets auf den ersten Blick erkennbar, wer gerade zum Leser spricht.


    In einem Punkt sind sich die beiden Ausnahmefrauen einig: Der Mensch ist nichts weiter als ein Tier, ein Primat. Für Religiosität ist in ihrem Weltbild kein Platz. Der Mensch kommt zur Welt und verbringt einen Großteil seines Lebens mit der Befriedigung primitiver Bedürfnisse: Sex, Territorium und Hierarchie. Dann stirbt er und es ist vorbei. Das einzige, was nach Meinung von Madame Michel den Menschen vom Tier unterscheidet, ist die Kunst, das Streben nach Schönheit. Doch auch die Sinnsuche ist ihrer Auffassung nach ein Trieb. „Die Literatur zum Beispiel hat eine pragmatische Funktion. Wie jede Form der Kunst hat sie die Aufgabe, die Erfüllung unserer lebenswichtigen Pflichten erträglicher zu machen.“ (Seite 277)


    Über Sinn, Aufgaben und Pflichten macht sich auch Paloma Gedanken: „Ich für meinen Teil glaube, dass wir nur eines tun können: Die Aufgabe finden, für die wir geboren worden sind, und sie so gut wie möglich erfüllen, ohne die Dinge unnötig zu komplizieren und ohne zu meinen, in unserer animalischen Natur liege etwas Göttliches. Nur so werden wir das Gefühl haben, etwas Konstruktives zu tun, wenn der Tod uns holt.“ (Seite 265)


    So fasziniert, wie Renée Michel von Kunst ist, so fasziniert ist Paloma von der Bewegung. Sie beobachtet Sportler, Tiere und die Menschen in ihrer Ungebung und fragt sich nach einem Chorkonzert, ob die wahre Bewegung der Welt nicht der Gesang ist.


    Paloma ist aufgrund ihrer Jugend noch nicht so abgeklärt wie Madame Michel. Ihre Beobachtungen und Gedanken zu allen erdenklichen Aspekten des Lebens sind im Grunde eine Suche nach etwas, das das Leben doch lebenswert macht und sie vielleicht von ihren Freitodabsichten abhalten könnte. Manche ihrer Überlegungen erscheinem einem vertraut, manche wiederum absurd. Paloma denkt übers Essen nach, über Mangas, über Grammatik, den Tod und auch über die Intelligenz:


    „Was ich jetzt sage, ist eine Banalität, aber die Intelligenz für sich hat nicht den geringsten Wert und ist von keinerlei Interesse. (...) Doch viele intelligente Menschen haben eine Art Bug: Sie halten die Intelligenz für ein Ziel. Sie haben nur den einen Gedanken im Kopf: intelligent sein, was außerordentlich dumm ist. Und wenn die Intelligenz sich für den Zweck hält, funktioniert sie auf merkwürdige Art und Weise: Der Beweis, dass sie existiert, liegt nicht in der Sinnigkeit und Einfachheit dessen, was sie hervorbringt, sondern in der Unverständlichkeit ihres Ausdrucks. (...)“ (Seite 183)


    Bei ihren kritisch-distanzierten Beobachtungen menschlichen Verhaltens prallen gelegentlich philosophische Gedanken ungebremst auf brüllkomische Situationen. Wenn sie das Tun und Treiben einiger Frauen beim Schlussverkauf in einem Dessous-Geschäft kommentiert, zum Beispiel. Oder wenn sie den langjährigen Psychotherapeuten ihrer Mutter, den sie für einen unfähigen Dummschwätzer hält, eiskalt auflaufen lässt. Auch die Lehrer haben es bei Paloma nicht immer leicht ...


    Während man im Wechsel die Betrachtungen von Madame Michel und Paloma verfolgt, beginnt man zu bedauern, dass die beiden nichts voneinander wissen und nicht miteinander in Kontakt treten. Sie hätten sich viel zu sagen und wären ebenbürtige Gesprächspartnerinnen. So sind sie beide nur einsam.


    Erst als ein vermögender älterer Japaner, Monsieur Ozu, in das Stadtpalais in der Rue de Grenelle 7 einzieht, ändert sich etwas an dieser Situation. Monsieur Ozu hat eine Art, sich für seine Mitmenschen zu interessieren, die es ihnen leicht macht, sich ihm zu öffnen. „Das Verwirrende und gleichzeitig Wunderbare an Kakuro Ozu ist, dass er eine jugendliche Begeisterung und Unbefangenheit mit der Aufmerksamkeit und dem Wohlwollen eines großen Weisen in sich vereint.“ (Renée Michel, Seite 254)


    Sehr schnell kommt er hinter das Geheimnis der beiden Damen und freundet sich mit ihnen an. Paloma findet in Kakuro Ozu einen Gesprächspartner, der sie „behandelt wie eine richtige Person“. Renée Michel sieht ihn ihm eine verwandte Seele, einen Menschen, vor dem sie sich endlich nicht zu verstellen braucht. Und nun lassen auch Paloma und Renée voreinander die Masken sinken.


    Paloma erkennt: „Madame Michel ... Wie soll ich sagen? Sie strömt Intelligenz aus. Dabei gibt sie sich alle Mühe, also man sieht richtig, dass sie ihr möglichstes tut, um die Concierge zu spielen und um schwachsinnig zu erscheinen. Doch ich habe sie schon beobachtet (...). Madame Michel besitzt die Eleganz des Igels: Außen ist sie mit Stacheln gepanzert, eine echte Festung, aber ich ahne vage, dass sie innen auf genauso einfache Art raffiniert ist wie die Igel, diese kleinen Tiere, die nur scheinbar träge, entschieden ungesellig und schrecklich elegant sind.“ (Seite 157)


    Fortan findet Paloma öfter einmal Zuflucht vor ihrer Familie in der Hausmeisterloge von Madame Michel. Die Concierge genießt die Gesellschaft ihrer „Tochter im Geist“, genauso wie die Treffen mit Kakuro Ozu, auch wenn sie, was ihn angeht, Bedenken wegen des Standesunterschiedes hat. Bedenken, die der Japaner nicht teilt: „Wir können Freunde sein“, sagt er „und sogar alles, was wir wollen.“ (Seite 346)


    Wird es ein Happy End geben? Und gibt es Hoffnung für Paloma?
    Wie man’s nimmt ...


    Dieses Buch ist so außergewöhnlich wie seine Heldinnen. Es ist spannend und mitreißend, und das ohne „Action“, denn eigentlich philosophieren hier nur zwei intelligente Menschen über die kleinen Freuden des Alltags. Aber wie sie das tun, das ist berührend und anregend, faszinierend und unterhaltsam zugleich – und manchmal unglaublich komisch. Wer alles Philosophische bislang für abgehoben und langweilig gehalten hat: „Die Eleganz des Igels“ belehrt ihn aus Angenehmste eines Besseren.


    Die Autorin
    Muriel Barbery wurde 1969 geboren, studierte Philosophie in Frankreich und lebt seit einigen Monaten in Kyoto. Ihr Romandebüt, "Die letzte Delikatesse", erschien 2000 und wurde in 14 Sprachen übersetzt. "Die Eleganz des Igels", ihr zweiter Roman, wurde zu dem literarischen Bestseller des Jahres 2007 in Frankreich, in 31 Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet (u.a. mit dem "Prix Georges Brassens 2006", dem "Prix des libraires 2007" dem "Prix Rotary International").

    Und was die Autofahrer denken,
    das würd’ die Marder furchtbar kränken.
    Ingo Baumgartner

  • Danke für die Rezi, Vandam!
    Ich habe das Buch auf dem SUB liegen und hatte gehofft, dass Deine Meinung weniger positiv ausfällt, dann hätte es da noch ne Weile bleiben können ...
    Jetzt setze ich es allerdings auf meiner To-read-Liste ganz weit noch oben :wave

  • Ja, lohnt sich wirklich!


    Ich gehöre ja zu den Banausen, die alles Philosophische stets für abgehobenes, unnützes Gedöns gehalten haben. Aber so, wie die zwei da sich über die Menschen, die Kunst, das Leben und den Tod Gedanken machen, ist das wirklich mitreißend.

    Und was die Autofahrer denken,
    das würd’ die Marder furchtbar kränken.
    Ingo Baumgartner

  • Zitat

    Original von Vandam
    Ja, lohnt sich wirklich!


    Stimmt. Ich bin auch gerade mitten im Buch und bin total begeistert. Es ist ein ganz "ruhiges" Buch und trotzdem (oder gerade deshalb :gruebel) mag ich es kaum zur Seite legen. :wave

  • Zitat

    »Dieses Buch ist so außergewöhnlich wie seine Heldinnen. Es ist spannend und mitreißend, und das ohne „Action“, denn eigentlich philosophieren hier nur zwei intelligente Menschen über die kleinen Freuden des Alltags. Aber wie sie das tun, das ist berührend und anregend, faszinierend und unterhaltsam zugleich – und manchmal unglaublich komisch. Wer alles Philosophische bislang für abgehoben und langweilig gehalten hat. „Die Eleganz des Igels“ belehrt ihn aufs Angenehmste eines Besseren.« buechereule.de, 6.5.08


    Steht auf der Homepage von dtv, bei den Pressestimmen zu "Die Eleganz des Igels". :wave

    Und was die Autofahrer denken,
    das würd’ die Marder furchtbar kränken.
    Ingo Baumgartner

  • :danke für die tolle Rezi!


    Ich habe es mir in die Suchaufträge geschrieben!


    :wave

    Jeder trägt die Vergangenheit in sich eingeschlossen wie die Seiten eines Buches, das er auswendig kennt und von dem seine Freunde nur den Titel lesen können.
    Virginia Woolf

  • Ein bisschen erinnert es vom Aufbau her an die in einem Stakkato aufeinanderfolgenden literarischen Zitate in Marisha Pessls alltäglicher Physik des Unglücks, Nur das es hier die Philosophen sind, die sich auf den Fuß folgen.


    Ist mir fast zu viel geworden, aber ich werde dranbleiben.

  • Zitat

    Original von Eli
    ...oweh...ich stecke fest... und komme nicht weiter! Dabei kommt jetzt der Japaner ins Spiel. :cry


    Halt' durch, es lohnt sich ... :lesend


    Ich hab' das Buch heute morgen beendet und bin noch ganz ergriffen ... *seufz*


    Die ersten Seiten haben mich sofort in ihren Bann gezogen. Dann gibt es wieder etwas sperrige Elemente, auch mein Fremdwörterlexikon hat mir an manchen Stellen gute Dienste erwiesen, was allerdings auch den subtilen Humor sehr erhellt. Jetzt weiß ich u.a. auch, was eine "Inkunabel" ist


    :grin
    Es wechseln sich ganz unterschiedliche Elemente ab, humorvolle Betrachtungen des Alltags, philosophische Elemente, sprachliche "Haute Cuisine", berührende Erinnerungen, Träume, Hoffnungen.


    Im Laufe des Buchs habe ich oft darüber nachgedacht, wie man es beschreiben könnte - in seiner ganzen Vielfalt, Schönheit, Unzugänglichkeit und Sperrigkeit. Vielleicht wie ein gutes Parfum - das gewisse Etwas wie eine Ahnung präsent, dennoch nicht greifbar. Vielleicht wie Tee - ein wenig so, wie er auch von Madame Michel charakterisiert wird:


    "Wenn er (Anmerkung: Tee) zum Ritual wird, bildet er den Kern der Fähigkeit, in den kleinen Dingen Größe zu sehen. Wo ist die Schönheit angesiedelt ? In den großen Dingen, die, wie die anderen, verurteilt sind zu sterben, oder in den kleinen, die, ohne Anspruch auf etwas zu erheben, wie einen Edelstein ein Stück Unendlichkeit in den Augenblick einzufügen vermögen ? (...) Und in jedem Schluck verklärt sich die Zeit." (Quelle: Muriel Barbery, Übersetzung Gabriela Zehnder, Die Eleganz des Igels, Deutscher Taschenbuch Verlag, München, Mai 2008, Seite 96).


    Und ich habe gehofft, dass dieses wundervolle Buch nicht durch einen "unstimmigen" Schluss verdorben wird. Ich wurde nicht enttäuscht.



    Welch ein überraschendes und doch stimmiges Finale.


    Und nun weiß ich, wie ich das Buch beschreiben würde: Es ist große Oper - im besten Sinne.

    Viele Grüße, Annemarie


    "Don't walk behind me, I may not lead. Don't walk in front of me, I may not follow.
    Just walk beside me and be my friend."
    Albert Camus


    BT

    Dieser Beitrag wurde bereits 6 Mal editiert, zuletzt von Maire ()

  • Heute ist es bei mir eingetrudelt und ich konnte es natürlich nicht lasseun und habe auch gleich mal reingelesen. Ich empfinde es als sehr anspruchsvoll (so manchen Satz habe ich ein paar Mal gelesen), aber auf jeden Fall eine lohnende Leküre.
    Vielleicht wäre es ja für eine Leserunde gut geeignet? Diskussionsstoff gäbe es wohl genug.

  • Ich habe es jetzt auch gelesen und bei der Lektüre von Anna Karenina zwischengeschoben - nicht ahnend, dass Anna Karenina hier eine nicht unbedeutende Rolle spielt. Der Lesezeitpunkt war also perfekt gewählt! :-] Dennoch kann ich mich den Begeisterungsstürmen nicht restlos anschließen.


    Meine Rezension:


    "Die Eleganz des Igels" ist eine anspruchsvolle Geschichte voller Philosophie, Poesie und Weisheiten, die sowohl von der 54-jährigen Concierge Renée als auch von der 12-jährigen Paloma stammen. Beide sind hochintelligent und haben sich mit ihrer dekadenten Umgebung abgefunden, wenn auch aus unterschiedlichen Positionen heraus. Ihren Gedanken zu folgen fordert von dem Leser Aufmerksamkeit und Konzentration ab, insbesondere auf den ersten 100 Seiten muss man sich erst in den Stil hineinfinden. Wenn man sich jedoch darauf einlässt, erlebt man eine tiefgründige Geschichte zweier Außenseiter, die mit Charme, Witz und einem gewissen Grad Abgeklärtheit durch ihr Leben marschieren. Es gibt einige zauberhafte Momente in diesem Buch, auch wenn ich mich persönlich manchmal des Eindrucks nicht erwehren konnte, dass gerade bei den philosophischen Szenen weniger mehr gewesen wäre. Ein bisschen erinnern sie mich an französische Filme, mit denen ich zugegebenermaßen auch des öfteren meine Schwierigkeiten hatte. Dennoch kann ich "Die Eleganz des Igels" ohne Bedenken all denen empfehlen, die sich gerne mit den Fragen des Lebens auseinandersetzen, dabei aber nicht auf den Humor des Alltags verzichten wollen.


    7 Punkte von mir.