Schattenhände, Jorun Thørring

  • Klappentext: "Diesmal war sie ihm entkommen, aber er spürte, dass sie Angst hatte.
    Er zoomte sie heran. Hinter den Gardinen bewegte sich etwas. Glaubte sie denn, dass sie dort drinnen sicher war?
    Gerichtsmedizinerin Orla Os ist mit bizarren Mordfällen in Paris befasst. Der Mörder arbeitet mit außerordentlicher Präzision. Und schlimmer noch: er scheint über jeden Ermittlungsschritt bestens informiert..."


    Jorun Thorring, geboren 1955, ist Gynäkologin und hat eine Praxis in Trondheim. Schattenhände ist ihr erster Kriminalroman und Auftakt zu einer Serie mit der norwegischen Gerichtsmedizinerin Orla Os, die in Paris lebt.


    Meine Meinung:
    Eine norwegische Gerichtsmedizinerin die in Paris arbeitet und zwar im Ermittlungsteam und nicht in der Rechtsmedizin, eine einsame, überarbeitete Frau mit eigenwilligen Kollegen, unzufriedenem Chef, kompliziertem Familienleben, die in ihrer Arbeit aufgeht (weil sie sonst auch nicht viel hat).


    Als sie nahezu perfekte Morde lösen soll, trifft sie auf einem Empfang einen Charmeur und beginnt eine Affäre, gleichzeitig geschehen immer neue Morde an Menschen, die mit ihr als Zeuge oder auf sonstige Weise Kontakt hatten, Orla wird überfallen, bei einem Opfer finden sich Gegenstände aus ihrem persönlichem Besitz!
    Ein origineller und temporeicher Krimi, interessante Protagonisten und ein guter Plot, nicht an den Haaren herbeigezogen und auch nicht zu früh erkennbar.
    Mir hat das Buch gut gefallen und ich warte gespannt auf die Fortsetzung.


    Viele Grüße
    doctrix

  • Ich hab das Buch heut in einem Rutsch durchgelesen und werde, sobald ich Zeit hab, eine Rezension schreiben.


    Das hatte was von den Krimis von Barbara Cleverly ... manche Leute sind nicht das, was sie vorgeben zu sein ... die Vornehmen und Ehrbaren sind oft nicht soooo ehrbar, wie sie tun - und hinter den Kulissen gibt es erstaunliche Querverbindungen. Es hat auch was von einem Roman von Ira Levin, aber wenn ich den jetzt nenne, weiß gleich jeder, was geht.


    Grinsen musste ich, als sich rausstellt, dass einer der halbseidenen Verdächtigen/Zeugen in der Rue de Grenelle wohnt. Erster Gedanke: Ach, da kennt er ja vielleicht Renee und Paloma aus DIE ELEGANZ DES IGELS. :lache


    Die Heldin, Orla Os, hat mir Leid getan. Da hat sie als Studentin arglos und heimlich in eine stinkreiche Familie eingeheiratet. Sie kam aus Norwegen, lernte ihren Alain an der Uni kennen und wurde Hals über Kopf seine Frau. Sie wusste gar nicht, was er, bzw. dessen Vater, finanziell für eine große Nummer ist. Und muss sich dafür von der dünkelhaften Schwiegermischpoche seit bald 20 Jahren blöd anschauen und schwach anreden lassen.


    Dass seit 8 Jahren Witwe ist, macht die Verwandtschaftsbeziehung doch eigentlich gegentstandslos. Was gibt sie sich mit der hochnäsigen Bagage eigentlich noch ab? Die könnten sie doch eigentlich mal ...


    Die Autorin hat es sehr gut im Griff, die Leute zu charakterisieren. Ein paar treffende Worte, und man weiß, wen oder was man da grad vor sich hat.

    Und was die Autofahrer denken,
    das würd’ die Marder furchtbar kränken.
    Ingo Baumgartner

  • Jorun Thørring: Schattenhände. Mord in Paris – Orla Os ermittelt. Kriminalroman. OT: Skyggemannen. Aus dem Norwegischen von Sigrid Engeler. München 2008, dtv Deutscher Taschenbuchverlag. ISBN 978-3-423-24640-8, 384 Seiten, Format 13,5 x 21 x 3 cm, Euro 14,00 [D] 14,40 [A] sFr 24,40.


    Die norwegische Gerichtsmedizinerin Orla Os ist vor 17 Jahren als Studentin nach Paris gekommen. Hals über Kopf hat sie dort den französischen Juristen Alain Chenu geheiratet, ohne eine Vorstellung davon zu haben, wie bedeutend und vermögend seine Familie wirklich ist.


    Dem Paar ist leider kein langes Glück beschieden. Seit acht Jahren ist Orla nun schon Witwe. Zum Erstaunen aller Bekannten ist sie nach dem Tod Alains nicht nach Norwegen zurückgekehrt sondern in Paris geblieben. Obduktionen macht sie inzwischen keine mehr, sie arbeitet als Sonderermittlerin der Polizei. Auch das erweckt allseits Unverständnis: eine Medizinerin, die ihren Beruf aufgibt um Polizistin zu werden! Doch was die Leute sagen ist Orla Os von Herzen egal.


    In ihrer Eigenschaft als Sonderermittlerin ist Orla auch am Tatort, als in einer heißen Juninacht im Hof eines heruntergekommenen Pariser Mietshauses ein junger Mann erstochen aufgefunden wird.


    Der Tote ist ein ukrainischer Student der Kunstgeschichte, der in einem der Mansardenzimmer des Hauses gewohnt hat. Doch in mehr als einer Hinsicht ist der Fall seltsam: Niemand scheint etwas über den jungen Mann zu wissen. Keiner hat etwas von der Tat gehört oder gesehen, selbst die Hausbewohner nicht, die gewohnheitsmäßig bei jedem Geräusch ans Fenster eilen und neugierig nachschauen, was sich draußen tut. Weder der versoffene Concierge hat etwas mitbekommen noch die aufgetaktelte alte Dame, Madame Alice Dupont. Schwer zu glauben für die Polizei.


    Es kommt noch besser: Es ist nicht nachzuvollziehen, wem die Mansardenwohnungen und die Wohnung des Concierge überhaupt gehören. Auch das ist schwer vorstellbar. Der Papierkram ist lückenhaft, alle Befragten widersprechen einander. Hat denn die ganze Hausgemeinschaft etwas zu verbergen?


    Auch mit dem ermordeten Studenten und seinem Landsmann und Kommilitonen, der das zweite Mansardenzimmer bewohnt, stimmt etwas nicht. Keiner von ihnen hat die Berechtigung oder Befähigung, an einer französischen Universität zu studieren. Wo man die beiden jungen Ukrainer im Übrigen auch noch nie gesehen hat. Ihre Beschäftigung mit der Kunst scheint ganz anderer Natur gewesen zu sein: Die Indizien deuten auf den illegalen Handel mit geschmuggelten Ikonen hin.


    Die einzig brauchbare Spur in dem Fall wäre ein Fingerabdruck, den der Täter am Tatort hinterlassen hat – doch der ist in keiner Kartei verzeichnet.


    Das alles macht den Fall für Orla und ihre Kollegen, den vierschrötigen Marchal und den eifrigen Neuen, Roland, ziemlich frustrierend.


    Überhaupt scheint Orlas Leben recht frustrierend, einsam und trostlos zu sein. Vor lauter Arbeit kommt sie kaum zum Einkaufen, geschweige denn zum Kochen. Und natürlich bleibt erst recht keine Zeit für die Pflege von Freundschaften. Sie ernährt sich von Snacks und Fast Food und hat so gut wie keine privaten Kontakte, außer zu ihren Kollegen und, mehr aus Pflichtgefühl denn aus Neigung, zur Familie ihres verstorbenen Mannes.


    Zumindest in Orlas Privatleben gibt es nun einen Lichtblick: Auf einer Cocktailparty, zu der Orla notgedrungen ihren Schwiegervater begleiten muss, weil ihre Schwiegermutter verhindert ist, lernt sie den attraktiven und charismatischen Winzer Pascal Bernachon kennen. Auch er ist sehr angetan von ihr, und aus dem Flirt entwickelt sich rasch eine Beziehung.


    Orla schwebt im privat siebten Himmel. Beruflich ist es eher die Hölle: Der Mordfall am ukrainischen „Studenten“ gestaltet sich nach wie vor zäh. Und nicht nur das: Es gibt weitere Mordfälle nach demselben Muster. Und der Täter muss über Insider-Wissen der Polizei verfügen. Immer, wenn die Ermittler einen wichtigen Schritt weiter zu kommen scheinen, stirbt der potenzielle Zeuge, Informant oder Experte eines unnatürlichen Todes, noch ehe er seine Aussage machen kann.


    Ein weiterer „Student“ wird ermordet aufgefunden und eine Wissenschaftlerin, die für die Polizei ihre privaten Kontakte anzapfen wollte. Auch ein Kenner der Antiquitätenszene kommt nicht mehr dazu, sein Wissen preiszugeben.


    Gibt es einen „Maulwurf“ bei der Polizei? Oder woher hat der Mörder sonst seine Informationen? Was weiß man eigentlich über den neuen Kollegen, Roland? Und ist der nächtliche Überfall auf Orla Os ein Vergewaltigungsversuch an einem Zufallsopfer, oder hat auch das mit dem Fall zu tun?


    Wie hängt das alles zusammen? Sagt überhaupt irgendjemand im Umfeld dieses Falls die Wahrheit? Wer ist der Drahtzieher, der jetzt seine Handlanger aus dem Weg räumt und alle, die ihm durch ihr Wissen gefährlich werden können?


    Beharrliche Recherchen bringen die Wahrheit schließlich ans Licht. In einem schockierenden und packenden Finale wird offenbar, dass hier so manch eine Person nicht das ist, was sie zu sein vorgibt. Die Ehrbaren sind nicht ganz so ehrbar, die Vornehmen nicht ganz so vornehm. Einige schweigen, andere lügen und manch einer hat keine Ahnung, in welche üble Geschichte er hier verstrickt ist.


    Es ist ein Morast aus Lügen und Geheimnissen, dessen Ursprung weit in der Vergangenheit liegt und der im Lauf der Jahre immer mehr Verbrechen nach sich gezogen hat. Und auf mehr als nur eine Weise hat dieser schreckliche Fall Einfluss auf Orla Os’ Leben ...


    ***


    Man fragt sich, warum Orla Os ihre hochnäsige Schwieger-Mischpoche nicht einfach zum Teufel jagt. Seit mehr als einem Jahrzehnt rümpfen die Chenus die Nase über sie und behandeln sie wie eine dahergelaufene ausländische Goldgräberin, die eben leider irgendwie zur Familie gehört. Doch es ist unter anderem dieses Doppelleben, das die Figur so interessant macht. In der einen Welt ist Orla die unkonventionelle, hart arbeitende und einsame Polizistin, in der anderen, wenn auch nicht ganz freiwillig, ein Mitglied der Oberen Zehntausend. Gerade das könnte ihr Einblicke und Kontakte verschaffen, die der Durchschnittspolizist nicht hat.


    Was bei Anne Perrys Inspektor Pitt und bei Donna Leons Commissario Brunetti und deren jeweiligen High-Society-Schwiegerfamilien bestens funktioniert, könnte auch für Jorun Thørring und ihre neue Serienheldin Orla Os zum Erfolgsrezept werden. Die Geschichten um die norwegische Gerichtsmedizinerin sind jedoch deutlich düsterer, härter und bodenständiger als die von Perry und Leon. Und sie sind fernab jeglicher Betulichkeit. Es ist wirklich nur das Genre und die Schwiegerfamilien-Konstellation, das diese drei Reihen gemeinsam haben.


    Und sollte Orla Os eines Tages die Nase voll haben und ihren arroganten Verwandten den Rücken kehren, macht sie sicher auch ohne sie einen guten Job. Dafür wird ihre Autorin Jorun Thørring schon sorgen.


    Jorun Thørring, 1955 in Tromsø, Norwegen, geboren, ist Gynäkologin und hat eine Praxis in Trondheim. ›Schattenhände‹ ist ihr Krimidebüt.

    Und was die Autofahrer denken,
    das würd’ die Marder furchtbar kränken.
    Ingo Baumgartner