Neal Stephenson, The Diamond Age

  • In einer zeitlich nicht klar bestimmten Zukunft - etwa im 22. Jahrhundert - ist die Welt in "phyles" unterteilt, in kulturelle Einheiten, die überall auf der Welt Standorte haben. Die Technologie ist weit fortgeschritten, Hunger dank des "matter compilers" besiegt, doch die Welt ist nichtsdestoweniger gewalttätig geblieben und gefährlicher denn je.
    Die wichtigste phyle ist die posteuropäische-postangloamerikanische der "New Victorians", technologisch führend, moralisch das Ideal des ausgehenden 19. Jahrhunderts hochhaltend. Einer der höchsten Repräsentanten dieser Gruppierung ist Lord Alexander Chung-Sik Finkle-McGraw. Er ist mit der Gegenwart jedoch unzufrieden, vermisst die Subversion und fürchtet durch die rigide Angepasstheit seiner phyle deren langsamen Verfall. Dieser Entwicklung möchte er entgegenwirken. Er beauftragt den nanotechnologisch außerordentlich beschlagenen Ingenieur John Hackworth damit, eine Art interaktives Buch für junge Mädchen zu entwerfen, "The Young Lady's Illustrated Primer", ein Buch, das sich seiner Leserin ganz genau anpasst und diese die Tugend lehrt, die nach Meinung Lord Finkle-Mc Graws seiner Gesellschaft am meisten fehlt: Subversion.
    Natürlich soll dieses Projekt geheim bleiben und es soll deshalb auch nur einen "Primer" geben, nämlich für die Enkelin Finkle-McGraws. Doch Hackworth stellt heimlich einen zweiten für seine Tochter her, der ihm auf abenteuerliche Weise abhanden kommt, so dass er in die Hände von Nell gerät, einem Mädchen aus der Unterschicht, das keine Ausbildung genossen hat, sondern vor allem häuslicher Gewalt durch die wechselnden Liebhaber ihrer Mutter ausgesetzt ist.


    Neal Stephenson gehört zuu den cleversten zeitgenössichen SF-Autoren, der sich immer wieder mit dem Problem der virtuellen Realität auseinandersetzt. In "The Diamond Age" geht es zudem um den Themenkomplex der Erziehung. Die Gesellschaft, die Stephenson beschreibt, ist eine, die gelernt hat, dass Fähigkeiten und Verhaltensweisen nicht angeboren, sondern kulturabhängig sind. Es ist daher ein ziemlich spannender Schachzug, einen Technik-Thriller um eine Art Lehrbuch zu stricken und dessen Effekte auf die zu beschreiben, die mit ihm in Berührung kommen. Dabei steht der Lernprozess Nells im Mittelpunkt, einem Mädchen, das von ganz unten kommt, und schließlich mit und durch den Primer zu einer wichtigen Figur in einer Revolution wird, die die Welt erschüttert.


    "The Diamaond Age" ist also in vieler Hinsicht sehr lesenswert, allerdings nicht der gelungene Entwicklungsroman, der dieses Buch sein könnte. Denn leider geht Stephenson irgendwann die Luft aus und auf den letzten 20 Seiten des Buches verfällt er sogar in ein raffendes "telling". Man hat den Eindruck nur noch eine Handlungsskizze zu lesen, so sehr unterscheiden sich die letzten Passagen des Buches von der detaillierten und sorgfältigen Erzählweise des Restes des Buches. Das ist nicht nur höchst bedauerlich, sondern führt auch zu einem sehr eigenartigen und unbefriedigenden Ende, das nicht so recht zum gesamten Duktus des Buches passen will. War Stephenson hier gezwungen, sein Manuskript abzuliefern? Hatte er keine Lust mehr auf einen durchdachten Abschluss seines Buches? Schade ist es um den auf den ersten ca. 350-400 Seiten toll entwickelten Plot, der auf den letzten 100-150 Seiten vollkommen verwahrlost.


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