Steppenkind - Wolfgang Jaedtke

  • Hallo Ihr Lieben,


    ich habe nun das Buch "Steppenkind" von Wolfgang Jaedtke fertig gelesen und möchte hiermit meine Rezi abgeben.


    Vorerst der Klappentext dazu:


    Ein namenloser Junge soll von der Hohepriesterin des Dorfes den Göttern geopfert werden, doch er kann sich retten. Als Sklave und später als Schmied lebt er fortan bei den Skythen, den legendären Reiternomaden, die im Begriff sind, aus den Steppen Mittelasiens nach Europa vorzustoßen. Dank seiner außergewöhnlichen Begabung steigt er schließlich zum Anführer einer skythischen Armee auf und kehrt in sein Heimatdorf zurück, um Rache zu nehmen für das, was man ihm als Kind angetan hat. Dort aber stürzt ihn die Liebe zu Arinai in einen tragischen Konflikt ... Mit bravouröser erzählerischer Dramatik zieht Wolfgang Jaedtke den Leser in den Bann der sagenumwobenen Reiternomaden, die um 700 vor Christus die südrussische Steppe unsicher machten.


    Meine Meinung:


    Ich hatte am Anfang Mühe mich in der Geschichte einzufinden, da man gleich zu Beginn mit vielen Figuren und Namen konfrontiert wird, auch den Erzählstil fand ich am Anfang einbißchen mühselig. Der Autor erzählt nämlich dem Leser für meinen Geschmack zuviel im Voraus und die Hauptfigur erlebt es im Nachhinein, so dass zum Zeitpunkt des Erlebens die Spannung rausgenommen wird, da man schon weiß was passieren wird. Durch weniger erzählen und mehr Raum für Dialoge bieten hätte man die Spannung des Buches um einiges erhöht.


    Das alles dachte ich mir zumindest am Anfang des Buches, doch dann kam irgendwie für mich die Wendung. Die Geschichte wurde sehr packend und ich musste das Buch in einem Rutsch zu Ende lesen.


    Es handelt ja von den Skythen, die noch gar nicht mal so lange entdeckt worden sind und ich finde Wolfgang Jaedtke erzählt die Skythen sehr anschaulich und sehr detailiert, so daß man Einblicke in das Leben der Skythen bekommt, als ob man geradezu dabei wäre. Das fand ich sehr faszinierend.


    Auch die mir am Anfang fehlende Spannung kam dann im Verlauf der Geschichte um so mehr.


    Ich finde neben dem näher Kennenlernens einer Kultur kann man auch viel aus dem Buch ziehen, da es auch viele gesellschaftlilche Probleme anspricht. Ich konnte zumindest herauslesen, daß die Menschheit sich vielleicht technisch weiter entwickelt hat, aber dass wir uns im Kern kein bißchen geändert haben. Wir streiten uns auch heute noch um die selben Sachen, ob um Land oder um Glaube, lediglich die Methoden haben sich geändert. Das Buch regt zum Nachdenken an, auch wenn es vielleicht gar nicht dazu gedacht war :)


    Von mir bekommt das Buch 10 von 10 Punkten, weil es geschafft hat, mich in eine andere Welt zu versetzen, die doch irgendwie trotzdem vertraut ist.


    Viel Spass beim Lesen und viele Grüße
    Sibel


    PS: ich werde noch ausführlicher an anderer Stelle über das Buch berichten, zumindest was es in mir geweckt hat möchte ich gerne unter der Rubrik "Bücher, die mich beeindruckt haben" einstellen. Desweiteren werde ich das Buch als Wanderbuch anbieten.


    Edit: ich habe dem Text ein "r" geschenkt :)

  • Was mir noch eingefallen ist und ich noch schreiben möchte ist, daß manche Passagen im Buch einen aufschrecken können.
    Manche Schlachtszenen sind dermaßen detailiert beschrieben, daß einem das blanke Grauen packt.
    Ich bin eigentlich hart im Nehmen und sicher nicht zart besaitet aber da musste selbst ich das Knabberzeugs mal für eine Weile weglegen. :erschreck Eine Szene hat mich paar Tage verfolgt vor meinem inneren Auge kam es immer wieder.


    Dies nur zur Vorwarnung :chen

  • Zitat

    Original von Sibel
    Was mir noch eingefallen ist und ich noch schreiben möchte ist, daß manche Passagen im Buch einen aufschrecken können.
    Manche Schlachtszenen sind dermaßen detailiert beschrieben, daß einem das blanke Grauen packt.
    Ich bin eigentlich hart im Nehmen und sicher nicht zart besaitet aber da musste selbst ich das Knabberzeugs mal für eine Weile weglegen. :erschreck Eine Szene hat mich paar Tage verfolgt vor meinem inneren Auge kam es immer wieder.


    Dies nur zur Vorwarnung :chen


    Gut zu wissen...schüttel!
    Solche Bücher sind nix für mich, dafür bin ich eindeutig zu zart besaitet... :wow

  • Habe heute das kleine feine Büchlein beendet. An diesem Buch hat mir eigentlich alles gefallen. Die ansprechende Aufmachung inklusive Landkarte, die spannende Geschichte und die abschließenden Erklärungen des Schriftstellers zu den tatsächlichen Gegebenheiten. Da die Skythen keine schriftlichen Zeugnisse hinterlassen haben, hatte Wolfgang Jaedtke ja jede Menge Freiheiten, die er aber für meinen Geschmack nicht ausnutzte sondern mit einer eindruckvoll-nüchternenSprache und durch klare, schnörkellose Beschreibungen intensiv und informativ rüberbrachte.
    Ich fand es nicht zu viele Namen - auch wenn sie anfangs etwas gewöhnungsbedürftig weil sehr fremd waren. Mich fesselte von Anfang an, dass hier eine Epoche und ein Volk beschrieben wird, von dem ich sehr wenig weiß. Auch wenn ich letztes Jahr auf einer tollen Skythen-Ausstellung in München war - inkl. mumifiziertem, tätowiertem Skythen.
    Der Erzählstil kommt ohne große Schnörkel daher und die Gefühle der Protagonisten sind ganz unspektakulär und dennoch ergreifend geschildert.
    Da die Skythen - wie z.B. auch die Mongolen - ein kriegerisches Reitervolk waren, welches u.a. auch vom Raub und Totschlag lebte, sind viele Szenen sehr blutig und für heutige Begriffe etwas grausam. Aber nie wirkt der Text abstoßend, immer hat man das Gefühl, dass diese blutigen Teile einfach zur Geschichte und zum Begreifen derselben gehören und keine mutwilligen Szenen sind, die man hätte weglassen können.
    Rundum gelungen ist auch der Spannungsbogen - und das Ende hat mir sehr gut gefallen, da sehr wahrhaftig und vollkommen nachvollziehbar durch die Entwicklung der Hauptdarsteller
    Ich werde auf jeden Fall die zweiten Teil lesen - den gibt es nämlich schon.
    10 von 10 Punkten

    Hollundergrüße :wave



    :lesend


    Ninni Schulman - Den Tod belauscht man nicht

    Hanna Caspian - Im Takt der Freiheit


    (Die Freiheit des Menschen liegt nicht darin,

    daß er tun kann, was er will,

    sondern daß er nicht tun muß,

    was er nicht will - Jean Rousseau)

  • Diesem Buch gebe ich auch sehr gerne 10 volle Punkte - es war eines meiner Highlights 2008 - ich fand es anders und mutig und psychologisch ganz ausgezeichnet erklärt, wie die Männer Opfer weiblicher Macht wurden und die Konsequenzen, die sich daraus ergaben, mitzuerleben.
    Für mich ist dieses Buch eine Perle des Außergewöhnlichen ... eine Geschichte, der es gelungen ist, mich zu überraschen und zu überrumpeln (in Zeiten der Massenproduktion besitzt diese Tatsache für mich eine außerordentlich hohe Wertigkeit) ... und die Tochter der Steppe (dank Bonomanias Tipp) wartet schon bei meiner Buchhändlerin auf Abholung. :-)

    Meine neuen Histo-Romane Der Gesang des Satyrn sowie Hatschepsut. Die schwarze Löwin gibt es bei Amazon oder Beam-Ebooks - außerdem meinen Mystery Thriller Fonthill Abbey

  • Hallo liebe Eulen, jetzt hätte das Buch von 3 Lesern eigentlich ganze 30 Punkte bekommen, aber leider wird der Button selten angeklickt. Schade für dieses tolle Buch. Sieht doch einfach gut aus, wenn 30 von 3 dransteht. :-]

    Hollundergrüße :wave



    :lesend


    Ninni Schulman - Den Tod belauscht man nicht

    Hanna Caspian - Im Takt der Freiheit


    (Die Freiheit des Menschen liegt nicht darin,

    daß er tun kann, was er will,

    sondern daß er nicht tun muß,

    was er nicht will - Jean Rousseau)

  • Liebe Hollyhollunder :wave


    schön, dass es Dir auch so gut wie mir gefallen hat.
    Gerade der schnörkellose eindringliche Schreibstil hatte es mir angetan.


    Nochmal 1000 Dank an Birgit, ohne die ich dieses Buch NIE entdeckt hätte.
    Ich freue mich schon sehr auf die Fortsetzung "Tochter der Steppe", die seit 1 Woche auf dem Markt ist.
    Der Autor schreibt auf Seite 378 in seinem Nachwort: Die Vorgeschichte - den Siegeszug der Skythen und die Geschichte von Manjas Eltern - habe ich bereits in dem Roman "Steppenkind" erzählt.

    to handle yourself, use your head, to handle others, use your heart
    SUB 15
    _______________________________________________________
    :kuh:lesend

  • Zitat

    Original von bonomania
    Der Autor schreibt auf Seite 378 in seinem Nachwort: Die Vorgeschichte - den Siegeszug der Skythen und die Geschichte von Manjas Eltern - habe ich bereits in dem Roman "Steppenkind" erzählt.


    Da lese ich einmal in meinem Leben ein Nachwort wirklich zum Schluss - und was muss ich feststellen? Ich hätte "Steppenkind" anscheinend zuerst lesen sollen. So ein ... :bonk

  • Das Buch „Steppenkind“ hat mir gut gefallen, deshalb von mir die volle Punktzahl.
    Punkt.
    Fertig.


    Ach, wäre es schön, wenn ich es dabei belassen könnte, denn dann müsste ich mich gedanklich nicht noch einmal mit dem Roman auseinandersetzen. Müsste mich nicht erinnern an diese unglaubliche psychische Brutalität, mit der das namenlose Kind aufwachsen musste, müsste mich nicht erinnern an die physische Brutalität der Skythen, die alles Leben jener, die sie die Zurückgebliebenen nennen, auszulöschen trachteten. Wobei ich mich zusätzlich noch daran erinnern müsste, dass diese Brutalität vermutlich zu damaligen Zeiten als solche gar nicht wahrgenommen worden ist.


    Wolfgang Jaedtke hat mich in eine Welt, eine Kultur eintauchen lassen, die mir fremd ist, hat mich mit Religionen bekannt gemacht, die zu verstehen mir auf der einen Seite schwer fällt, aber – im Falle der Skythen – trägt sie einen Hauch des Wiedererkennens in sich, denn von einen Himmelsgott, einen Vater im Himmel, einen, der verlangt (oder verlangen es nur seine Priester?), die Frauen seien den Männern untertan, meine ich in nicht allzu weiter Ferne schon gehört zu haben. Artan, dessen Geschichte vom namenlosen Kind zum mächtigen Häuptling der Skythen der Roman erzählt, kommt mit einem geradezu beängstigenden Glauben an seine Bestimmung daher; seine Unbeirrtheit, seine Rachegedanken, letztlich allerdings auch sein Sinn für das, was er Gerechtigkeit nennt, für die Sitten und Gebräuche „seines“ Volkes haben ihn für mich nicht unbedingt sympathisch gemacht, doch hatte ich den Eindruck, er konnte gar keinen anderen Weg nehmen als den, den er gegangen ist. Man könnte diesen Roman beinahe eine psychologische Fallstudie nennen: Was wird aus einem Kind, das nicht geliebt wird, das so gut wie keine menschliche Nähe und Wärme erfährt, dem man nicht viel gönnt, nicht einmal einen Namen, dem man die Ängste nicht nimmt. Hat dieses Kind – in welcher Kultur, zu welcher Zeit auch immer – überhaupt eine Chance auf das, was wir so gemeinhin ein normales Leben nennen? Wird die Bildung, die es im Laufe der Zeit erringen mag, die Kulturlandschaft, die es umgibt, nicht nur wie eine Maske über der geschundenen Seele liegen? Auch wenn die Welt der Skythen eine ungleich gewalttätigere als die unsere war, wenn ein Leben, zumal ein Leben wie das des namenlosen Jungen, unendlich viel weniger wert war, bleiben die Wunden nicht die gleichen?


    Meine üblichen Schwierigkeiten hatte ich auch hier wieder mit den Darstellungen kriegerischer Gewalt, die Bilder, die das Buch heraufbeschwor, haben meine Träume schwer werden lassen. Mit dem Ehrbegriff der Skythen, mit ihrem Feind-Bild vermag ich nicht viel anzufangen, mit ihrem Frauenbild noch viel weniger als nichts. Aber die Art und Weise, wie und auf welche Weise der Autor das Leben der Menschen zur damaligen Zeit geschildert hat, ihre Behausungen, ihre Feldarbeit, die Schmiedekunst und all das andere tägliche Geschäft, die Glaubensunterschiede, wie dieser Glauben praktiziert wurde, vor allem aber die Zeichnung der Protagonisten, all das hat vor meinen Augen ein unglaublich lebendiges und buntes Bild entstehen lassen, ist in meinem Kopf Wirklichkeit geworden und lässt mich ihm jedem Wort Glauben schenken.


    Wolfgang Jaedtke hat ein seltenes Kunststück fertig gebracht, und da steht er für mich in einer Linie mit Iris Kammerer, mit Charlotte Lyne und mit Dorothy Dunnett: Er erzählt mir etwas, was ich eigentlich gar nicht so genau wissen will, aber er erzählt es in einer Art und Weise, die mich vollkommen fesselt. Natürlich kann man die Sprache aller vier Genannten nicht miteinander vergleichen und doch sind sie in der Lage, mit Wörtern, mit Sätzen, mit ihrer erzählten Geschichte, mit ihren Figuren und Themen, mit den Bildern, den Szenen, die sie gestalten, förmlich Widerhaken in meinem Kopf und in meinem Herzen zu verankern, mich nicht wieder loszulassen, mich durchzuschütteln, meinen Widerspruchsgeist herauszufordern, mich manchmal gar verzweifeln zu lassen, mich zutiefst zu berühren, mich zu beglücken, mir Freude zu bereiten und vor allen Dingen mich zu bereichern. Das ist nicht wenig, und auch wenn ich nur eine von – hoffentlich – vielen, vielen LeserInnen bin, so ist es für mich doch Glück, diese Bücher, diese Schriftsteller gefunden zu haben. Für mich ist es immer wieder ein Wunder, für ein paar Scheine (manchmal durchaus sauer verdienten Geldes) eine andere Welt als Gegenwert zu bekommen. Eine Welt, die in diesem Moment nur mir gehört, denen meine Augen und mein Sinn Leben einhaucht – ob es in dem Sinne geschieht, wie es der Autor oder die Autorin vorgesehen hat, vermag niemand vorauszusagen, ebenso wenig, ob mir diese Welt gefallen wird. Die Welt des „Steppenkindes“ hat mir, auch wenn ich sie stellenweise als verstörend empfunden habe, ausnehmend gut gefallen, so dass ich nicht umhin kann, zehn Punkte zu vergeben.


    Edit: Gnadenlos ein "n" erlegt.

  • Zitat

    Original von Lipperin
    Er erzählt mir etwas, was ich eigentlich gar nicht so genau wissen will, aber er erzählt es in einer Art und Weise, die mich vollkommen fesselt.


    Liebe Lipperin,


    ungern nehme ich der Diskussion die Unbefangenheit, indem ich mich selbst einmische, aber da ich gerade fast mit den Tränen kämpfe, möchte ich die Gelegenheit wahrnehmen, dir zu danken. Etwas Schöneres hat mir noch niemand zu dem Buch gesagt.


    Eben darum ging es: Dinge zu erzählen, die eigentlich niemand wissen will, und die uns sogar die Geschichtsbücher in der Regel verschweigen. Gern erzählt man uns die Geschichte vom goldenen Kalb, selten jedoch, dass Moses daraufhin seinem Volk befahl, zur Strafe dreitausend Menschen zu erschlagen, "ein jeder seinen Bruder, Freund und Nächsten". Wir erfahren, dass Kolumbus Amerika entdeckt und Pizarro das Reich der Inka erobert habe; von den Millionen ermordeten Indios jedoch ist nur nebenbei die Rede. Die Millionenzahl ist zu groß für unsere Vorstellungskraft; das Leid verflüchtigt sich in ihr, unnachfühlbar quantifiziert. Wir erfahren, dass Kaiser Barbarossa Verona eroberte - doch wir erfahren nicht, dass er zweihundert gefangenen Veronesen die Nasen samt den Lippen abschneiden ließ. Wir erfahren von der Güte der Kaiserin Maria Theresia, doch weit seltener von der Constitutio Criminalis Theresiana, die bürokratisch genau die Anwendung der verschiedenen Foltergrade beim peinlichen Verhör regelte.


    Meines Erachtens ist es ein schlichtes Erfordernis der Wahrheitstreue, die Grausamkeiten zu schildern, die uns die Geschichtsschreibung gewöhnlich verschweigt - notfalls im Detail, damit sie endlich nachfühlbar werden und nicht in Fußnoten oder Zahlenangaben untergehen, die niemanden berühren. Ich möchte vergangene Epochen nicht romantisieren, sondern ganz klar stellen: S o w e n i g war der Mensch wert, und das Erbe all der Grausamkeiten lebt noch in unseren zivilisierten Gehirnen fort, als strukturgewordene Gewalt, als Narbengewebe, als Angst- und Aggressionsbereitschaft.


    In "Steppenkind" geht es darum, wie Grausamkeit als gesellschaftliches Phänomen entsteht, nämlich - davon bin ich überzeugt - aus der Grausamkeit des Einzelnen gegen sich selbst. Die militanten Patriarchen waren nicht einfach Männer, die sich selbst alles und ihren Opfern nichts gönnten; vielmehr ging der Gewaltbereitschaft eine ans Suizidale grenzende Selbstverstümmelung voraus. Ihre demonstrative Machtpose ist Spiegel ihrer inneren Zerrissenheit. Zuallererst führten sie Krieg gegen sich selbst, verfemten und verdammten, was sie in ihrem eigenen Innern als naturverfallen, als unbeherrschbar, als verweichlichend wahrnehmen; dann erst trugen sie den Konflikt nach außen und vernichteten oder versklavten, was immer drohte, die verleugnete Natur wieder in ihnen wachzurufen: Die Tiere, fremde Völker (die mit Tieren gleichgesetzt wurden), und, besonders gern, Frauen.


    Ich glaube, dass bestimmte Lebensräume eine solche Entwicklung begünstigen. Die Religionen der Himmelsväter, die der Erde (und damit symbolisch der Natur) feindlich gegenüberstehen, sind ursprünglich Erzeugnisse von Völkern, die als Nomaden in Wüsten- oder Steppenräumen gelebt haben – die Religion des Abendlandes eingeschlossen. Vielleicht war es ihnen nicht möglich, die Erde psychologisch als nährende Allmutter wahrzunehmen, weil die Landschaft, die sie umgab, karg und unfruchtbar war. Das lenkte ihren Blick zum Himmel, wo die allmächtige Sonne - Symbol des Geistes und der Schöpferkraft - gnadenlos brannte. In ihrer Vorstellungswelt regiert ein zorniger Himmelsgott, der strenge Gesetze erlässt, dem ungeregeltes Erleben (selbst Liebe) ein Gräuel ist, und der sein Volk zu Krieg und Mission aussendet. "Ich will meinen Schrecken vor dir her senden", heißt es im Alten Testament, "und alle Völker verzagt machen, wohin du kommst, und will geben, dass alle deine Feinde vor dir fliehen" (2.Mose 23,28). Vor fremden Völkern warnt er: "Du sollst keinen Bund mit ihnen schließen und keine Gnade gegen sie üben" (5.Mose 7,2), und verspricht sie "auszurotten" (22). Seine Krieger vollstrecken "den Bann mit der Schärfe des Schwerts, an Mann und Weib, jung und alt, Rindern, Schafen und Eseln"(Josua 6,21). "Gelobt sei der Herr,", singt der Psalmist, "der meine Hände kämpfen lehrt und meine Fäuste, Krieg zu führen" (Psalm 144,1); er wird "seine Füße baden in des Gottlosen Blut" (Psalm 58,11). So schwer das heute für uns nachvollziehbar ist; es drückt sich darin das Sendungsbewusstsein nomadischer Wüsten- und Steppenvölker aus, die die Sesshaften als Feinde, als niedere Wesen oder gar als Beute ansahen.


    Zu meiner Rechtfertigung kann ich nur sagen: Ich verschweige die Grausamkeiten nicht, denn sie sind Bestandteile unseres eigenen kulturellen Hintergrundes, geronnen in Glaubensvorstellungen, Sendungsbewusstsein, Selbstverständnis. Vor allem aber wollte ich zeigen, wie diese Grausamkeit entsteht, wofür mir Artan als Symbolfigur diente. In ihm wollte ich zeigen, wie der Mangel an Urvertrauen, am Aufgehoben-Sein in der Umwelt – im Grunde ein allgemeinmenschliches Phänomen – zur Dämonisierung der Natur und folglich zum Hass auf alles führen kann, was innen wie außen an Natur gemahnt: Gefühl und Trieb, kreatürliches Leben, der eigene (und fremde) Körper. Artan scheitert daran, weil er am Ende keine natürliche Regung mehr in sich zulassen kann; er ist ein Anti-Held, ein unheilbar verstümmelter Mensch wie so viele Mächtige und „Große“ der Geschichte. Selbst Liebe erscheint ihm als Bedrohung, denn er erfährt sie als angstbesetzte Schwäche, als Kontrollverlust, als „Zauber“, der ihm von der Frau auferlegt wird (die typische patriarchale Verschiebung des eigenen Gefühls in den Auslöser: „die Frauen“ sind schuld, nicht der eigene Trieb). Der Schritt bis zur Hexenverbrennung liegt nicht fern; in der „Hexe“ wird die eigene, verdrängte Verfallenheit ans Natürliche exorziert.


    Viele Worte… ich mache mal lieber Schluss. Aber ich wollte dir sagen, dass ich mich selten so gut verstanden gefühlt habe wie von dir. Und nochmal: Verzeih mir die Grausamkeiten; aber ich meine, dass ihre Schilderung notwendig ist, denn sie sind sichtbarer Ausdruck einer psychologischen Fehlentwicklung, die sich bis in die Institutionen unserer Kultur hinaufverfolgen lassen, versteinert zu Gesetzen und Traditionen, von denen wir uns noch längst nicht vollständig befreit haben. Die Barbarei lebt fort, und man sollte sie nicht romantisieren, nicht verklären. Wann wurde die Folter abgeschafft, wann die Todesstrafe? Wann wurde der Krieg als politisches Mittel geächtet? Seit wann haben Frauen ein Wahlrecht, und seit wann kommt man für „Ehebruch“ nicht mehr ins Gefängnis? – Es ist nicht s o lange her, und dreitausend Jahre Geschichte wiegen schwer, verglichen mit den wenigen Jahrzehnten, die zu erleben wir das Glück haben.


    Alles Liebe und beste Grüße,


    Wolfgang

  • Zitat

    Original von ManjasVater


    Liebe Lipperin,


    ungern nehme ich der Diskussion die Unbefangenheit, indem ich mich selbst einmische, aber da ich gerade fast mit den Tränen kämpfe, möchte ich die Gelegenheit wahrnehmen, dir zu danken. Etwas Schöneres hat mir noch niemand zu dem Buch gesagt.


    *rot werd*


    Zitat

    Eben darum ging es: Dinge zu erzählen, die eigentlich niemand wissen will, und die uns sogar die Geschichtsbücher in der Regel verschweigen. Gern erzählt man uns die Geschichte vom goldenen Kalb, selten jedoch, dass Moses daraufhin seinem Volk befahl, zur Strafe dreitausend Menschen zu erschlagen, "ein jeder seinen Bruder, Freund und Nächsten". Wir erfahren, dass Kolumbus Amerika entdeckt und Pizarro das Reich der Inka erobert habe; von den Millionen ermordeten Indios jedoch ist nur nebenbei die Rede. Die Millionenzahl ist zu groß für unsere Vorstellungskraft; das Leid verflüchtigt sich in ihr, unnachfühlbar quantifiziert. Wir erfahren, dass Kaiser Barbarossa Verona eroberte - doch wir erfahren nicht, dass er zweihundert gefangenen Veronesen die Nasen samt den Lippen abschneiden ließ. Wir erfahren von der Güte der Kaiserin Maria Theresia, doch weit seltener von der Constitutio Criminalis Theresiana, die bürokratisch genau die Anwendung der verschiedenen Foltergrade beim peinlichen Verhör regelte.


    Und genau das ist es, was ich lesen möchte: Die Geschichte hinter der Geschichte, das, was B. Brecht in seinem Gedicht "Fragen eines lesenden Arbeiter" ausgedrückt hat.


    Zitat

    Meines Erachtens ist es ein schlichtes Erfordernis der Wahrheitstreue, die Grausamkeiten zu schildern, die uns die Geschichtsschreibung gewöhnlich verschweigt - notfalls im Detail, damit sie endlich nachfühlbar werden und nicht in Fußnoten oder Zahlenangaben untergehen, die niemanden berühren. Ich möchte vergangene Epochen nicht romantisieren, sondern ganz klar stellen: S o w e n i g war der Mensch wert, und das Erbe all der Grausamkeiten lebt noch in unseren zivilisierten Gehirnen fort, als strukturgewordene Gewalt, als Narbengewebe, als Angst- und Aggressionsbereitschaft.


    Mein großes Problem (so es denn wirklich eines ist): Ich lese nicht nur, ich lebe den Roman - wenn er mich anspricht. Und ich weiß leider zu genau, wie Gewalt aussieht. Das allerdings einem Schriftsteller "anzulasten", steht mir nicht zu, denn ich bin nur ein Einzelfall; ein Buch ist für viele da.


    Zitat

    In "Steppenkind" geht es darum, wie Grausamkeit als gesellschaftliches Phänomen entsteht, nämlich - davon bin ich überzeugt - aus der Grausamkeit des Einzelnen gegen sich selbst. Die militanten Patriarchen waren nicht einfach Männer, die sich selbst alles und ihren Opfern nichts gönnten; vielmehr ging der Gewaltbereitschaft eine ans Suizidale grenzende Selbstverstümmelung voraus. Ihre demonstrative Machtpose ist Spiegel ihrer inneren Zerrissenheit. Zuallererst führten sie Krieg gegen sich selbst, verfemten und verdammten, was sie in ihrem eigenen Innern als naturverfallen, als unbeherrschbar, als verweichlichend wahrnehmen; dann erst trugen sie den Konflikt nach außen und vernichteten oder versklavten, was immer drohte, die verleugnete Natur wieder in ihnen wachzurufen: Die Tiere, fremde Völker (die mit Tieren gleichgesetzt wurden), und, besonders gern, Frauen.


    Eine Art innere Heimatlosigkeit, so habe ich es mir (auch) versucht zu erklären. Wenn ich mich nirgendwo wohl fühle, auch nicht in mir selber, dann nehme ich doch auch keine Rücksicht, nicht auf mich, nicht auf andere.


    Zitat

    Ich glaube, dass bestimmte Lebensräume eine solche Entwicklung begünstigen. Die Religionen der Himmelsväter, die der Erde (und damit symbolisch der Natur) feindlich gegenüberstehen, sind ursprünglich Erzeugnisse von Völkern, die als Nomaden in Wüsten- oder Steppenräumen gelebt haben – die Religion des Abendlandes eingeschlossen. Vielleicht war es ihnen nicht möglich, die Erde psychologisch als nährende Allmutter wahrzunehmen, weil die Landschaft, die sie umgab, karg und unfruchtbar war. Das lenkte ihren Blick zum Himmel, wo die allmächtige Sonne - Symbol des Geistes und der Schöpferkraft - gnadenlos brannte. In ihrer Vorstellungswelt regiert ein zorniger Himmelsgott, der strenge Gesetze erlässt, dem ungeregeltes Erleben (selbst Liebe) ein Gräuel ist, und der sein Volk zu Krieg und Mission aussendet. "Ich will meinen Schrecken vor dir her senden", heißt es im Alten Testament, "und alle Völker verzagt machen, wohin du kommst, und will geben, dass alle deine Feinde vor dir fliehen" (2.Mose 23,28). Vor fremden Völkern warnt er: "Du sollst keinen Bund mit ihnen schließen und keine Gnade gegen sie üben" (5.Mose 7,2), und verspricht sie "auszurotten" (22). Seine Krieger vollstrecken "den Bann mit der Schärfe des Schwerts, an Mann und Weib, jung und alt, Rindern, Schafen und Eseln"(Josua 6,21). "Gelobt sei der Herr,", singt der Psalmist, "der meine Hände kämpfen lehrt und meine Fäuste, Krieg zu führen" (Psalm 144,1); er wird "seine Füße baden in des Gottlosen Blut" (Psalm 58,11). So schwer das heute für uns nachvollziehbar ist; es drückt sich darin das Sendungsbewusstsein nomadischer Wüsten- und Steppenvölker aus, die die Sesshaften als Feinde, als niedere Wesen oder gar als Beute ansahen.


    :write und genau so aus dem Buch gelesen. :anbet


    Zitat


    Viele Worte… ich mache mal lieber Schluss. Aber ich wollte dir sagen, dass ich mich selten so gut verstanden gefühlt habe wie von dir. Und nochmal: Verzeih mir die Grausamkeiten; aber ich meine, dass ihre Schilderung notwendig ist, denn sie sind sichtbarer Ausdruck einer psychologischen Fehlentwicklung, die sich bis in die Institutionen unserer Kultur hinaufverfolgen lassen, versteinert zu Gesetzen und Traditionen, von denen wir uns noch längst nicht vollständig befreit haben. Die Barbarei lebt fort, und man sollte sie nicht romantisieren, nicht verklären.


    *nochmal rot werd*
    Meine Vorstellungskraft ist viel zu groß, außerdem sh. etwas weiter oben.


    Zitat

    Wann wurde die Folter abgeschafft, wann die Todesstrafe?


    Muss es nicht "wird" heißen?


    Meinen herzlichen Dank für die erklärenden Worte :anbet :anbet :anbet


    Edit: Vielleicht bin ich unverschämt, aber: Wann bitte kommt ein neues Buch?

  • Da es nun amtlich zu sein scheint, nehme ich mir mal die Freiheit, allen, die genau so begehrlich auf ein neues Buch von ManjasVater gewartet haben wie ich, die mehr als betrübliche Mitteilung meines Buchhändlers weiterzugeben: Das für Februar annoncierte Buch "Tränen und Schwerter" wird der Verlag (Piper) nicht herausgeben, es ist storniert. Ich finde das mehr als nur schade und habe ehrlich gesagt darob auch ein Tränchen verdrückt.
    Hoffentlich findet sich doch noch ein Verlag, die Vorschau klang so überaus interessant.



    Wer noch ein bisschen über die Reitervölker erfahren möchte: Die Ausgabe 2/10 der Zeitschrift G/Geschichte hat das Schwerpunktthema "Krieger aus der Steppe".


    Edit sagt, ich sollte diesen Link einfügen.

  • Zitat

    Original von Lipperin
    Da es nun amtlich zu sein scheint, nehme ich mir mal die Freiheit, allen, die genau so begehrlich auf ein neues Buch von ManjasVater gewartet haben wie ich, die mehr als betrübliche Mitteilung meines Buchhändlers weiterzugeben: Das für Februar annoncierte Buch "Tränen und Schwerter" wird der Verlag (Piper) nicht herausgeben, es ist storniert. Ich finde das mehr als nur schade und habe ehrlich gesagt darob auch ein Tränchen verdrückt.
    Hoffentlich findet sich doch noch ein Verlag, die Vorschau klang so überaus interessant.


    :cry ich habe mich doch auch schon SOOOO darauf gefreut!
    wieso kann der Piper Verlag so kurz vor Erscheinungstermin einfach das Buch stornieren?
    Ich will es aber trotzdem lesen (haben):beleidigt wo kann man sich beschweren?:fetch
    traurige Grüße
    bonomania

    to handle yourself, use your head, to handle others, use your heart
    SUB 15
    _______________________________________________________
    :kuh:lesend

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  • Bin auch total frustriert. :bonk :cry :-(
    Hatte das Buch schon bei meinem Lieblingshändler bestellt und nun das. Klingt sehr seltsam´. Da wachsen ja die wildesten Vermutungen in meinem Hirn. Ich hoffe sehr, dass MANJASVATER uns recht bald Hoffnung machen kann, dass das Buch doch noch rauskommt.

    Hollundergrüße :wave



    :lesend


    Ninni Schulman - Den Tod belauscht man nicht

    Hanna Caspian - Im Takt der Freiheit


    (Die Freiheit des Menschen liegt nicht darin,

    daß er tun kann, was er will,

    sondern daß er nicht tun muß,

    was er nicht will - Jean Rousseau)

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  • Zitat

    Original von bonomania
    wo kann man sich beschweren?:fetch


    Ich habe mich mal an den Verlag gewandt. Man hat mir lediglich mitgeteilt, dass das Buch nicht erscheinen wird und dass man um Verständnis bittet, dass dazu keine weiteren Angaben gemacht werden (können?).


    Wie ich das finde, sage ich jetzt mal lieber nicht.